| # taz.de -- Galerie Capitain Petzel in Berlin: Holzspargel auf grauem Rauchtisch | |
| > „The Displacement Effect“ heißt die neue Ausstellung von Kirsty Bell. | |
| > Dort treffen der Charme der Subkultur und die Scham der Bourgeoisie | |
| > aufeinander. | |
| Bild: Alles hier ist Ware: Bestens arrangierte Kunst bei Capitain Petzel | |
| Kaum ein englisches Wort hat so viele Bedeutungen im Deutschen wie | |
| „displacement“. Es kann Verschiebung, Verlagerung heißen. Es lässt an den | |
| im Zweiten Weltkrieg geprägten Begriff der „Displaced Person“ denken, an | |
| geflüchtete Menschen, aber auch an Tiere, die aus ihren ursprünglichen | |
| Lebensräumen verdrängt werden. „Displacement“ bedeutet, dass etwas keinen | |
| Ort hat. Ein Schuh, der in einer Pfütze im Flüchtlingslager in Moria | |
| schwimmt, Kängurus, die vor Wildfeuern fliehen. Arbeiter*innen in der | |
| Gig-Economy, die wie Nomadenstämme durch den amerikanischen Westen ziehen. | |
| „The Displacement Effect“, die von der renommierten Kunstkritikerin und | |
| Autorin Kirsty Bell kuratierte Ausstellung in der Berliner [1][Galerie | |
| Capitain Petzel], geht den umgekehrten Weg. Sie zeigt keine Ortlosigkeit, | |
| sondern ein sensibles, intelligent gemachtes Habitat. Bell führt vor, wie | |
| man sich in Katastrophenzeiten mit Kunst einrichten kann. | |
| Ihr Partner ist dabei Hans-Peter Jochum, Sammler und Galerist für Möbel und | |
| Design des 20. Jahrhunderts. Die Verbindung zwischen bildender und | |
| angewandter Kunst hat in dem riesigen, modernistischen Glaskubus der | |
| Galerie an der Karl-Marx-Allee Tradition. 1964 eröffnete hier eine andere | |
| Galerie: „Kunst im Heim“ mit bildender und angewandter Kunst aus den | |
| Ländern des Ostblocks und der DDR. | |
| Bells Schau verschiebt etwas. Sie reicht zwar in die Nachkriegsmoderne | |
| zurück, doch nicht in eine sozialistische Vergangenheit. Es ist vielmehr | |
| die Kultur einer westlichen, bildungsbürgerlichen Elite der 1970er und | |
| 1980er Jahre, die hier aufersteht. Nachbilder von bourgeoisen Bungalows | |
| schwingen mit, Stahl, Samt, Rauchglas. | |
| ## Designerinnen, Architektinnen, Künstlerinnen | |
| Diese westliche, untergegangene Welt ist allerdings bei Bell durchweg | |
| weiblich. Sie präsentiert kaum bekannte Designerinnen und Architektinnen | |
| der Nachkriegsmoderne, die eben nicht Charlotte Perriand heißen und | |
| allesamt sensationell sind – und setzt sie in Kontext mit Werken von | |
| aktuellen Künstlerinnen. | |
| So fungieren die riesigen, blau und grün leuchtenden, mit abstrakter | |
| Fotografie bedruckten Vorhänge der georgischen Künstlerin Ketuta | |
| Alexi-Meskhishvili wie Raumteiler. Davor platziert Bell die knallharten | |
| Seventies-Spiegelglas- und Aluminiummöbel von Nanda Vigo, die mit | |
| Architekten wie Giò Ponti und Künstlern wie Lucio Fontana | |
| zusammenarbeitete. Diese korrespondieren wieder mit Vera Palmes grauem, | |
| neo-informell anmutendem Gemälde von 2020. | |
| Palme ist eine Schülerin der Malerin Monika Baer, ebenfalls eine tolle | |
| Entdeckung. Jede Verbindung hier ist ausgefeilt, ein genau gesetztes | |
| Vergnügen. Da gibt es aber auch diesen Impuls: Scheiß auf die | |
| poetisch-politischen Referenzen. Los, wir fahren jetzt mit dem Möbelwagen | |
| vor und nehmen alles mit: die Webarbeiten, die Fotografien, die | |
| poppig-modernistische Liege „Locus Solus“ der italienischen Architektin Gae | |
| Aulenti. Alles ist hier Ware, Fetisch. | |
| ## Echo einer feministischen Avantgarde | |
| Ketuta Alexi-Meskhishvili hat mit einer Fotoarbeit so etwas wie das Key | |
| Visual für die Schau geschaffen. Eine brustartige Form, vielleicht etwas | |
| aus Plastik oder eine Frucht, schwimmt in einer milchigen Flüssigkeit – | |
| weiblich, surreal, kühl. In Bells Inszenierung hallen die Vorstellungen | |
| einer progressiven Moderne, die feministische Avantgarde nach. Aber auch | |
| die Wohnexperimente von Bildungsbürger*innen, der diskrete Charme der | |
| Bourgeoisie, die sich Subkultur, Revolten, linkes Denken geschmackvoll | |
| einverleibt, in eine Art diskursives Dekor verwandelt. | |
| Dazu setzen die Abbruch- und Renovierungs-Assemblagen von Tolia | |
| Astakhishvili und James Richards einen Kontrapunkt: fragile Zeichnungen auf | |
| grauem Putz, Haufen von Gerümpel, Ventilatoren, Rigips, welkes Laub, | |
| dazwischen Bücher von Artaud, Perücken. Der Waliser, der 2016 sein Land auf | |
| der Biennale in Venedig vertrat, und die georgische Künstlerin legen die | |
| Architektur frei, entblößen die Institution, wie Archäolog*innen, oder | |
| Bühnenbildner*innen im Brecht-Theater. | |
| Doch den eigentlichen Knackpunkt bildet ein anderes Werk: Andrea Büttners | |
| handgeschnitzte Holz-Spargelstangen, die wie Volkskunst auf Nanda Vigos | |
| grauem Rauchglastisch von 1971 drapiert sind. Büttner interessiert sich für | |
| Vorstellungen von Armut, Scham, Sexualität und Verletzlichkeit. Über Scham | |
| und Kunst hat sie jüngst ein Buch geschrieben. | |
| Die Spargel sind Teil eines Projektes, in dem sie sich mit der Ausbeutung | |
| von Migrant*innen und Erntehelfer*innen aus Osteuropa bei der | |
| Spargelernte auseinandersetzt. Da liegen sie nun, die vertrockneten | |
| Stangen, Inbegriff des deutschen Mittelklasse-Lifestyles, hart, holzig, | |
| dekorativ. Und „displaced“. | |
| ## Ein I-Ging der Ausbeutung | |
| Man stellt sich eine Fabrikantengattin vor, die sie sich als Erinnerung an | |
| das Elend der Arbeiter*innen hingelegt hat. Sie streift darüber, ordnet | |
| sie an, ein Ritual des Erinnerns und Bannens, das die Scham aber auch | |
| gleich mit erledigt. Ein I-Ging der Ausbeutung. | |
| Pasolinis Film „Teorema“ (1968) kommt in den Sinn, in dem ein | |
| engelsgleicher Gast eine mailändische Fabrikantenfamilie in ihrer Villa | |
| verführt und von Verklemmungen und innerer Leere heilt. Als er geht, ist | |
| ihr Weltbild zerstört. Der Vater schenkt den Arbeiter*innen seine | |
| Fabrik und geht nackt und einsam in die Wüste. Ein „Theorem“ bezeichnet | |
| einen Lehrsatz oder eine vorherrschende Lehrmeinung. | |
| In diesem Fall die Normen eines bourgeoisen Klassensystems, das mit allen | |
| Mitteln nicht zu tolerierende Einflüsse oder Gedanken verdrängt. Zu diesen | |
| Mitteln gehört auch das Einrichten, Wohnen, die Demonstration von Bildung, | |
| Geschmack, Macht. | |
| Pasolini hat sehr radikal die Aufgabe dieser Macht und die Hinwendung zu | |
| den Armen und Unterdrückten gefordert. Büttners deplatzierter Spargel | |
| spricht von der Scham, die mit der ständigen Unterdrückung von Mitgefühl | |
| durch Repräsentation einhergeht. | |
| Was passieren kann, wenn man sich zu sehr an bestehenden Verhältnissen | |
| festklammert, zeigt ein Gemälde in der letzten Ecke der Ausstellung. Die | |
| gerade [2][sehr angesagte chinesische Künstlerin Xinyi Cheng] hat es | |
| gemalt. Ein Scotch Terrier paddelt vor der Toteninsel von Arnold Böcklin im | |
| Meer. Jemand hat das Schoßtier genommen und ins Wasser geworfen. Was mit | |
| seinen Herren passiert ist, kann man nur ahnen. | |
| 4 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oliver Koerner von Gustorf | |
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