# taz.de -- Faktenchecks in Medien: Der Fokus wird verschoben | |
> Journalistische Faktenchecks wollen Tatsachen schaffen. Doch zwei | |
> Beispiele zeigen, dass sie politische Konflikte nicht so einfach | |
> entschärfen können. | |
Bild: Bei „Hart aber Fair“ wurden Aussagen von Sahra Wagenknecht live in de… | |
Ursprünglich wollte der ARD-Faktenfinder in einem Text die | |
[1][Investigativrecherche des US-Journalisten Seymour Hersh] über die | |
Sprengung der [2][Nord-Stream-2-Pipeline] kritisch abklopfen, produzierte | |
aber dabei selbst eine Ente. „In einer früheren Version war [3][von | |
Sprengstoff] ‚in Form von Pflanzen‘ die Rede“, hieß es im nachgereichten | |
Korrekturhinweis auf der Website. Wo Hersh schreibt, C4-Sprengstoff sei | |
platziert worden (to plant), machte der Faktenfinder daraus wegen eines | |
Übersetzungsfehlers explosive Pflanzen. Und: Die Redaktion hatte die | |
Waffenbotanik keineswegs nur beiläufig behandelt. Der Frage, wie plausibel | |
der Einsatz von Sprengstoff in Pflanzenform sei, war in der ersten Version | |
des Textes ein ganzer Absatz gewidmet worden. Sogar einen | |
Sprengstoffexperten hatte man dazu befragt. | |
Nachträgliche Korrekturen im Journalismus sind immer ungünstig. Doch diese | |
Geschichte ist eine besonders peinliche Ausnahme, da Faktenchecks qua Genre | |
eine ausgesprochene Genauigkeit versprechen. Sie ist außerdem brisant, weil | |
die Frage, wie man es mit der Hersh-Story hält, längst zu einem Politikum | |
geworden ist. Die Antwort darauf hängt oft von der Haltung zu kontroversen | |
Themen ab, etwa zur Rolle der Nato. | |
Ein im Kern politischer Konflikt sollte im ARD-Faktenfinder durch | |
Tatsachenprüfung entschärft werden – und das ging schief. Der Vorgang steht | |
damit sinnbildlich für ein grundsätzliches Problem des Formats Faktencheck. | |
Denn Angebote wie der ARD-Faktenfinder können selbstredend gute Dienste | |
leisten, zum Beispiel übersichtlich Informationen zu verbreiteten | |
Gerüchten aufbereiten. Doch das implizite Versprechen des Fact-Checking | |
geht deutlich darüber hinaus: Es ist das einer über den Dingen stehenden, | |
gewissermaßen letztgültigen Wahrheits-Instanz. | |
## Das eigentliche Thema gerät in den Hintergrund | |
Mit dem Bremer Soziologen Nils Kumkar lässt sich schon die Grundannahme | |
anzweifeln, politische Konflikte könnten dadurch geklärt werden, dass | |
problematischen Behauptungen vermeintlich reine Tatsachen entgegengestellt | |
werden. In seinem gleichnamigen Buch erklärt er die kommunikative Funktion | |
„alternativer Fakten“. Diese böten eine Ausflucht aus Dilemmata, die | |
entstehen, wenn Tatsachen klar auf der Hand liegen, „mit denen man sich | |
nicht auseinandersetzen kann oder will“. Der Streit um die Wahrheit selbst | |
werde zum Thema. Das, worum es zunächst ging, gerate in den Hintergrund. | |
Auch Nachrichtenmedien und Talkshows hätten, so Kumkar gegenüber der taz, | |
im Zuge der Debatte um Fake News zunehmend darauf umgestellt, diese selbst | |
als Problem zu thematisieren. „Wenn es einen politischen Konflikt gibt, | |
wird sofort geguckt: Können wir ihn nicht aus der Welt schaffen, indem wir | |
die Faktengrundlage klären.“ Politische Konflikte würden so als | |
Faktenkonflikte gerahmt. | |
Gut beobachten konnte man das in der Ausgabe von „Hart aber Fair“ vom 27. | |
Februar. Dort hatte die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht auf die | |
Thematisierung von Vergewaltigungen in von Russland besetzten Gebieten der | |
Ukraine mit der Aussage reagiert: „Die UN-Menschenrechtskommissarin hat | |
immer wieder darauf hingewiesen, auch in diesem Krieg: Kriegsverbrechen | |
werden von beiden Seiten begangen.“ Moderator Louis Klamroth unterbrach | |
Wagenknecht daraufhin, erklärte, er könne „das so nicht stehen lassen“, u… | |
spielte einen Film ein: Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische | |
Soldaten lägen der UN nicht vor, hieß es dort. Klamroth vollführte einen | |
Live-Faktencheck. | |
In sozialen Medien erhielt er dafür Applaus. Der auf der Webseite der | |
Sendung wie üblich publizierte nachträgliche Faktencheck allerdings | |
entwickelte ein Eigenleben: Zunächst musste eingeräumt werden, dass sich | |
Wagenknechts Aussage auf Kriegsverbrechen im Allgemeinen bezog, der | |
eingespielte Film aber auf Vergewaltigungen. Nachträglich wurden außerdem | |
zwei weitere UN-Berichte ergänzt, denen zufolge nicht nur durch ukrainische | |
Soldaten begangene Verbrechen dokumentiert seien, sondern auch (zwei) Fälle | |
sexualisierter Gewalt. Wagenknecht verbreitete in sozialen Medien einen | |
entsprechenden Ausschnitt des ergänzten Faktenchecks. Den direkt folgenden | |
Satz („Auch in diesem Bericht wird der Großteil der verübten Verbrechen den | |
Russen angelastet“) ließ sie weg. | |
## Kommunikative Begleiterscheinung politischer Konflikte | |
Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin des WDR, man habe zwar im Vorfeld der | |
Sendung von weiteren UN-Berichten gewusst, sich aber zunächst nur auf jenen | |
aus dem Dezember 2022 bezogen. „Einige Zuschauer und auch Sahra Wagenknecht | |
fanden das nicht ausreichend, sie verwiesen auf die Berichte aus dem Juli | |
und September 2022“, so der WDR. Man habe diese daher „der Vollständigkeit | |
halber“ im Faktencheck ergänzt, sei „aber der Auffassung, dass auch diese | |
Berichte die These unseres Films nicht in Frage stellen“. | |
Der Faktencheck, so der WDR, sei „als klärende Ergänzung zu solchen | |
Passagen der Sendung“ gedacht, „in denen sich widersprechende Aussagen zu | |
Fakten gemacht werden“. Nils Kumkar gibt dagegen zu bedenken, dass hinter | |
dem Faktencheck verloren zu gehen drohe, dass mitunter so verschiedene | |
Perspektiven auf eine Sache existierten, „dass diese gar nicht mehr direkt | |
aufeinander beziehbar sind“. Dann werde aneinander vorbeigeredet, wie im | |
Fall der „Hart aber Fair“-Sendung, das ließe sich nicht mit | |
Tatsachenprüfungen wegregulieren. | |
Um das eigentliche Thema – Kriegsverbrechen und sexualisierte Gewalt – ging | |
es in der Debatte kaum mehr. Doch auf Faktenchecks zu verzichten, hätte an | |
dieser Dynamik nichts geändert. Sie sind eine kommunikative | |
Begleiterscheinung politischer Konflikte, nicht ihre Ursache. Ein wirksames | |
Mittel zu ihrer Lösung sind sie aber auch nicht. | |
9 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Nelli Tügel | |
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