# taz.de -- Fachkräftemangel in Deutschland: Frau Bui rettet die deutsche Wurst | |
> Ein Fleischer aus Schmalkalden findet keine Azubis mehr – in Thüringen, | |
> in Deutschland, in Europa. Aber in Vietnam. | |
Bild: Thi Hong Bui, Auszubildende der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkaden GmbH … | |
SCHMALKALDEN taz |Schweinelachs, Rinderhack, Brühwürstchen, Glossar eines | |
deutschen Fleischerlebens, zwischen Schlachtbank und Zerlegung. Ein Leben, | |
in das die zwanzigjährige Thi Hong Bui gerade hineinwächst, genauso wie in | |
den weißen Kittel, der ihr bei jedem Schritt um den schmalen Körper | |
schlackert wie ein lasches Segel. Nicht mehr lang, vielleicht ein paar | |
Monate, und Buis Schultern werden den Kittel vermutlich ausfüllen. Der | |
Körper wächst mit seinen Aufgaben, und Thi Hong Bui wird in den nächsten 35 | |
Monaten Kisten tragen, Schweinehälften zerlegen und Rinderrouladen drehen. | |
Thi Hong Bui wird Fleischerin. Eine Fachkraft, dringend gebraucht auf dem | |
deutschen Arbeitsmarkt. | |
Ein Mittwochmorgen im September. Es ist kurz vor acht, seit zwei Stunden | |
steht Bui an ihrem Platz in der Zerlegehalle der Fleisch- und Wurstwaren | |
Schmalkaden GmbH Thüringen. Einer der größten Schlachter im Umkreis, 400 | |
Angestellte, Spezialist für Thüringer Rostbratwurst und Pasteten. Ein | |
weißer Schlauch aus Hallen, Kühlräumen und Büros. Der Geruch von rohem | |
Fleisch liegt wie eine Decke über der Halle. 12 Grad, die Kälte kriecht | |
sofort in die Knochen. | |
Von Thi Hong Bui ist nicht viel zu sehen. Kittel, Haarnetz, schwarzer | |
Fleece. In der rechten Hand hält Bui ein langes Messer, ein Fleischstück | |
vor sich, groß wie ein Laib Brot. Bui setzt an, Hautstücke lösen sich, | |
weißes Fett in Flocken. Handgriffe eines deutschen Fleischerlebens. Für Bui | |
„gut“. Auch Deutschland findet sie „gut“. Auch wenn sie noch nicht viel… | |
ihrer neuen Heimat gesehen hat. Sie lächelt. Was soll sie auch sagen? Bui | |
ist seit einem Monat in Deutschland, steht täglich acht Stunden in der | |
Kälte und übt einen Beruf aus, den es in ihrer Heimat so nicht gibt. | |
21 Auszubildende arbeiten in der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH | |
Thüringen, 14 von ihnen aus Vietnam. Nächstes Jahr kommen vier weitere. | |
Bui, die beiden Nguyens, die nicht verwandt sind, Pham, Ly und die anderen | |
sind hier, weil sie eine Lücke füllen, die ohne sie immer weiter | |
auseinanderklaffen und irgendwann so groß würde, dass Betriebe wie die | |
Schmalkalden GmbH in ihr versinken. Eine Lücke, die Deutschland jedes Jahr | |
30 Milliarden Euro kostet, so schätzt das Institut der deutschen | |
Wirtschaft. | |
Rund 1,6 Millionen Fachkräfte fehlen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die | |
Wirtschaft ist im Aufschwung. Die Arbeitslosenquote bei 4,9 Prozent, so | |
niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. In Teilen von | |
Baden-Württemberg und Bayern gibt es Vollbeschäftigung. Die Auftragsbücher | |
sind gefüllt. Nur ist keiner da, der die Aufträge ausführen kann. Immer | |
länger dauert es, geeignetes Personal zu finden, immer mehr Stellen bleiben | |
unbesetzt, durchschnittlich 107 Tage lang – 50 Tage länger als vor zehn | |
Jahren. Die Mehrheit der Betriebe sehen im Fachkräftemangel ein Risiko für | |
ihre Wirtschaftlichkeit. Die Folge: Zuerst stauen sich die Aufträge. Dann | |
sinken die Umsätze. Dann zieht die Konkurrenz vorbei. | |
Ein Dreiklang des wirtschaftlichen Niedergangs, den auch Peter Lesser | |
kennt. Lesser ist Geschäftsführer der Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden | |
GmbH Thüringen, der Chef von Bui. An diesem Morgen begrüßt er in seinem | |
Büro, erster Stock, direkt über der Zerlegehalle. Auch hier riecht es nach | |
rohem Fleisch. Ein weißer Fleischerkittel hängt griffbereit über der Lehne. | |
Peter Lesser ist 63 Jahre alt und Wurstfachmann. Fester Händedruck, | |
stämmige Statur, weißes Hemd. | |
Lesser arbeitete schon in dem Betrieb, als dieser noch Eigentum des Staates | |
war, 1990 übernahm er ihn mit drei Kollegen. Gemeinsam machten sie die | |
Firma groß. Mittlerweile beliefert Lesser 41 Fleischtheken im Umkreis: Aldi | |
in Gotha, Rewe in Weimar, Lidl und Norma in Ohrdruf. Im Oktober verkauft | |
Lesser seine Würstchen auf der Wiesn in München. Stolz sind sie auf ihre | |
Wurst in Thüringen, nur herstellen will sie keiner mehr. | |
Peter Lesser seufzt jetzt schwer. Die Alten scheiden aus und die Jungen | |
kommen nicht nach. Das Durchschnittsalter in seinem Betrieb liegt bei 43 | |
Jahren. Früher bewarben sich jedes Jahr fünf bis sieben neue Fleischer bei | |
Lesser. 2011 nur noch drei. „Danach wurde es nicht besser“, sagt er. Lesser | |
verteilte Prospekte und Gratiswürstchen auf Berufsmessen und in Schulen. | |
Ohne Erfolg. | |
Peter Lesser kämpft mit einem wirtschaftlichen Niedergang auf Raten. Bald | |
könnte niemand mehr da sein, der die Tiere in die Schlachtung führt, der | |
den Vertrieb leitet. Niemand, der den Kunden die Wurst verkauft. | |
Fleischer ist neben Restaurantfachmann der unbeliebteste Ausbildungsberuf | |
der deutschen Jugend. Bundesweit bleibt jede dritte Stelle unbesetzt. | |
Zwischen 200 und 900 Euro netto verdient ein angehender Fleischer in seinen | |
Lehrjahren. Das Einstiegsgehalt nach der Ausbildung liegt bei 1.900 Euro | |
brutto. Nicht viel für ein Leben in 12 Grad, zwischen Schweinehälften und | |
Leberwurst. | |
Drei Jahre lang bewarben sich weniger Azubis bei Lesser, als es Lehrstellen | |
gab. 2013 machte er sich daran, die Lücke zu füllen. Mit Auszubildenden aus | |
Vietnam. | |
Ausländische Fachkräfte als Retter des deutschen Handwerks. Kann das | |
funktionieren? Ein Blick nach Schmalkalden zeigt: Ja. Nicht nur in der | |
Thüringer Provinz, in ganz Deutschland. | |
Wenn die politischen Voraussetzungen stimmen und wenn einer wie Peter | |
Lesser da ist. Einer, der ausländische Fachkräfte als das sieht, was sie | |
sind. Die einzige Möglichkeit, den Betrieb am Laufen zu halten. | |
Studien gehen davon aus, dass Deutschland jährlich rund 400.000 Leute aus | |
Nicht-EU-Ländern braucht, damit die deutsche Wirtschaft nicht absackt. Die | |
GIZ, die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, holt gemeinsam mit | |
dem Bundeswirtschaftsministerium junge Vietnamesen als Pflegekräfte nach | |
Deutschland. Die Bundesagentur für Arbeit versucht, Pflegekräfte auf den | |
Philippinen, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu werben. Eine Kooperation | |
mit Tunesien ist geplant. Die Bundesregierung arbeitet an einem neuen | |
Einwanderungsgesetz, das Fachkräften den Weg nach Deutschland erleichtern | |
soll. | |
„Längst überfällig“, sagt Peter Lesser. In seinem Thüringer Bariton | |
schwingt die Gewissheit der Erfahrenen mit. Als die Auszubildenden | |
ausblieben, wandte Lesser sich an Industrie- und Handelskammer, | |
Handwerkskammer, und Landesregierung. Man riet ihm, es doch mal mit | |
Geflüchteten zu versuchen. „Hätt ich ja gern gemacht“, sagt Lesser. Aber | |
was, wenn sie abgeschoben werden? | |
## „Zu wem gehe ich, um eine Jeans ändern zu lassen?“ | |
Für Geflüchtete gilt die 3-plus-2-Regel. Drei Jahre Ausbildung plus zwei | |
Jahre Beschäftigung. Danach liegt es an den Behörden, ob der | |
Aufenthaltsstatus verlängert wird. Für die Betriebe ein enormes Risiko. | |
Ausbildung kostet Geld, Zeit und viele Jahre der Erklärung. Ausgaben, die | |
Betriebe wie der von Lesser nicht investieren, wenn sie nicht wissen, ob es | |
sich auch lohnt. | |
„Und außerdem“, sagt Lesser. Er schaut aus dem Fenster. „Können Sie sich | |
vorstellen, dass hier ein gläubiger Muslim Schweinefleisch verarbeitet“? Er | |
schüttelt den Kopf. | |
Weil er zu Hause niemanden fand, fuhr Lesser auf Berufsmessen in ganz | |
Europa, um seinen Betrieb vorzustellen. Nach Spanien, Rumänien und Polen. | |
Im Kopf die Hoffnung auf neue Fleischer für Thüringen. Motto: Wenn die | |
Auszubildenden nicht zu uns kommen, dann wir zu den Auszubildenden. Reisen, | |
die erfolglos blieben. „Die Spanier waren zu jung für die Sache“, sagt | |
Lesser. Mit 16 oder 17 gehen wenige jahrelang ins Ausland. Und die Rumänen | |
und Polen? Im Sommer arbeiten Hilfskräfte aus ganz Europa in Lessers | |
Fleischerei. Sommer, das ist in Deutschland Grillzeit, und ohne die | |
zusätzlichen Hände aus Osteuropa, würden den Deutschen die Thüringer | |
Rostbratwürstchen bald ausgehen. „Da sind gute Leute dabei“, sagt Lesser. | |
Aber: „Geld verdienen wollen die ja alle, nur eine Ausbildung machen, des | |
will keiner von denen.“ | |
Weil er in Europa nicht fündig wurde, schaute Lesser noch ein bisschen | |
weiter in die Ferne, rund 8.500 Kilometer. Und ein bisschen in die | |
Vergangenheit. In der DDR der 1970 und 80er Jahre arbeiteten vietnamesische | |
Vertragsarbeiter in deutschen Betrieben. Auch in Schmalkalden. | |
Lesser erinnerte sich an die gut geschneiderten Jeans nach westlichem | |
Design und an Strebsamkeit. Beides Dinge, die er schätzt. „Zu wem gehe ich, | |
wenn ich eine Jeans geändert haben will?“, fragt er. „Zum Vietnamesen“. | |
Lesser begann, sich kundig zu machen. Er sprach mit Bekannten über deren | |
Erfahrungen mit den vietnamesischen Kollegen von damals. Was er hörte, | |
gefiel ihm. Keine Probleme mit der Religion, keine mit dem Essen. Hohes | |
Ansehen bei deutschen Kunden. | |
Er las sich ein in die vietnamesische Kultur. Er erfuhr, so erzählt Lesser | |
es, dass Vietnamesen viel für ihr Land täten. Er erfuhr, dass Vietnam eine | |
junge Nation sei. Viele junge Menschen auf der Suche nach Arbeit, auch im | |
Ausland. Peter Lesser beschloss: Das passt. | |
Ein „privater Kontakt“, wie Lesser sagt, fand, was er suchte: drei junge | |
Vietnamesen, die bereit waren, seinem Ruf nach Schmalkalden zu folgen. Ganz | |
reibungslos verlief die Vermittlung nicht. Mittelsmänner hätten die | |
Jugendlichen in Vietnam angesprochen, erzählt Lesser. Später kam heraus: | |
Die Jungs mussten ihre Reise nach Deutschland abbezahlen, mit | |
Wochenendschichten in vietnamesischen Imbissen rund um Schmalkalden. Lesser | |
ist noch immer bestürzt, wenn er davon spricht. „Wir haben das natürlich | |
unterbunden.“ Für ihn ein Grund mehr, endlich gesetzliche Regelungen zu | |
schaffen, die es Betrieben erleichtert, Nachwuchs aus dem Ausland zu | |
werben. | |
Einer der drei, die damals angeworben wurden, ist „der Quan“, wie Van Quan | |
Le von Lesser und Kollegen gerufen wird – man duzt sich bei der Fleisch- | |
und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Im Juli 2014 landete er mit | |
zwei anderen angehenden Fleischern am Flughafen Frankfurt, sein altes Leben | |
in einem Koffer. | |
An diesem Vormittag sitzt er auf einem Drehstuhl im Schlachtereibüro, einem | |
Kabuff mit Schreibtischen und viel Papier. 11.30 Uhr, Zeit für eine Pause. | |
Le, Mitte 20, ist klein und stämmig, vielleicht auch von den letzten vier | |
Jahren im Schlachthof. Sein weißer Kittel ist fleckig braun. Vielleicht | |
Blut, vielleicht Reste vom Wurststopfen. Aus der Halle nebenan dringt das | |
Quieken der Schweine auf dem letzten Gang zur Schlachtbank. | |
## Typisch deutsch: Saubere Luft. Auto fahren. Fußball schauen. | |
Deutschland sei anders gewesen als in seinen Vorstellungen, sagt Le. | |
Ruhiger, aufgeräumter. Le kommt aus Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, | |
Einwohnerzahl: 7,5 Millionen. Wohntürme, Menschenmassen, Smog. | |
Sein Deutsch ist noch etwas holprig, manche Wörter schneidet er ab, andere | |
dehnt er. Ob Le deswegen einsilbig ist oder weil er ein stiller Typ ist, | |
wird nicht ganz klar. Was ihm gut gefällt: die saubere Luft. Was er typisch | |
deutsch findet: Auto fahren und Fußball schauen. Was er vermisst: Nur seine | |
Familie, sagt Le. Und dann: „Okay, und das Essen.“ Für beides hat er eine | |
Lösung gefunden. Skype und einen vietnamesischen Shop in Erfurt, „der | |
liefert ab 200 Euro umsonst.“ Seitdem macht er Sammelbestellungen. | |
In Vietnam hatte Van Quan Le gerade sein Abitur gemacht. Dann kam das | |
Angebot aus Deutschland, und er griff sofort zu. Der Durchschnittslohn in | |
Vietnam liegt bei 160 Euro pro Monat. Im Thüringer Schlachthof verdient Le | |
mittlerweile etwa das Zehnfache. Über seinen Job sagt er: „Es ist gut, was | |
mit den Händen zu machen.“ | |
Seine Abschlussprüfung im vorigen Jahr absolvierte er als Jahrgangsbester. | |
Das erzählt nicht er, das erzählt ein stolzer Peter Lesser. Einmal in der | |
Woche spielt Le Tischtennis in einem Verein. Wenn er freihat, schaut er | |
sich Deutschland an. Bisher war er in Hamburg „sehr schön“, Würzburg, | |
Nürnberg, München und Berlin. Dort haben Verwandte seit den 1980er Jahren | |
einen Blumenladen. | |
Vor acht Monaten ist Le Vater eines Mädchen geworden. Seine Frau kommt | |
ebenfalls aus Vietnam. Gemeinsam wohnen sie in einem großen Zimmer im | |
Lehrlingsheim der Firma. Einem modernen zweistöckigen Flachbau, gleich | |
gegenüber vom Schlachthof. Gemeinschaftsküche mit Reiskochern, | |
Gemeinschaftsbäder, hölzerne Tisch-Schrank-Kombos in den Zimmern. Lesser | |
ließ den Bau 2015 für seine vietnamesischen Auszubildenden herrichten. „Für | |
die Mädchen und Jungen“, wie er seine Auszubildenden nennt. | |
Schaut man sich Les Werdegang an, könnte man sagen, er ist so was wie der | |
Vorzeige-Azubi des Betriebs. Einer, dem man Verantwortung übergibt. Trotz | |
des rumpeligen Starts, trotz der Sprachprobleme. Le wird bei Lesser | |
bleiben. Vielleicht ist deutsche Wurst nicht unbedingt seine Leidenschaft, | |
aber durchaus eine Chance, die er zu nutzen weiß. | |
Das findet auch Peter Lesser. Mittlerweile arbeiten 17 Vietnamesen für die | |
Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. Ginge es nach Lesser, | |
wären es noch viel mehr. 2016 stieg die Industrie- und Handelskammer Suhl | |
in Lessers Projekt ein, die Landesregierung stellt finanzielle | |
Unterstützung und einen organisatorischen Rahmen. Der sieht vor, dass | |
jährlich 40 Auszubildende aus Vietnam nach Thüringen kommen. Die Akquise | |
läuft über eine vietnamesische Unternehmensberatung in Hanoi. Geworben wird | |
in technischen Hochschulen und Colleges. Kommen kann jeder mit einem | |
Schulabschluss und genügend Geld für den Flug. Einzige Voraussetzungen: ein | |
Sprachkurs. Level B2, und eine erfolgreiche Prüfung am Goethe-Institut in | |
Hanoi. Mittlerweile machen 52 junge Vietnamesen eine Ausbildung in der | |
Region. Beim Glaser, in der Gastronomie und im Metallbau. | |
Ein Abkommen zwischen Deutschland und Vietnam sichert den jungen Azubis | |
ihren Aufenthalt. Drei Jahre Ausbildung, mit Option auf Verlängerung, wenn | |
Arbeit vorhanden ist. | |
Das Projekt ist erfolgreich. Im August 2019 kommen die nächsten 40. In | |
diesem Jahr sei die Nachfrage doppelt so hoch gewesen wie das Angebot, | |
schreibt die Handelskammer Suhl in ihrer Broschüre. | |
Nicht nur Peter Lesser hat zu kämpfen mit der Lücke. In Thüringen werden | |
bis zum Jahr 2030 rund 300.000 Fachkräfte fehlen. Lesser erzählt von | |
Betrieben aus der Region, die kurz vor dem Ruin sind, weil sie keinen | |
Nachwuchs mehr finden. Elektriker, Schreiner, Polsterer. „Auslaufmodelle“, | |
sagt Lesser. | |
Schuld an dem Nachwuchsmangel gibt Lesser der deutschen Bildungspolitik, | |
die suggeriere: Uni oder nichts. 2,8 Millionen Studenten sitzen in | |
deutschen Hörsälen, doppelt so viele wie Azubis in Berufsschulen.„Die | |
Jugend hat keinen Kontakt mehr zum Handwerk“, sagt Lesser. Nicht in der | |
Schule, nicht im Elternhaus. Das Schnitzel komme aus der Packung, das | |
Wasser aus dem Hahn und der Strom aus der Steckdose. „Niemand weiß ja mehr, | |
wie das funktioniert!“ Lesser ist jetzt sichtlich angefressen von dem | |
Niedergang seines Standes. Er redet sich ein bisschen in Rage. Das | |
Schnitzel, das müsse dann auch noch unter 1,99 Euro kosten, sagt er. Da sei | |
es ja kein Wunder, dass man den Angestellten keine 20 Euro pro Stunde | |
zahlen könne. Lesser atmet aus. Seinen Auszubildenden bezahlt er 800 im | |
Monat. Egal ob aus Deutschland oder Vietnam. Woanders gibt es weniger. | |
Im nächsten Jahr bekommt Lesser vier neue Azubis dazu, alle aus Vietnam. | |
Vier neue Azubis für Jens Ulrich, 53 Jahre alt, seit 1988 Ausbilder bei der | |
Fleisch- und Wurstwaren Schmalkalden GmbH Thüringen. An diesem Vormittag | |
steht Ulrich neben Thi Hong Bui, der jungen Frau in dem zu großen Kittel, | |
in der Zerlegehalle. Ulrich, ein Mann mit Schnauzer und Halbglatze, | |
überragt Bui um gefühlt einen Meter, auch im Umfang. Am Nebentisch | |
schneidet ein Kollege Schweineohren zurecht. Fast allen hier hat Ulrich das | |
Handwerk beigebracht. Braten machen, Därme bestimmen, Wurst stopfen. Ob | |
deutsch oder vietnamesisch, egal, sagt Ulrich. „Manche sind fit, manche | |
brauchen einen kleinen Stoß.“ | |
Er besieht sich Buis Tagewerk. Rosafarbene Fleischbrocken in roten Kisten. | |
„Was machst du heute?“, fragt Ulrich. So knapp und deutlich, wie es geht. | |
„Schultern“, sagt Bui. | |
„Und später?“ | |
„Rouladen.“ | |
Ulrich nickt. Die Schulter sehe gut aus, sagt er. Schön sauber. Kein Fett, | |
keine Sehnen. | |
Es war Jens Ulrich, der Van Quan Le den ersten Eindruck von Deutschland | |
vermittelte. 2014 nahm er die drei jungen Vietnamesen bei sich zu Hause | |
auf, damals hatte der Schlachthof noch kein eigenes Lehrlingsheim. Ulrichs | |
Söhne waren gerade bei ihm ausgezogen, und der Hof wurde ihm zu groß. | |
Vietnamesisch hat Ulrich in dieser Zeit nicht gelernt. Kein Hallo, kein | |
Tschüss. Auch bei der Küche hält er es lieber „altdeutsch“, wie er sagt. | |
Eins sei ihm aber in der Zeit klar geworden, sagt Ulrich. | |
Reis sei nicht gleich Reis. | |
Eines Abends sei ein Auto auf seinen Hof gefahren, erinnert sich Ulrich, | |
Bremer Kennzeichen. „Ich dachte noch: Wat will der Typ hier“. Im Kofferraum | |
lagerten drei Kilo Reis aus Vietnam. Eine Bestellung von Van Quan Le. | |
Ulrich baute seinem Mitbewohner eine Speisekammer. | |
Später wird Ulrich sagen, dass es wichtig sei, dass die Auszubildenden sich | |
zu Hause fühlen in Schmalkaden. „Wir wollen ja, dass die bleiben.“ | |
Das Gleiche sagt auch der Vertreter der Handelskammer. In dem | |
Vietnam-Projekt ist eine Sozialpädagogin eingebunden, ebenfalls aus | |
Vietnam. Sie hilft bei der Eröffnung von Bankkonten und tröstet bei | |
Heimweh. Wer in einen Tischtennis-Verein will, den meldet sie an, sie | |
organisiert Ausflüge in die Umgebung. Ein Vertreter der IHK Suhl nennt | |
diese Form der Betreuung in einem Gespräch „Klebepunkte“. Ein anderes Wort | |
wäre vielleicht: Verbundenheit. | |
Peter Lesser hat in den letzten Jahren viele Anrufe bekommen, Betriebe aus | |
ganz Deutschland wollten wissen, wie das geht mit den Fachkräften von | |
außerhalb. In Sachsen gibt es mittlerweile zwei Projekte, die Auszubildende | |
aus Vietnam nach Deutschland holen. Ein Gastronom aus Sachsen-Anhalt | |
vermittelt Azubis aus Indonesien. Wie viele dieser Programme es in ganz | |
Deutschland gibt, ist nicht erfasst. Die Deutsche Industrie- und | |
Handelskammer hat keine Zahlen dazu. Auch die Agentur für Arbeit nicht. | |
2020 könnten vorerst die letzten Auszubildenden nach Schmalkalden kommen. | |
Die öffentliche Förderung für das Projekt läuft aus. Ob es danach | |
weitergehe, das müsste man evaluieren, heißt es aus der Landesregierung | |
Thüringen. Ausschlaggebend sei auch, ob weiterhin Bedarf bei den | |
Unternehmen bestehe. | |
Thi Hong Bui sitzt in ihrer Mittagspause in der Kantine. 12 Uhr, | |
„Mahlzeit!“, ruft es von allen Seiten. Auch hier, alles weiß: die Stühle, | |
die Tische, die Kittel der Kollegen. Statt Wurst isst Bui Glasnudeln aus | |
einer Tupperbox mit Stäbchen. Sie erzählt, dass sie bald einen Karatekurs | |
besucht und irgendwann mal nach Spanien reisen will. Ob sie nach ihrer | |
Ausbildung in Deutschland bleibt? | |
Sie weiß es noch nicht. | |
9 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Gesa Steeger | |
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