# taz.de -- Folgen der US-Abschiebepolitik: Im Schatten der Grenze | |
> Während der Pandemie wurden Tausende Geflüchtete aus den USA nach Mexiko | |
> abgeschoben. Keiner kümmert sich – außer Pastor Rosalio Sosa. | |
Bild: Pastor Rosalio Sosa an der mexikanisch-texanischen Grenze | |
Wer von Mexiko aus an den Grenzübergang nach Puerto Palomas fährt, | |
durchquert stundenlang die Wüste. Eine flache Landschaft aus Dornenbüschen, | |
Kakteen und Steinen. Nur manchmal ist sie mit Holzpfählen und Stacheldraht | |
abgesteckt, dort, wo einsame Kuhherden gelbes Steppengras abweiden. | |
Entlegene Farmen werden auf Straßenschildern angekündigt. Vor Bergketten am | |
Horizont ziehen Windhosen über die unendliche Ebene und wirbeln den Sand | |
auf. Manchmal liegt ein überfahrener Coyote am Fahrbahnrand. | |
Während von mexikanischer Seite aus Reisende in die 4.500 Einwohner große | |
Gemeinde selten sind, werden von US-amerikanischer Seite seit über zwei | |
Jahren Abertausende von Menschen nach Puerto Palomas verfrachtet. Keine der | |
geflüchteten Familien aus Mexiko, der Karibik, Mittel- und Südamerika, die | |
hier stranden, haben je zuvor von Palomas gehört. Sie haben die Grenze rund | |
150 Kilometer von hier, im Ballungsgebiet zwischen den Zwillingsstädten | |
Ciudad Juárez, Mexiko, und El Paso, Texas, überquert. Die US-Border Patrol | |
setzt sie mithilfe des gesundheitspolitischen Dekrets „Title 42“ einfach in | |
der Wüste aus. Denn in der Pandemie wurde das Recht auf Asyl in den USA | |
ausgehebelt. | |
Am 20. März 2020 schloss sich die Grenze – nur noch US-Staatsbürger und | |
-bürgerinnen und Menschen mit einem Arbeitsvisum konnten sie passieren. Für | |
den Tourismus wurde sie im November 2021 wieder geöffnet. Nur für | |
Asylsuchende gibt es auch zweieinhalb Jahre später keine direkte | |
Möglichkeit. Wer aus Lateinamerika klandestin über die Grenze geht, wird | |
umgehend nach Mexiko zurückverfrachtet. In der Industriemetropole Ciudad | |
Juárez füllten sich in dieser Zeit die Herbergen. In Puerto Palomas lebten | |
die gestrandeten Menschen auf der Straße. Die Bevölkerung der Kleinstadt | |
fühlte sich überrannt, und die Stimmung wurde jeden Tag angespannter. | |
Eine Herberge zu eröffnen, ist kein leichtes Unterfangen in Orten, die vom | |
Drogenhandel beherrscht werden. Hier in Puerto Palomas brauchte es jemanden | |
mit einem eisernen Vertrauen – in sich selbst und in viel höhere Mächte. So | |
ein Mann, dachte sich der Migrationsbeauftragte des Bundesstaats Chihuahua | |
damals, könnte der Baptistenpastor Rosalio Sosa aus El Paso sein. „‚Hör | |
mal, da gibt es einen Ort, der braucht eine Herberge‘“, erinnert sich | |
Pastor Rosalio Sosa an jenes Anliegen, das sein Leben verändern sollte. | |
„Ich sagte, wie groß soll der Ort denn sein, wenn ich den gar nicht kenne?“ | |
Doch im zwei Autostunden entfernten Ciudad Juárez, wo ein Bündnis | |
staatlicher Institutionen, internationaler Organisationen, | |
Zivilgesellschaft und Unternehmen effizient zusammenarbeitet, um | |
Geflüchtete in der Pandemie in die Stadt zu integrieren, hält man große | |
Stücke auf ihn. Der Prediger wurde in Begleitung von UN-Organisationen in | |
einer Militärkarawane nach Puerto Palomas gefahren. Eine Woche später | |
eröffnete er eine Migrantenherberge in einer Lagerhalle mit Wellblechdach. | |
„Eine Kubanerin, ihre Tochter und ihr Enkel waren die ersten, die dort | |
unterkamen“, erinnert sich Sosa und strahlt. | |
Seit Februar 2020 haben über 15.000 Menschen in seiner Herberge Tierra de | |
Oro, Goldland, Zuflucht gefunden. So heißt auch seine Gemeinde in El Paso – | |
in Anlehnung an eine Jugend als Goldschürfer in der Sierra und den ersten | |
Petrusbrief: „Ich muss dich erst zu Staub werden lassen und dann neu | |
erschaffen“, heißt es dort. „Genauso macht es der Goldschürfer, wenn er | |
einen Stein zermahlt, um seinen Wert zu erkennen.“ | |
Bevor er begann, das Wort Gottes zu predigen, hat Rosalio Sosa als | |
Autohändler und Boxveranstalter gearbeitet. Und ein Boxkampf brachte ihm | |
die Erleuchtung – Evander Holyfield gegen Mike Tyson in Las Vegas. Da stand | |
für Rosalio Sosa fest, dass Gott immer siegt. Vor fünfzehn Jahren wurde | |
Sosa schließlich zum Pastor geweiht. | |
## In der Grenzregion sind die Familien in der Regel binational | |
An diesem Tag ist er unterwegs zum Grenzübergang, um Abgeschobene in | |
Empfang zu nehmen. Der spirituelle Beistand steht für ihn an erster Stelle. | |
„Sie kommen am Boden zerstört an. Bevor man ihnen Essen, eine Dusche und | |
ein Bett anbieten kann, muss man sie erst einmal wieder aufbauen.“ Manche | |
seien eine Woche durch die Wüste gelaufen. „Da fühlst du dich nur noch | |
dreckig. Und da ist es wichtig, dass sie sich verstanden und willkommen | |
fühlen. In der Herberge sind sie in Sicherheit. Niemand wird sie belästigen | |
oder erniedrigen. Wir versuchen sie zu empfangen, als gehörten sie zur | |
Familie. Stimmt doch, oder, Miguel?“ | |
Miguel, ein junger Mann mit Sommersprossen auf den Wangen, ist Sosas rechte | |
Hand in der Herberge und auf den Fahrten durch Palomas. Einer der | |
unzähligen Binnenflüchtlinge aus Zentralmexiko, für den die Herberge auf | |
der Flucht vor den Drogenkartellen ein vorübergehendes Zuhause geworden | |
ist. Er nickt geflissentlich und lenkt den Pick-Up auf die staubige | |
Hauptstraße, die direkt auf die niedrigen Grenzanlagen zuführt. Diese | |
verzeichnen nur einmal am Tag großen Andrang. Dann, wenn die Schulkinder | |
von Puerto Palomas mit Schulbussen in die US-amerikanische | |
Schwestergemeinde Columbus gefahren werden. In Ermangelung eines | |
Krankenhauses auf mexikanischer Seite der Grenze ist die große Mehrheit der | |
in Palomas Lebenden in Deming, New Mexico, zur Welt gekommen. Und mit der | |
Staatsbürgerschaft gibt es Anspruch auf Bildung im Nachbarland. | |
Während die Schulkinder mit Hausaufgaben und leeren Lunchboxen nach Puerto | |
Palomas zurückkehren und zielstrebig die Drehkreuze durchschreiten, stehen | |
Trauben von Menschen verloren auf dem Vorplatz der mexikanischen | |
Migrationsbehörde. Pastor Sosa nähert sich einer Gruppe. Eine Handvoll | |
junger Männer blickt niedergeschlagen zu Boden, zwei junge Frauen können | |
nicht aufhören zu weinen. | |
„Haben sie euch schon gesagt, dass es hier eine Herberge gibt?“, eröffnet | |
Sosa das Gespräch. Dann wird er konkreter: „Hört mal, ihr könnt mir | |
vertrauen, ich bin Pastor, warum weint ihr? Erzählt mir, was passiert ist. | |
Hat die migra euch etwas getan?“ Migra steht für die Einwanderungsbehörden. | |
Einer der Abgeschobenen schüttelt den Kopf und ergreift das Wort. Sie wären | |
doch schon drüben gewesen, hätten es geschafft. Alle seien sie Cousins und | |
Cousinen, aus dem Süden Mexikos, aus Chiapas. „Lasst den Kopf nicht hängen. | |
Das ist nicht das Ende der Welt“, sagt Pastor Sosa mit fester Stimme. „Na | |
komm, mein Kind …“ Er nimmt das am heftigsten schluchzende Mädchen in den | |
Arm. Dann versichert er noch mal, dass sie in der Herberge willkommen | |
seien. „ Aber haltet euch nicht auf der Straße auf, hier ist es recht | |
gefährlich.“ | |
Pastor Sosa geht zum Auto zurück. Weiter geht die Fahrt durch die | |
Kleinstadt Puerto Palomas und an der Mauer entlang, einer Wand aus | |
rostroten Stahlstreben, die die niedrigen Gebäude weithin sichtbar überragt | |
und düster an jene Filme erinnert, in denen ähnliche bizarre Konstruktionen | |
Zombiemassen aufhalten sollen. Absurd, so Sosa, denn in der Grenzregion | |
sind die Familien in der Regel binational; die Bevölkerung ist eng | |
miteinander verbunden. Doch seit ein paar Jahren trennt sie die Mauer. | |
## Viele Tunnel unter der Mauer und Grenzschmuggel | |
Unter Trump hätten sie sie schnell hochgezogen, in nur zwei Monaten. „Da | |
war vorher nur ein Zaun. Früher sind die Leute rübergestiegen, zum Family | |
Dollar einkaufen gegangen und wieder nach Hause“, sagt Sosa. Wer heute | |
versuche, in die Vereinigten Staaten zu kommen, kreuze die Grenze, wo die | |
Mauer weit außerhalb der Stadt in der Wüste endet. „Da steht dann die | |
US-Border Patrol und erwartet sie schon, ein Katz- und Mausspiel. Mit Biden | |
hat sich da wenig geändert.“ Aber er mache sich nichts aus diesen Dingen, | |
murmelt er. „Aus Politik und so“, er kümmere sich um seine eigene Arbeit. | |
Miguel fährt den Wagen die Staubpiste entlang, die an den endlos | |
scheinenden Eisenstelen nach Westen hinausführt. „Wie weit gehen die wohl | |
in die Erde hinein?“, sinniert er. Bald wird er ein Jahr lang in Puerto | |
Palomas auf ein Asylverfahren in den USA gewartet haben. In der | |
Zwischenzeit haben er und seine Freundin geheiratet. Sosa, der große Stücke | |
auf Miguel hält, hat sie getraut. „Du planst da was, oder?“, fragt er | |
schmunzelnd. Doch dann wird er wieder ernst. „Ja, es gibt viele Tunnel | |
unter der Mauer, wenn das deine Frage ist. Sie durchziehen die gesamte | |
Grenzlinie.“ | |
Grenzschmuggel hätte es immer gegeben. Nicht nur Drogen werden in Palomas | |
über die Grenze gebracht. „Dort vorne, wo man den Hügel sieht, da ist eine | |
verlassene Siedlung. Die wird noch immer für Drogen- und Menschenhandel | |
genutzt. Hinter dem Hügel ist dann das nächste Kartell. Uns lassen sie in | |
Ruhe und wir mischen uns nicht ein.“ In diesem Moment nähert sich frontal | |
und mit hoher Geschwindigkeit ein schwarzer Geländewagen, der nach Puerto | |
Palomas zurückrast. Pastor Sosa weist Miguel an, langsam zu fahren. „Der | |
hat es eilig, so, jetzt gib Gas, wir drehen auch besser um.“ | |
Die Landstraße nach Puerto Palomas zurück unterscheidet sich nur in einem | |
Detail von jeder anderen Straße durch die Wüste. Keine einsamen Wegkreuze | |
zieren den Straßenrand. Hier schaut den Passierenden aus kleinen Kapellen | |
ein Skelett an, das mit seinen Knochenfüßen auf einer Weltkugel steht: die | |
Santa Muerte. Die Heilige ist ein Hybridmodell, das prähispanische | |
Totenkulte mit der katholischen Kirche zu vereinen sucht. In der | |
mexikanischen Wirklichkeit findet die Todesgöttin eine starke | |
Anhängerschaft unter den Angehörigen der Drogenkartelle. „Wir Menschen | |
wollen wohl immer an etwas glauben. Und sei es an einen Stock oder Stein, | |
um unseren inneren Frieden zu finden. Viele Narcos schließen einen Pakt mit | |
dem Teufel.“ Er beschütze sie tatsächlich und gebe ihnen Macht, beteuert | |
Sosa. „Aber niemals mehr als Gott, denn der Teufel ist nur ein tollwütiger | |
Hund an der Kette.“ | |
Der Pastor pfeift vor sich hin, während der Pick-Up an Häusern von Palomas | |
vorbeirattert. Alle Bauten sind einstöckig. Die Mauer überragt sie ein | |
ordentliches Stück und ist von überall her sichtbar. Pastor Sosas | |
„Goldland“ liegt mitten im Zentrum der Wüstengemeinde, die unbefestigte, | |
breite Straßen in langgezogene Quadrate teilen. Die Migrantenherberge | |
umgibt ein hoher Zaun mit Sichtschutz. Die meisten Geflüchteten sind | |
Langzeitgäste. Denn die politische Situation an der Grenze ist komplex. | |
## Die große Mehrheit flieht vor dem Terror des Drogenhandels | |
Die im Wahlkampf von US-Präsident Joe Biden versprochene humanere | |
Grenzpolitik steht nach wie vor aus. Fast alle Dekrete, die es wieder | |
möglich machen sollten, dass Geflüchtete Asyl erbitten können, wurden mit | |
einstweiligen Verfügungen von Bundesgerichten ausgehebelt. Die | |
Geflüchteten, die in dieser Situation gefangen sind und weder vor noch | |
zurück können, beteiligen sich unterdessen an den Aufgaben in der Herberge, | |
sie kochen, putzen oder haben Dienst an der gut abgeschlossenen Außentür. | |
Die große Mehrheit der Familien in der Herberge ist vor dem Terror des | |
Drogenhandels aus ihren Herkunftsregionen geflohen. Eine Rückkehr könnte | |
ihren Tod bedeuten. Viele kommen aus dem kleinen mittelamerikanischen | |
Honduras, das sich in der letzten Dekade in einen Narcostaat verwandelt | |
hat. Andere sind Binnenflüchtlinge aus anderen Bundesstaaten Mexikos, wo | |
verfeindete Kartelle um die Vorherrschaft kämpfen. So auch Miguel und seine | |
Familie, die aus Michoacán fliehen musste. Bei dem Versuch, die US-Grenze | |
zu überqueren, wurden sie aufgegriffen und nach Puerto Palomas verfrachtet. | |
Seitdem sind viele Monate vergangen. Die Schrecken der Flucht sind | |
vergangen, die Sorge um die zurückgelassenen Eltern bleibt, genauso wie die | |
Erinnerung an das Landleben – bevor die Narcos die Macht ergriffen. Grün | |
sei es in Michoacán, schwärmt Miguel, üppig grün und voller Bäume, die sich | |
vor Früchten nur so biegen. So ganz anders als hier. „Doch wir konnten dort | |
nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren und sind geflohen.“ Das sei | |
eine Situation, erklärt er zögerlich, „die dich psychisch und spirituell an | |
deine Grenzen bringt“. | |
In Mexiko mussten seit dem Jahr 2006 rund 357.000 Menschen wegen Gewalt | |
ihre Heimat verlassen. Im letzten Jahr kamen die meisten Familien aus den | |
Bundesstaaten Chiapas, Michoacan, Chihuahua und Zacatecas. Da das Recht | |
auf Asyl in den USA während der Pandemie ausgesetzt wurde, leben viele | |
Binnenflüchtlinge heute in einer Herberge wie Tierra de Oro an der Grenze. | |
„Uns geht es hier gut“, sagt Miguel, sie seien umgeben von Stacheldraht in | |
Sicherheit. Er vermisse jedoch sein Dorf und seine Eltern. „Vor allem aber | |
musste ich einen Traum aufgeben.“ Er formuliert seine Worte vorsichtig, es | |
ist ihm wichtig zu erklären, was er schon als Kind empfand. „Es erfüllte | |
mich mit Begeisterung, Soldaten in ihren Uniformen zu sehen.“ Zielstrebig | |
beendete Miguel die Schule, bewarb sich als einer von 1.200 auf einen der | |
22 begehrten Ausbildungsplätze bei der Kriegsmarine – und schaffte es. | |
Im Überseehafen Lazaro Cárdenas wurde er als Kadett ausgebildet und | |
studierte Nautik. Alle 15 Tage besuchte er seine Familie und seine Freundin | |
Melissa im Dorf. Die Situation dort wurde zunehmend angespannter, denn die | |
Frontlinie zwischen sich bekämpfenden Kartellen rückte näher. Melissa | |
berichtete, dass sie kaum noch das Haus verlassen habe. Vor der Tür begann | |
jedes Mal ein Spießrutenlauf, überall Geländewagen mit Bewaffneten. Sie | |
brüllten den Frauen hinterher, was sie alles mit ihnen machen würden. Und | |
machen könnten, denn sie seien die oberste Autorität im Dorf. Die Polizei | |
erstattete schließlich den Kartellangehörigen Bericht. | |
Niemals ließ Miguel etwas von seiner Ausbildung verlauten. „Zu meiner | |
eigenen Sicherheit und der meiner Familie. Aber die Mafia spioniert dich | |
aus. Ich hätte nie geahnt, mit welcher Genauigkeit – und welche | |
Auswirkungen das auf unser Leben haben könnte.“ Denn eines Tages wurde | |
Miguel auf Heimaturlaub entführt. „Sie kamen zu uns nach Hause, traten mit | |
Gewalt die Tür ein.“ Miguel leistete keinen Widerstand, um Melissa nicht zu | |
gefährden. „Sie verbanden mir die Augen und brachten mich an einen | |
unbekannten Ort. Sie wollten, dass ich sie ausbilde, ihnen all mein Wissen | |
aus der eigenen militärischen Ausbildung weitergebe“, um diejenigen besser | |
bekämpfen zu können, die sich ihnen in den Weg stellten. „Ich sagte ihnen, | |
sie sollten mir Zeit lassen, aber ich wusste längst, dass mir nur noch die | |
Flucht blieb. | |
Seine Entführer erklärten Miguel, dass er zu schweigen habe. Sollte das | |
Militär ins Dorf kommen, wäre klar, wer es geholt habe. Dann wäre seine | |
gesamte Familie in höchster Lebensgefahr. „Ich sagte mir, ich kann nicht | |
mit allen fliehen, aber mit wem sie ein Problem hatten, das war ja ich. So | |
verschwand ich einfach mit meiner Schwester, ihren Kindern und meiner Frau, | |
und hier sind wir nun. Auf der Kadettenschule sagte ich nicht, was | |
vorgefallen war. Ich schrieb, das wäre einfach nichts mehr für mich. Nur | |
ich wusste die Wahrheit und wie ich mich fühlte.“ | |
Die Familie verließ ihr Zuhause für immer, ohne viel Gepäck, nur mit den | |
wichtigsten Unterlagen und ein wenig Kleidung. Um drei Uhr am Morgen | |
weckten sie die Kinder. Auch den 13-jährigen Sohn von Miguels Schwester und | |
ihren Mann wollten die Narcos für die naheliegende Front zwangsrekrutieren. | |
Ein Nachbar fuhr sie eineinhalb Stunden in die nächste Stadt, eine | |
Zitterpartie in der Dunkelheit. Dann nahmen sie den Bus Richtung Norden. | |
Zwei Tage Reise lagen vor ihnen. | |
## Geduld bewahren, sich nicht auf Schleuser einlassen | |
Jetzt steht Miguel in dieser Herberge in der Wüste, die ebenfalls von | |
Narcos umgeben ist. Gemeinsam mit Melissa hilft er dabei, das Mittagessen | |
zuzubereiten. Die multinationale Kinderschar der Herberge sitzt an einem | |
langen niedrigen Tisch auf Plastikstühlen. Sie plappern und schreien | |
fröhlich. Ihnen wird das dampfende Essen zuerst serviert, bevor die | |
Erwachsenen und Jugendlichen sich ebenfalls an einen großen Holztisch | |
setzen. Weitere Plastiktische werden erst am Abend aufgestellt. Denn viele | |
der geflüchteten Männer haben sich in der endlosen Wartezeit in Palomas auf | |
dem Bau oder in der Landwirtschaft verdingt. | |
Seit der Frost des Winters nachgelassen hat und die Wüste zart zu blühen | |
begann, sind Miguel und Melissa alleine in der Herberge. Miguels Schwester, | |
ihr Mann und ihre drei Kinder, mit denen sie gemeinsam das Dorf in | |
Michoacán verlassen hatten, konnten mithilfe eines Anwalts erreichen, dass | |
sie bei Familienangehörigen in Sacramento, Kalifornien, ihr Asylverfahren | |
abwarten. Miguel und Melissa haben als junge Erwachsene ohne eigene Kinder | |
wenig Chancen, dass sie bald durch das Drehkreuz am Grenzübergang gehen | |
können. Ein Bundesrichter in Louisiana entschied am 20. Mai, dass der | |
gesundheitspolitische Titel 42 nicht wie geplant drei Tage später | |
aufgehoben werden könne. Das von den Vereinten Nationen 1948 deklarierte | |
Menschenrecht auf Asyl muss auch in der ausklingenden Pandemie dahinter | |
weiter zurückstehen. | |
Pastor Sosa ist auf dem Weg nach Mexiko-Stadt, um an einem Treffen der | |
mexikanischen Regierung zur Situation an der Grenze teilzunehmen. So ganz | |
egal scheint ihm Politik dann doch nicht zu sein, jedenfalls, wenn sie | |
seine Arbeit direkt betrifft. Miguel redet er vor der Abreise nochmals ins | |
Gewissen. Er solle Geduld haben, nicht den Kopf verlieren, sich nicht in | |
die Hände von Schleusern begeben, die immer wieder ihre Runden um die | |
Herberge drehen, und sich nicht auf ein Leben ohne Papiere in den USA | |
einlassen. „Irgendwas muss sich dieses Jahr noch ändern.“ Warten sei auf | |
lange Sicht die bessere Option. Miguel hat es ihm versprochen. | |
2 Jun 2022 | |
## AUTOREN | |
Kathrin Zeiske | |
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