# taz.de -- Flüchtlingsdrama an EU-Grenze: Angst zerstört unsere Zivilisation | |
> Aus Angst vor der AfD werden Flüchtlinge aus Griechenland nicht zu uns | |
> geholt. Mitmenschlichkeit ist kein Wert mehr. | |
Bild: Migranten, vor allem Kinder, die Lesbos erreicht haben, wärmen sich am F… | |
Da sind also diese Bilder der Flüchtlingslager auf Lesbos. Da sind auch | |
diese Bilder von der griechisch-türkischen Grenze. Und ja, da sind die | |
Geschichten der Menschen, alten, jungen, die dort sind oder hocken oder | |
leben oder frieren oder essen oder im Dreck spielen oder rennen oder Kinder | |
auf dem Arm tragend durch Matsch stapfen oder mit Tränengas beschossen | |
werden oder erschossen werden oder ertrinken oder an fehlender Hygiene | |
sterben. | |
Und auf der anderen Seite sind wir, hier, in Deutschland, die diese Bilder | |
sehen, aber die Geschichten dazu nicht mehr hören wollen, nicht mehr lesen. | |
Weil ihr Inhalt bekannt ist oder weil wir ihn uns denken können, die Kälte, | |
die Hitze, die Angst, die Blasen an den Füßen, die Tränen, die | |
Ausweglosigkeit, die zurückgelassene Geschichte, die Toten, die verlorene | |
Würde. Wir wollen es nicht hören. Weil wir die Menschen, wenn wir es hören, | |
als Menschen sehen und etwas tun müssten. | |
Zwischen denen und uns ist schallisolierendes Glas. Schusssicheres sowieso. | |
Und am Ende auch blindes. | |
Als die Grünen Anfang März im Bundestag den Antrag einbrachten, 5.000 | |
besonders vulnerable Flüchtlinge, unbegleitete Minderjährige, | |
alleinreisende Frauen, Schwangere, schwer Traumatisierte aus Griechenland | |
nach Deutschland zu holen, stimmten nur 117 Abgeordnete dafür, 495 | |
Parlamentarier, darunter auch die Sozialdemokraten, stimmten dagegen. Die | |
Christdemokraten ohnehin. Grüne und Linke haben zusammen 136 Stimmen. Von | |
denen fehlen also auch welche für diesen einfachen Antrag, der nicht die | |
Weltprobleme löst, der aber zeigt, wir nehmen das Elend wahr, wir wollen | |
helfen, wir suchen Wege, wir sehen die Menschen. | |
Nichts da. Chance vertan. ([1][Nun will die Große Koalition 1.500 Kinder | |
rausholen.] Vielleicht. Wenn andere europäische Staaten mitmachen.) | |
## Nach dem Grund suchen | |
Es muss einen Grund geben, warum die Flüchtlinge nicht mehr als Menschen, | |
als unseresgleichen gesehen werden. Stattdessen werden sie als jemand | |
gesehen, dessen Würde mit Füßen getreten werden kann. Jemand, der Hilfe | |
braucht und dem wir nicht helfen. Es muss einen Grund geben, warum man | |
Kinder, denen man helfen könnte, indem man sie rausholt, traumatisiert und | |
ohne Schulbildung zurücklässt. Es muss einen Grund geben, warum wir | |
zulassen, dass Menschen, die Hilfe brauchen, sich selbst überlassen werden. | |
Sollen sie an der Grenze, im Meer oder in den Flüchtlingslagern doch | |
sterben – es wird in Kauf genommen. | |
Den Grund gilt es zu finden. Ihn bei den Flüchtlingen zu suchen, ist | |
zynisch. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte umso mehr. Niemand | |
flüchtet ohne Not. | |
Den Grund bei all den Despoten in nicht zu fernen Ländern, die über Leichen | |
gehen, zu suchen, bei den Erdoğans, Putins, Assads, ist feige, ist nichts | |
als Ausrede und Ausflucht. Als seien wir in Gedanken deren Opfer gleich mit | |
– schließlich würden sie uns diese Bilder, die wir nicht sehen wollen, doch | |
aufzwingen. Das mache uns zu Leidtragenden von deren Politik. | |
Der Grund, warum wir nicht helfen und dabei (wie nebenbei) unsere | |
Mitmenschlichkeit und damit das Selbstverständnis unserer Zivilisation, | |
unserer Gesittung, unseres kulturellen, zivilisatorischen Selbstbildes | |
verlieren, hat vielmehr etwas mit uns zu tun. Was? Was ist es, das uns das | |
Gesicht verlieren lässt? Denn nur gesichtslos können wir nichts sehen. | |
Es ist Angst. Aber nicht irgendeine. Es ist die Angst vor den Rechten. Vor | |
fünf Jahren, 2015, als mehrere hunderttausend Flüchtlinge nach Deutschland | |
kamen, gab es diese Angst noch nicht. Die Mehrheit der Bevölkerung befand | |
da noch, dass es richtig sei, den Flüchtlingen zu helfen. Aber schon der | |
jetzige Innenminister Horst Seehofer bereitete den Boden für den | |
Stimmungswandel, als er Merkels Entscheidung öffentlich kritisierte und für | |
die Schließung der Grenzen plädierte. Dabei hatte Merkel recht, als sie | |
„wir schaffen das“ sagte. | |
Die Rechten, inbesondere ihr parlamentarischer Arm, die AfD, haben die | |
letzten fünf Jahre genutzt, um den Hass auf die Flüchtlinge, aber auch auf | |
andere Ausländer zu schüren: mit Hetze, mit falschen Fakten, mit Angriffen, | |
mit Plakaten, mit Vorträgen, mit Aufmärschen. Anhänger der rechten | |
Ideologie haben Feuer gelegt, Menschen bedroht, gejagt, hingerichtet. Etwa | |
den CDU-Politiker Lübcke, der Humanität vor Parteiräson stellte, oder die | |
zwei Menschen vor der Synagoge in Halle, oder die Leute in der Shishabar | |
und im Imbiss in Hanau. Das brutale rhetorische oder aktive Vorgehen der | |
Rechten zeigt Wirkung: Heute will eine Mehrheit der Bevölkerung keine | |
weiteren Flüchtlinge aufnehmen. | |
## Angst vor den Rechten | |
Aus Angst, den Rechten nun noch mehr Raum zu geben, ihrem | |
menschenverachtenden Denken, ihrem ausgrenzenden Gehabe, ihrem | |
martialischen Auftreten, ihrer Dummheit und Menschenverachtung, reden | |
Politiker und Politikerinnen in diesem Land, sozialdemokratische und vor | |
allem christdemokratische von der CDU und erst recht der CSU, von | |
europäischen Lösungen, die sie die letzten fünf Jahre nicht gefunden haben, | |
falls sie überhaupt gesucht wurden. Die PolitikerInnen werfen Erdoğan vor, | |
er nutze die Flüchtlinge als Geiseln für eine erpresserische Politik, und | |
nehmen sie doch selbst gleichzeitig als Faustpfand ihrer Angst und | |
Untätigkeit. Als wäre das nicht das Gleiche | |
Ausgerechnet Sahra Wagenknecht von den Linken führte diese Angst vor den | |
Rechten, mit denen das Nichtstun erklärt wird, vor, als sie am 6. März mit | |
[2][Alfred Schier bei „phönix persönlich“] über die Flüchtlingspolitik … | |
die Aufnahme weiterer Flüchtlinge sprach. Sie sagte: „Und wenn ich mir | |
Umfragen angucke, will die Mehrheit das nicht. Und wenn ich mir nicht | |
wünsche, dass die AfD noch stärker wird, dann kann man nicht Dinge tun, die | |
genau das im Effekt bewirken.“ | |
Woher weiß sie das? Woher weiß sie, dass es diesen Automatismus gibt: ein | |
paar Flüchtlinge mehr = ein paar Stimmen mehr für die AfD? Müsste sie, als | |
eine, die rhetorisch geschult ist, die eloquent ist und der das Menschliche | |
am Herzen liegt, nicht vielmehr sagen: Wir verlieren die Grundpfeiler | |
unserer Zivilisation, die doch auf Menschlichkeit bauen, wenn wir aus Angst | |
vor der AfD jetzt nicht humanitär handeln? | |
Das Schlimme nämlich ist, dass genau das passiert: Die Angst vor der AfD | |
zerstört das Zivile in unserer Gesellschaft, das Mitmenschliche, | |
Mitfühlende. (Und den Christen zerstört es das Christliche: „Was ihr für | |
einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“) | |
Das aber ist eine Voraussetzung für Faschismus, wie es ihn in Deutschland | |
schon einmal gab. Nur wer im anderen Menschen nicht den Menschen sah, war | |
zum Holocaust fähig. Wer aber mit den Flüchtlingen wie derzeit an der | |
griechischen Grenze und auf griechischen Inseln schachert und in Kauf | |
nimmt, dass sie sterben, der sieht das Menschliche in ihnen schon auch | |
nicht mehr. | |
Wer jetzt nicht die humanitäre Krise in Griechenland mildert, wenn sie | |
nicht zu stoppen ist, vollendet, was die AfD propagiert. | |
9 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Koalition-will-Gefluechtete-aufnehmen/!5670088 | |
[2] https://www.phoenix.de/sendungen/gespraeche/phoenix-persoenlich/sahra-wagen… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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