# taz.de -- Film „The Midnight Sky“ auf Netflix: Sci-Fi oder Dieselabgase | |
> Netflix veröffentlicht „The Midnight Sky“ als nachdenkliche Dystopie zum | |
> Jahresende. Doch George Clooneys Regiearbeit fehlt die Tiefe des | |
> Weltalls. | |
Bild: Szene aus „The Midnight Sky“ | |
Etwas ist passiert in der Welt. Und es hat vermutlich nichts mehr mit | |
Corona zu tun. Aber die Erde, wie wir sie kennen und seit Jahrtausenden | |
ausbeuten, ist fürs Erste unbewohnbar: Der Film „The Midnight Sky“, den | |
Netflix als nachdenkliche Jahresenddystopie um das Lockdown-Weihnachtsfest | |
herum (Start 23. Dezember) platziert, beginnt im Jahre 2049 – mit einer | |
Evakuierung. | |
Die Menschen müssen also umgesiedelt werden, irgendwo ins Unterirdische – | |
exemplarisch wird in der ersten Szene der Geschichte eine Forschungsstation | |
am Nordpol geräumt. Nur einer bleibt dort allein zurück, gleich dem Kapitän | |
auf einem sinkenden Schiff: Der Wissenschaftler Augustine Lofthouse | |
(gespielt von George Clooney, der auch Regie führte) hat bereits zu Beginn | |
der Adaption des Romans „Good Morning, Midnight“ von Lily Brooks-Dalton eh | |
nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera. | |
Denn der bärtige, abgekämpfte Astronom ist schwer krank, er wird bald | |
sterben und hält sich nur mit regelmäßigen Transfusionen auf den Beinen. Er | |
hat es sich darum zur letzten Aufgabe gemacht, ein Raumschiff vor der | |
Landung auf der Erde und damit vor der ominösen Weltkatastrophe zu warnen. | |
Auf jenem Schiff, das erzählt der Film parallel, hätte eine fünfköpfige | |
Crew unter der Leitung von Sully (Felicity Jones) und deren Partner, dem | |
Raumschiffkapitän Adewole (David Oyelowo) eigentlich eine gute Nachricht | |
für die Menschheit: Die Mission, die einst von Lofthouse selbst erdacht | |
wurde, sollte einen fremden Planeten auf Bewohnbarkeit untersuchen – und | |
hatte Erfolg damit. | |
## Viel Bekanntes und Bewährtes | |
Nur sind mit der Evakuierung auch sämtliche Kommunikationswege zwischen | |
Raumschiff und Erdstationen zerstört worden. Und die Antenne, die auf der | |
Nordpolstation steht, ist zu schwach für Lofthouses alarmistische Botschaft | |
ins All. Gemeinsam mit dem schweigenden kleinen Mädchen Iris (Caoilinn | |
Springall), das er eines Morgens plötzlich in der verlassenen Stationsküche | |
entdeckt, macht sich der müde, kranke Mann auf den Weg durch den Schnee, um | |
eine stärkere Antenne zu finden. | |
Es steckt viel Bekanntes und Bewährtes in Brooks-Daltons Science-Fiction, | |
die der in Filmdingen wählerisch gewordene Clooney als Herzensprojekt | |
realisiert hat: Die klassische Robinsonade mit Clooney als Robinson und der | |
stillen Iris als Freitag; das Familiendrama mit Lofthouse, der sich einst | |
(in Rückblenden) gegen eine große Liebe samt Tochter und für den bisweilen | |
einsamen Weg als Wissenschaftler entschieden hatte; sowie die mit einem | |
zarten 70er-Jahre-Umweltbewegungsflair garnierte Anklage an die Menschheit, | |
den Planeten zu zerstören, von und auf dem sie leben. | |
Der Tenor von „The Midnight Sky“ ähnelt, sogar teilweise bildlich, Douglas | |
Trumbulls 1972 entstandenem, großartigen Space-Hippie-Trip „Lautlos im | |
Weltraum“, in dem ein (Robinson-)Astronaut eine Weltraumstation mit dem | |
letzten Grünzeug der Erde an einen bessere Ort steuert, seine Freitags sind | |
dabei niedliche schweigende Roboter. | |
Und natürlich hat „The Midnight Sky“, dessen klassisch komponierte Bilder | |
von Schnee und Eis manchmal den Fernsehbildschirm sprengen und nach | |
Leinwänden rufen, in seiner konzentrierten Ruhe und relativen Actionarmut | |
auch etwas von Steven Soderberghs Adaption des Lem-Romans „Solaris“. | |
Hier träumte Clooney bereits luzide zu noch opulenteren Sequenzen im | |
Weltrau. Auch [1][Alfonso Cuarons bildgewaltiger (und mit Clooney | |
nebenbesetzter) „Gravity“] spielt herein – da allerdings eher die Idee mit | |
dem Menschen in einer einsamen Umgebung, der unter der Unachtsamkeit der | |
sogenannten „Zivilisation“ (in dem Fall Trümmerteile einer ehemaligen | |
Raumstation) leidet. | |
## Es fehlt die Tiefe des Alls und der Idee | |
Doch Clooneys Inszenierung nach einem Drehbuch des „The Revenant“-Autors | |
Mark L. Smith verlässt sich von Anfang an weder auf seine Bilder noch auf | |
seine Botschaft, und erst recht nicht auf seine Figuren. Mit einem | |
anstrengend pompösen, manipulativ-untermalenden Score [2][erschlägt der | |
Oscarpreisgewinner Alexandre Desplat] die Handlung fast und versucht | |
redundanten Szenen eine Bedeutung einzuhauchen, die sie nicht haben. | |
Wirklich interessant oder spannend sind weder die Reise von Lofthouse und | |
Iris an einen anderen Teil des Nordpols noch die Probleme der | |
Raumschiff-Crew, die nach einem Meteoritensturm mit technischem Schaden und | |
menschlichen Verlusten kämpfen. Teils ist die Handlung trotz eines kleinen | |
Plot-Twists am Ende zu erwartbar, teils schwimmen Dialoge und Konflikte an | |
einer schneeweißen Oberfläche. | |
„The Midnight Sky“ fehlt die Tiefe des Alls, die Idee hinter dem schönen | |
Aufbau. Außer der zwar richtigen, aber lapidaren Aussage, die echte Gefahr | |
drohe dem Planeten nicht aus dem Weltraum, sondern von seinen ignoranten | |
Bewohner*innen, lässt sich aus Clooneys bemühtem Epos nicht viel | |
ablesen. | |
Dabei steckt in der Konstellation, beispielsweise in der intimen | |
Gewohnheit, mit der die Raumschiff-Crew nach einer mehrjährigen Mission | |
miteinander umgeht, eine Menge Potenzial, um Beziehungen, Charaktere, | |
Schwierigkeiten der Isolation zu erzählen. Doch Clooney und Smith drücken | |
sich vor Ecken und Kanten und malen die fünf schwarzen und weißen Männer | |
und Frauen als harmonisch-harmloses Team, das sich zwar am Ende | |
unterschiedlich entscheidet, aber auch das ohne jede Dramatik tut. | |
Und Lofthouse, den Clooney mit der Weisheit der eigenen Lebensjahre als gar | |
nicht coolen Zweifler gibt, scheint auch aus Genderklischees nicht | |
herauszuwollen. In den Rückblenden wird ein smarter Wissenschaftler | |
gezeigt, der von einer normativ hübschen jungen Blondine (Sophie Rundle) | |
bewundert wird. Ihre Anmachline ist in etwa „Können Sie mir bitte die Welt | |
erklären?“, was er gern tut, um danach, ganz der tatendurstige, zu etwas | |
Wichtigerem geborene Mann, die mit den Tränen kämpfende emotionale Frau | |
zugunsten seiner Karriere zu verlassen. | |
## Hits machen die Figuren nahbar | |
Auch wenn dies nur eine Randgeschichte aus der Vergangenheit des | |
Protagonisten ist, erstaunt die Ungebrochenheit, mit der Clooney jene | |
altmodischen Rollenbilder installiert – die Frauen im All, Sully und eine | |
Technikerin namens Maya (Tiffany Boone) können diesen Eindruck nur minimal | |
mindern. | |
Sogar die von dem ärgerlichen Desplat-Score unabhängige Musikauswahl | |
bestätigt das: Ein Mann wie Lofthouse hört den Countrysong „Tennessee | |
Whiskey“, wenn er entspannen will. Und die Raumschiff-Crew macht zu Neil | |
Diamonds „Sweet Caroline“ einen Weltraumspaziergang. | |
Ähnlich den umweltbewegten Dystopien der 70er-Jahre wie „The Omega Man“ und | |
„Silent Running“ und Ridley Scotts bravem Nasa-Werbefilm „Der Marsianer“ | |
benutzt auch „The Midnight Sky“ Hits, um die Figuren nahbar zu machen. | |
Neugierig wird man dennoch nicht auf sie. | |
Das Science-Fiction-Genre ist das älteste des Mediums Film – George Méliès… | |
„Die Reise zum Mond“ entstand 1902 nach einem Jules-Verne-Roman als einer | |
der ersten narrativen Filme der Welt. | |
Inzwischen sind die futuristischen Ausblicke längst von der reinen Action | |
abgerückt, sie erzählen von Philosophie, Psychologie, von Gendergrenzen, | |
Familienbanden, Umweltzerstörung und dem Sinn des Lebens. | |
Von „The Midnight Sky“ bleibt am Ende zu wenig, um den Film in den Kanon | |
der vielen beeindruckenden Sci-Fi-Abenteuer einzureihen: Zu wenig Aussage, | |
zu wenig eigene Ideen, zu wenig Radikalität, zu wenig Überraschung. Sogar | |
die Katastrophe, die den Startpunkt der Geschichte ausmacht, weht nebulös | |
im Hintergrund davon – irgendetwas ist anscheinend mit der Luft, vom Himmel | |
gefallene Vögel weisen darauf hin. Wahrscheinlich waren es doch die | |
Dieselabgase. | |
22 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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