| # taz.de -- Flüchtlingspolitik der EU: Der Kollaps des Flüchtlingsregimes | |
| > Wenn wichtige Akteure wie die EU das Völkerrecht mit Füßen treten, hat | |
| > das Signalwirkung – nach innen und nach außen. Das ist fatal. | |
| Bild: Griechische Polizisten im Tränengas in der Nähe des türkischen Grenzü… | |
| Angesichts der Ereignisse in den vergangenen Tagen an der Grenze zwischen | |
| Griechenland und der Türkei sowie auf den Ägäisinseln, heißt es in weiten | |
| Teilen von Politik und Medien, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. | |
| Dabei war der damalige Umgang mit den flüchtenden Menschen, anders als es | |
| vielfach suggeriert wird, keine koordinierte und proaktive Aufnahmepolitik, | |
| mit der viel Leid verhindert und die politischen Verwerfungen der letzten | |
| Jahre minimiert worden wären. Es war das genaue Gegenteil. | |
| Das EU-Türkei-Abkommen aus dem März 2016, war nicht nur menschenrechtlich | |
| problematisch, sondern wurde nie vollständig umgesetzt und war immer wieder | |
| Gegenstand von Streit zwischen Ankara und den Europäern. Die aktuelle Krise | |
| ist daher alles andere als überraschend. | |
| Das EU-Türkei-Abkommen sowie die „Schließung“ der Balkanroute haben es se… | |
| Anfang 2016 Schutzsuchenden und anderen Migrierenden noch schwerer gemacht, | |
| nach Griechenland und in andere EU-Staaten zu gelangen. Zu keinem Zeitpunkt | |
| wurden die Migrationsbewegungen jedoch komplett gestoppt, wie es die | |
| Metapher des „Schließens“ suggeriert. | |
| Die Zahl der registrierten erstmaligen Asylsuchenden in der EU lag in den | |
| letzten Jahren bei rund 600.000 pro Jahr. Auch wenn die genauen | |
| Einreisewege nicht erfasst werden, liegt es aufgrund der | |
| Herkunftsnationalitäten sehr nahe, dass ein großer Teil von ihnen über die | |
| Türkei und die Balkanstaaten eingereist ist. | |
| Was in den letzten Tagen anders war, ist also weniger die Zahl der | |
| Personen, die versuchen nach Europa einzureisen. Neu ist, dass die | |
| türkische Regierung Flüchtlinge ermutigt und durch das Bereitstellen von | |
| Bussen aktiv unterstützt. Genau mit diesem Szenario hatte die türkische | |
| Regierung in den vergangen Jahren immer wieder gedroht. Nun hat sie Ernst | |
| gemacht. | |
| Für diese Instrumentalisierung der Flüchtlinge kann man Präsident Erdoğan | |
| genauso kritisieren wie für viele andere Elemente seiner Politik. | |
| ## „Schutzschild“ der EU | |
| Nachvollziehbar ist aber zumindest ein Teil seiner Gründe. Er will zu Recht | |
| mehr und langfristige finanzielle Unterstützung für die Versorgung der | |
| Flüchtlinge in seinem Land. Zudem haben die EU-Staaten seit 2016 nur rund | |
| 20.000 Syrer aus der Türkei aufgenommen. Zugesagt waren deutlich mehr. | |
| Grundsätzlich verständlich ist auch, dass er mehr Unterstützung der EU bei | |
| der Bewältigung der humanitären Krise in Nordsyrien fordert, wobei man über | |
| die dazu gewählten Mittel unterschiedlicher Auffassung sein kann. | |
| Die konservative griechische Regierung reagierte darauf in den vergangenen | |
| Tagen mit bisher nicht gekannter Härte auf die Flüchtlinge, wobei ein | |
| Mensch sogar erschossen wurde, wie das Menschenrechtsprojekt Forensic | |
| Architecture rekonstruiert hat. Personen, die die Grenze überquert haben, | |
| wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, Griechenland hat das | |
| Asylrecht für einen Monat ausgesetzt und angekündigt, Personen, die nach | |
| dem 1. März eingereist sind, direkt in ihre Herkunftsstaaten abzuschieben. | |
| Beides ist völkerrechtswidrig. | |
| In erschütternder Einstimmigkeit haben die EU-Kommission und die anderen | |
| Mitgliedstaaten diese Maßnahmen abgesegnet. Die Präsidentin der | |
| EU-Kommission bezeichnete Griechenland als „Schutzschild“ der EU. | |
| Anders als es vielfach dargestellt wird, geht es bei der Flüchtlingspolitik | |
| nicht an erster Stelle um finanzielle Fragen. Hypothetisch betrachtet wäre | |
| die Aufnahme und Versorgung aller rund 4 Millionen Flüchtlinge, die derzeit | |
| in der Türkei leben, durch die wirtschaftlich starken EU-Staaten machbar. | |
| Selbst die weltweit vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) auf 26 Millionen | |
| bezifferten Flüchtlinge überfordern die Weltgemeinschaft nicht mal im | |
| Ansatz. | |
| Die Zahl ist zwar in den vergangen Jahren kontinuierlich gewachsen, | |
| entspricht aber nur rund 0,3 Prozent der Weltbevölkerung. Immer wieder | |
| wurde versprochen, ihnen zu helfen. Zuletzt im Globalen Flüchtlingspakt, | |
| der im Dezember 2018 von fast allen Staaten der Welt angenommen wurde. | |
| Das internationale Flüchtlingsregime – also die Gesamtheit der | |
| flüchtlingspolitischen Regeln und Institutionen – ist eine der wichtigsten | |
| zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit. Aufgebaut wurde es nach | |
| dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund des dunkelsten Kapitels der | |
| Menschheitsgeschichte. | |
| ## Mangel an Verantwortung | |
| Trotz aller Konventionen und des stetigen Wachstums des UNHCR blieb das | |
| Flüchtlingsregime strukturell immer zerbrechlich. Das Hauptproblem liegt – | |
| ähnlich wie bei anderen globalen Herausforderungen wie der Bekämpfung des | |
| Klimawandels – darin, dass es keinen wirksamen Mechanismus für die | |
| Verantwortungsteilung gibt. Die Verantwortung für schutzbedürftige Menschen | |
| muss immer wieder neu ausgehandelt werden. | |
| Viele Regierungen hoffen, dass das „Flüchtlingsproblem“ an ihnen | |
| vorbeigeht, oder versuchen Flüchtlinge und Migranten von ihrem Territorium | |
| fernzuhalten. Die Folgen dieser fehlenden Verantwortungsteilung – sowohl | |
| weltweit als auch innerhalb der Europäischen Union – sind seit Langem | |
| bekannt: Flüchtlinge erhalten keinen Schutz, sie müssen zum Teil | |
| jahrzehntelang in prekärem Zustand ausharren oder sich auf gefährlichen | |
| Routen bewegen. | |
| Die Europäischen Staatschefs senden mit ihrem aktuellen harten Vorgehen | |
| ganz gezielt drei Botschaften: erstens an Präsident Erdoğan, dass sie sich | |
| nicht erpressen lassen wollen. Zweitens an die Flüchtlinge, dass sie ihr | |
| Leben oder eine Inhaftierung riskieren, wenn sie versuchen, in die EU | |
| einzureisen. Und drittens, an ihre Wähler- und Wählerinnen, die sie von der | |
| weiteren Abkehr zu rechtsextremen Parteien abhalten wollen. | |
| Die EU scheint klarmachen zu wollen, dass sie mehr denn je bereit ist, | |
| Menschen mit Gewalt von ihrem Territorium fernzuhalten. Die Aussagen, dies | |
| stehe im Einklang mit dem Völkerrecht, sind schlicht falsch. In der Folge | |
| erleidet die EU einen weiteren kapitalen Glaubwürdigkeits- und | |
| Reputationsverlust, der es ihr in Zukunft schwer machen wird, andere | |
| Staaten dazu zu bewegen, die Rechte von Flüchtlingen und Migranten zu | |
| beachten. | |
| Es besteht sogar das Risiko, dass das globale Flüchtlingsregime vollständig | |
| zusammenbricht. Wenn wichtige Akteure wie die EU und die USA ihr Engagement | |
| reduzieren, eine Politik der Verantwortungsverschiebung implementieren und | |
| das Völkerrecht mit Füßen treten, hat das Signalwirkung. Dabei wäre es im | |
| Eigeninteresse der EU, dass das nicht passiert. Denn weitere | |
| Fluchtbewegungen und andauernde Instabilität drohen. | |
| Die Entscheidungstragenden der EU senden gleichzeitig auch die Botschaft | |
| aus, dass sie nicht bereit sind, ein humanitäres und weltoffenes Europa | |
| gegenüber rechtsextremen politischen Kräften zu verteidigen. Dabei zeigen | |
| Umfragen, dass viele Menschen in Europa zur Aufnahme der Flüchtlinge bereit | |
| wären. | |
| Ein Bündnis von Menschenrechtsorganisationen hat angekündigt, juristisch | |
| gegen die aktuellen Maßnahmen vorzugehen. Aufnahmebereite Kommunen und | |
| Bundesländer fordern lauter denn je eine Aufnahme der Menschen in Not. | |
| Die Innenminister Europas argumentieren, dass sie erst einmal Ordnung an | |
| der Grenze schaffen und dann über humanitäre Lösungen verhandeln wollen. | |
| Sie verkennen dabei, dass die fehlende Verantwortungsteilung die zentrale | |
| Ursache des Konflikts ist. | |
| Die Regierungen könnten sich an einem Beschluss des Europäischen Parlaments | |
| aus dem Jahr 2017 orientieren, darin forderten die Parlamentarier, jährlich | |
| 20 Prozent aller Flüchtlinge mit Aufnahmebedarf Einreise zu gewähren. Im | |
| Augenblick wären das rund 300.000 Menschen. | |
| 6 Mar 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Marcus Engler | |
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