| # taz.de -- Festival „Digital Feminism“ in Dresden: Intimität in Zeiten de… | |
| > Twerking, Adorno und Tinder: Ein Festival verhandelt wie Webcams und | |
| > Virtual-Reality-Brillen sich zwischen Körper schieben und sie doch | |
| > verbinden. | |
| Bild: Körper und Intimität bei einer Performance auf dem Festival in Dresden | |
| „Und, habt ihr auch alle euren Adorno gelesen?“, ruft die junge Frau auf | |
| dem Dresdner Albertplatz ihren drei Freundinnen zu. Die Frauen tragen ihr | |
| kinnlanges Haar mit reichlich Gel zu strengen Bobs frisiert, den | |
| Nackenansatz ausrasiert, damit das Haar eng am Kopf anliegt. Eine scrollt | |
| durch ihren Instagram-Feed, schaut sich das Video einer twerkenden Tänzerin | |
| findet. | |
| Die Frauen sind auf dem Weg zum Festival „Digital Feminism“ im | |
| Festspielhaus Hellerau. Einem Ort, an dem durch Tänzerinnen wie Mary Wigman | |
| nicht nur vor etwa hundert Jahren der moderne Ausdruckstanz begründet wurde | |
| – sondern an dem von Anfang an auch Geschlechtergrenzen gesprengt wurden. | |
| Und nun, im März 2018, wird auf dem Weg dorthin getwerkt, womöglich in | |
| Vorbereitung auf den „Twerkshop“ von Kulturvotzen TV (nun, sie heißen | |
| wirklich so). Denn die junge Frau ist vom Betrachten zum Tanzen | |
| übergegangen. | |
| Was hat nun Twerking, bei dem Becken und Po rhythmisch schwingen und | |
| hüpfen, mit Digitalem Feminismus zu tun? Und was mit Adorno? | |
| Der berühmte Vertreter der Kritischen Theorie soll 1969 im Angesicht der | |
| entblößten Brüste feministischer Studentinnen Tränen vergossen und die | |
| üppig wogende Fleischespracht mit seiner Aktentasche abgewehrt haben. Der | |
| Schock bekam Adorno nicht; er erlag kurze Zeit später einem Herzinfarkt. So | |
| viel Intimität, noch dazu unvermittelt, bekam ihm nicht. | |
| Um Intimität geht es auch in der diesjährigen, zweiten Auflage des | |
| Festivals. Genau genommen: #intimacy. Der Hashtag, das Zeichen der Twitter- | |
| und Instagram-Sprache par excellence, erlaubt die Bündelung von Nachrichten | |
| und Beiträgen zu einem Thema. #twerking, #intimacy, #adorno. | |
| ## Goldgräberin in den Tiefen des Netzes | |
| Die jungen Frauen vom Albertplatz stehen inzwischen in einem Raum mit | |
| Videoinstallationen der Künstlerin Lorna Mills. Die sei, so die Worte der | |
| Projektorganisatorin Konstanze Schütze, eine Goldgräberin in den Tiefen der | |
| Netzbilderwelten. Und tatsächlich flimmern im Raum, in dem Schütze und Ulla | |
| Heinrich das dreitägige Festival eröffnen, unzählige GIFs, kleine | |
| Bildsequenzen also, die aus sich wiederholenden Einzelbildern bestehen, in | |
| Endlosschleife über die weißen Wände. | |
| GIFs waren ein Hype des Jahres 2016, sind also irgendwie bereits „over“ und | |
| trotzdem im Netz allgegenwärtig. Das digitale Äquivalent zum Daumenkino, | |
| meist Kultfilmen und Serien entnommen, markiert den Teilenden als Digital | |
| Native und popkulturell bewanderten Nerd – und stellt letztlich eine Art | |
| Online-Währung dar. Das GIF ist das Bild für das Netz, nicht nur, weil es | |
| im Netz distribuiert wird; sondern weil es das Zerfallen von Wirklichkeit | |
| in Bits und Bytes symbolisiert. | |
| Wie kann Intimität in solch einer Wirklichkeit entstehen? In Lorna Mills | |
| GIF-Installationen schubbern Hunde ihre juckenden Hintern an Möbeln, | |
| schütteln Frauen ihre Brüste in absurden Pornoszenen. Alles ist in | |
| Bewegung, man beobachtet ein Perpetuum mobile des Abstrusen und Obszönen. | |
| Mills Installationen sind urkomisch und verstörend zugleich, denn man ahnt | |
| schnell, dass das Gehirn, das mit den Ausflüssen popkultureller Bildkultur | |
| täglich geflutet wird, nicht mehr ganz richtig tickt. Oder jedenfalls nur | |
| noch im Takt der Frame-Wiederholungen des GIFs. Das alles findet übrigens | |
| im Dalcroze-Saal statt, benannt nach dem Erfinder der rhythmischen | |
| Erziehung Émile Jaques-Dalcroze. | |
| Der neue, netzaffine Feminismus, der hier seine digitalen Utopien | |
| durchspielt, ist offenkundig „sex positive“. Er schämt sich nicht seines | |
| Interesses für Internetpornografie und Live-Stream-Sex. Nicht das | |
| Geschlechterverhältnis oder die „heterosexuelle Zwangsmatrix“ werden hier | |
| verhandelt, sondern die Frage, wie und unter welchen Bedingungen Intimität | |
| im Zeitalter des Digitalen überhaupt entsteht. | |
| Oder anders: wie ausgerechnet in der digitalen Welt die digitale Ordnung | |
| der intimen Zweierbeziehung durchgestrichen wird, weil sich Webcam, | |
| Smartphone-Bildschirm oder Virtual-Reality-Brillen zwischen die Körper | |
| schieben. Aus der Diade wird also eine sexuelle Triade – und die macht | |
| Intimität zugleich möglich und unmöglich. Sie bringt einander ferne | |
| Menschen, die vielleicht von Tausenden Kilometern und ganzen Landmassen | |
| getrennt sind, miteinander in Kontakt. Und zugleich entfremdet sie sie | |
| durch mediale und technische Überformungen. | |
| ## Magie einer platonischen Tinderromanze | |
| Das ist auch Kern der Live-Online-Show „Tinder Tendencies“ von Tabea | |
| Venrath und Miriam J. Carranza, in der reales und fiktives Material | |
| verschaltet wird. Tinder dient längst nicht nur dazu, ein Date für einen | |
| Abend zu finden. Das zeigt die Geschichte eines US-Pärchens, das nach drei | |
| Jahren mit gelegentlichen Nachrichten und Flirts von der Netzgemeinde und | |
| dem Tinder-Team gewissermaßen zu einem Date genötigt wurde. Das zerstörte | |
| wohl die Magie dieser platonischen Endlosromanze, die sich in den | |
| unendlichen Weiten des Netzes oder eben dem kleinen Tinder-Chatfenster auf | |
| imaginärer Ebene entfalten konnte. Man darf bezweifeln, dass sie den | |
| Einbruch des Realen in ihre heile kleine Welt überlebte. | |
| Aufregend an dieser App-Romanze waren übrigens die Leerstellen in der | |
| Kommunikation. So offenbarten die beiden eine eigentümliche Asynchronität | |
| der Kommunikation, mit einigen Monaten Pausen zwischen zwei Nachrichten. | |
| Das Gespräch entfaltete sich also im Raum des Nicht-Sprechens, oder besser: | |
| Nicht-Schreibens. Und das in einer Zeit, in der wir permanent online und | |
| erreichbar sind. So führt Tinder am Ende, jedenfalls für dieses Paar, zu | |
| doppelter digitaler Enthaltung. Sprachlich und sexuell. | |
| Vielleicht ist auch nichts intimer im Zeitalter digitaler | |
| Totalverfügbarkeit als die Nachrichten der beiden, wenn sie erklären, warum | |
| sie einander nicht schreiben konnten: „Hey, entschuldige, ich war in der | |
| Dusche“, heißt es da nach zwei Monaten Gesprächspause. | |
| ## Messbare Körperdaten, quantifizierte Gefühle | |
| Vom Körper, der sich derart entzieht, geht es beim Festival weiter zum voll | |
| zugänglichen Körper; dem Fully Accessible Body. In der so betitelten, | |
| interaktiven Soundperformance des Duos BBB_ wird nicht nur das | |
| Abhängigkeitsverhältnis zwischen Künstler und Publikum ausgelotet; | |
| HoloLens-Brillen erzeugen für den Zuschauer ein individuelles Bild, das | |
| sich abhängig von dessen Pulsfrequenz verändert. Gefühle werden hier | |
| quantifiziert, in messbare Körperdaten transponiert und transparent. | |
| Die intime Erfahrung des Zuschauers, dessen körperliche Reaktion das | |
| technische Gerät (zumindest vermeintlich) steuert, wird durch den Akt der | |
| Vermessung zugleich universalisiert. Ließe sich das so gemessene Gefühl | |
| nicht auch an andere übermitteln? Das ist der nächste logische Schritt: die | |
| Verschaltung von zwei HoloLens-Brillenträgern. | |
| Adorno sah in den Ausprägungen der Kulturindustrie Mittel zur „Erfassung | |
| der Menschen bis in ihr Innenleben hinein“. Er kritisierte schon im frühen | |
| 20. Jahrhundert eine Tendenz zur Verdinglichung der menschlichen | |
| Beziehungen; nun aber ermöglichen die aktuellen Technologien und Medien | |
| eine viel weitergehende Form der Totalerfassung von Körper und Geist. Der | |
| wir uns obendrein freiwillig hingeben. Adornos berüchtigter | |
| Kulturpessimismus könnte sich angesichts der neuen Möglichkeiten der | |
| Liquidation des Individuums als begründet erweisen. | |
| Wie alle Zukunftsvisionen ist die Zukunft der Intimität im Digitalen | |
| wahlweise als Utopie oder Dystopie lesbar. Als Fragestellung unter | |
| feministischen Vorzeichen erhält sie eine besondere Brisanz, geht es doch | |
| auch um die Loslösung vom (Geschlechts-)Körper. | |
| Mit Adorno-Lektüre alleine wird man die auf dem Festival aufgeworfenen | |
| Fragen nicht beantworten können. Schaden wird sie allerdings auch nicht. | |
| 20 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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