# taz.de -- Flucht und Migration: Unnötige Panikmache | |
> Die Bilder aus Lampedusa sind irreführend. Die Zahl der übers Mittelmeer | |
> Flüchtenden ist viel geringer, als die Zahl derer, die 2022 gekommen | |
> sind. | |
Bild: Die Männer warten auf Lampedusa vor einem Aufnahmezentrum für Migranten | |
Bilder der voll gepferchten Boote und des überfüllten Auffanglagers auf | |
Lampedusa gingen Mitte September um die Welt. Italiens rechter | |
Regierungschefin Giorgia Meloni kamen sie ungelegen, hatte sie im Wahlkampf | |
doch noch versprochen, mit ihr werde es so etwas in Zukunft nicht mehr | |
geben. Anderen Rechtspopulisten kamen die Bilder aber wie gerufen. Marine | |
Le Pen in Frankreich warnte in Angstlust vor einer „Überschwemmung mit | |
Migranten“. | |
Und Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki orakelte, „ganz Europa“ werde | |
bald wie Lampedusa aussehen, wenn man dem nicht einen Riegel vorschiebe. | |
Solche Angstszenarien sind das Geschäftsmodell von Rechtspopulisten. Sie | |
sprechen von „Flut“, „Invasion“ und „Völkerwanderung“, um sich als | |
vermeintliche Retter des angeblich bedrohten Abendlands gerieren zu können. | |
Seriöse deutsche Medien ließen sich von der Panikmache anstecken: Ob | |
„[1][maybritt illner]“, ARD-„Presseclub“ oder Spiegel – wann immer es | |
letzthin um Flüchtlinge ging, mussten Bilder aus Lampedusa dafür herhalten, | |
einen völlig falschen Eindruck von der aktuellen Problemlage zu | |
vermitteln. | |
Die Belastung deutscher Städte und Kommunen hat andere Gründe. Sachsens | |
Ministerpräsident Michael Kretschmer erinnerte daran, dass man die | |
Bundesregierung schon vor Monaten auf die Probleme der Unterbringung von | |
Geflüchteten hingewiesen habe. Damals sprach seine Partei aber noch nicht | |
von einer „Migrationskrise“. Inzwischen übernehmen viele Medien dieses | |
fragwürdige und alarmistische Framing, und die Panikmache zeigt Wirkung: | |
## Der Widerstand wächst | |
Fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung geben sich laut aktuellem | |
[2][ARD-Deutschlandtrend] unzufrieden mit der deutschen Migrationspolitik | |
und finden, Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen. Der Elefant im | |
Raum sind die vier Millionen Menschen, die Europa im vergangenen Jahr | |
aufgenommen hat, weil sie [3][aus der Ukraine geflohen] sind. Sie müssen | |
kein Asylverfahren durchlaufen, dürfen sich frei in Europa niederlassen | |
und arbeiten, ihre Kinder zur Schule schicken und sind krankenversichert. | |
Ihren besonderen Schutzstatus haben die EU-Innenminister an diesem | |
Donnerstag [4][um ein weiteres Jahr bis 2025 verlängert]. Doch auch sie | |
brauchen Wohnraum und Kinderbetreuung, beanspruchen Behörden und | |
Sozialsysteme. Die Debatte konzentriert sich aber ausschließlich auf die | |
Menschen, die aus anderen Ländern nach Europa fliehen. Für diese wird die | |
Europäische Union das Asylrecht verschärfen, dafür hat [5][Deutschland in | |
dieser Woche den Weg frei] gemacht. | |
Auch im Inland verschärft die Ampelkoalition unter dem Druck von FDP und | |
Opposition ihre Gangart. Dabei fliehen auch aus Syrien, Afghanistan, dem | |
Irak, der Türkei und Iran viele Menschen vor Krieg und Verfolgung – aus | |
diesen fünf Ländern stammen die meisten Menschen, die derzeit in | |
Deutschland Asyl beantragen. Afrikaner aus frankophonen Ländern wie Guinea, | |
Burkina Faso oder Elfenbeinküste, die in Italien landen, zieht es eher in | |
Staaten, in denen man auch Französisch spricht. | |
Warum kürzlich überhaupt so viele Menschen innerhalb von wenigen Tagen auf | |
[6][Lampedusa] strandeten ist unklar. War es Torschlusspanik, weil die | |
EU-Kommission im Juli einen Deal mit Tunesiens neuem De-facto-Diktator Kais | |
Saied vereinbart hatte, die sie in die kaum seetüchtigen Boote trieb? Ließ | |
Tunesien sie ziehen, weil das von der EU versprochene Geld noch nicht | |
angekommen war? | |
## Lampedusa wird instrumentalisiert | |
Fest steht, dass jetzt mehr Flüchtlinge die nahe vor Tunesien gelegene | |
Insel ansteuerten, weil der Weg zu anderen Häfen gefährlicher geworden war, | |
seit Italiens Regierung die Arbeit der Seenotretter im Mittelmeer erschwert | |
und den Weg aus Libyen über Abkommen mit libyschen Milizen verschlossen | |
hat. Die Routen haben sich schlicht verlagert. Die Bilder aus Lampedusa | |
haben der Asyldebatte in Europa neuen Auftrieb gegeben, sie werden dafür | |
instrumentalisiert. | |
Dabei ist dort längst wieder Ruhe eingekehrt, die meisten Bootsflüchtlinge | |
wurden aufs Festland verteilt. Es wäre gut, wenn auch Europa zu dem | |
nüchternen Pragmatismus zurückkehren würde, der vor einem Jahr herrschte, | |
als Millionen von Ukrainern in den Westen flohen. Die Situation heute ist | |
nicht annähernd so dramatisch wie 2022, auch nicht wie 2015. Es kommen viel | |
weniger Menschen zu uns als in diesen beiden Krisenjahren. | |
Ja, viele Helfer sind erschöpft und ernüchtert, denn die Aufgaben sind | |
groß. Ja, manche Kommunen – längst nicht alle – sind überlastet und | |
brauchen mehr Geld. Aber die Situation ist nicht außer Kontrolle, wie | |
Ex-Bundespräsident Joachim Gauck schwadronierte. Es ist zu schaffen, immer | |
noch. | |
30 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=wVhNNBZXAGg | |
[2] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-3406.html | |
[3] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Deutschland/!5955701 | |
[4] /Ukraine-Fluechtlinge-in-der-EU/!5960434 | |
[5] /Streit-ueber-EU-Asylpolitik/!5963023 | |
[6] /Solidaritaet-auf-Lampedusa/!5959750 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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