# taz.de -- Essayfilm „Der nackte König“ online: Die Substanz der Revolte | |
> Was haben Ayatollah Khomeini und Lech Wałęsa gemein? Der schweizer | |
> Essayfilm „Der nackte König“ sucht „Fragmente der Revolution“. | |
Bild: Das Recht auf Gewerkschaftsgründung erstritten: Streikführer Lech Wales… | |
Ende der 1970er Jahre gelangt der Schweizer Andreas Hoessli mit einem | |
Promotionsstipendium nach Polen. Das Land gehört zu dieser Zeit dem | |
Warschauer Pakt an und wird staatssozialistisch regiert. Hoessli freundet | |
sich mit Menschen an, die sich für die Demokratiebewegung einsetzen. In | |
Polen haben sich nach der Niederschlagung der Streikbewegung von 1970 | |
Arbeiter und Intellektuelle in geheimen Komitees zusammengeschlossen. | |
Hoessli, Osteuropaexperte und Journalist aus Zürich, wird einige von ihnen | |
kennenlernen. Tief beeindruckt zeigt er sich auch in seinem aktuellen | |
Dokumentarfilm von einem Treffen mit der polnischen Journalistenlegende | |
Ryszard Kapuściński. Dieser wurde als Reporter der polnischen Presseagentur | |
PAP weltberühmt. | |
„Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens, der Mensch schüttelt die Angst | |
ab und fühlt sich frei“, zitiert Hoessli Kapuściński. Und ernennt ihn damit | |
zum Spiritus Rector seines Essayfilms „Der nackte König“. Dank Kapuścińs… | |
verknüpft Hoessli auch die polnische Geschichte mit der iranischen. Als | |
sich im Nahen Osten Ende der 1970er Jahre ein Aufstand abzeichnete, reiste | |
der polnische Journalist hin und berichtete fasziniert. | |
Milde spricht der 2019 verstorbene Bruno Ganz noch aus dem Off Hoesslis | |
Textspur, die die Bilder scheinbar so disparater Ereignisse miteinander | |
verbindet. Man könnte hier von einer produktiven subjektiven Willkür | |
sprechen. Jedenfalls sind die dokumentarischen Ausgrabungen aus den | |
Bildarchiven beeindruckend und beim Abgleich zeitlicher Nähe (1979/80) und | |
großer räumlicher Distanz (Europa/Naher Osten) von eigentümlicher | |
Melancholie. | |
Ein wenig erinnern sie in der Methode an [1][den ausgezeichneten Essayfilm | |
von João Moreira Salles]. Der hatte 2017 für „In the Intense Now“ private | |
Biografie aus Brasilien mit Maos Kulturrevolution, dem Prager Frühling und | |
Pariser Mai von 1968 verknüpft. | |
## Große Entschlossenheit und Anspannung | |
Die Ernsthaftigkeit und Ruhe, die die polnischen Arbeiter in den | |
historischen Aufnahmen in Hoesslis Film an den Tag legen, vermitteln den | |
Eindruck großer Entschlossenheit und Anspannung. Sie zeigen, wie Abgesandte | |
des kommunistischen Regimes 1980 in die besetzte Danziger Lenin-Werft | |
kommen, um mit denen zu verhandeln, deren Vertreter sie qua Dogma ja | |
bereits waren. | |
Insbesondere die dokumentarischen Aufnahmen des Kameramanns Jacek Petrycki, | |
auf die Hoessli für seinen Film zurückgreifen kann, erweisen sich als | |
wahrer cineastischer Schatz. Petrycki arbeitete für das | |
Dokumentarfilmstudio WfiF in Warschau. Später engagierten ihn Krzysztof | |
Kieślowski oder Agnieszka Holland für ihre Filme. | |
Seine Schwarz-Weiß-Sequenzen vom Streik auf der Danziger Lenin-Werft, dem | |
sich 600 weitere Betriebe in Polen angeschlossen hatten, sind von | |
außergewöhnlicher Dramatik. Sie dokumentieren in eigentümlicher Nähe und | |
Ernsthaftigkeit, unpathetisch und voller Respekt eine Menge bis dahin | |
zumeist namenloser, doch mutiger Individuen, die Weltgeschichte schreiben | |
sollten. | |
Der schlanke und verschmitzt lächelnde schnauzbärtige Elektriker Lech | |
Wałęsa wird von seinen Kollegen auf den Schultern getragen. Im Moment des | |
Triumphs sagt er: „Wir kämpfen nicht für uns, wir kämpfen für das ganze | |
Land.“ Einfache, beherrscht gesprochen Worte, die für den Moment alle | |
verstanden. Der Herrschaftsanspruch der KP war gekippt, auch wenn die | |
Gewerkschaftsbewegung Solidarność bald in den Untergrund gezwungen wurde. | |
Das Ende des Sowjetimperiums nahte. | |
## Damalige Beschatter aufgesucht | |
„Figurant Hassan“ – als solcher wurde Hoessli, der heutige Filmemacher, v… | |
den Diensten in Polen in den Akten geführt und beobachtet. Hoessli hat | |
seine damaligen Beschatter aufgesucht und für „Der nackte König“ | |
interviewt. Die früheren Zeitereignisse so in die Gegenwart zu führen, | |
scheint dramaturgisch naheliegend. Doch die früheren Agenten des | |
Staatssozialismus geben immer noch wenig preis. Auch scheint es nach | |
1989/90 für viele von ihnen gut gelaufen. | |
Bleibt noch als kleiner Coup ein aktuell geführtes Interview mit dem | |
Solidarność-Aktivisten Józef Pinior. Die Dienste filmten Pinior nach dessen | |
Verhaftung heimlich bei den Verhören, gespenstisch, fast theatral | |
anmutendes Material, das Hoessli ebenfalls in seinen Film einarbeiten kann. | |
Aber machen wir nun einen Sprung in den Iran. Auch hier hat der Schweizer | |
Filmer Hoessli faszinierende historische Bildaufnahmen gefunden. Sie zeigen | |
den Schah-in-Schah in glitzernden, heute leicht verblichen wirkenden | |
Farbaufnahmen bei dessen Selbstkrönung. Bei öffentlichen Inszenierungen, | |
die aus heutiger Perspektive antik erscheinen, aber durchaus an das Niveau | |
eines Spielfilm-Klassikers wie „Ben Hur“ heranreichen. | |
Auch die kultisch wirkenden Szenen von den Anti-Schah-Protesten auf den | |
Straßen Teherans 1978 und der Massenauflauf bei der Rückkehr des | |
mittelalterlich gekleideten Mannes aus Paris 1979 hat man so kaum gesehen. | |
## Vom Sockel geholte einstige Journalistenikone | |
Doch bleibt die Verbindung zu den Ereignissen in Polen rätselhaft. Ebenso | |
die politische Haltung Kapuścińskis in seiner historischen Iranreportage. | |
Wie hat die heute umstrittene und vom Sockel geholte einstige | |
Journalistenikone die iranische Revolution einst gedeutet und beschrieben? | |
Und was hat Hoessli selber damals gedacht? | |
„Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens, der Mensch schüttelt die Angst | |
ab und fühlt sich frei.“ Gilt der leitmotivische Satz Kapuścińskis für | |
rechtsextreme Islamisten gleichermaßen wie für demokratische | |
Oppositionelle? Linke wie Rechte waren 1978/79 im Iran auf den Straßen. | |
Doch das eine Lager unterdrückt seit Sturz des Schahs das andere bis heute. | |
„Der nackte König“ stößt hier deutlich an Grenzen. | |
Historische Kameraaufnahmen zeigen 1979 einen Mann an Chomeinis Seite. | |
Hoessli macht ihn ausfindig und interviewt ihn heute. Doch der Mann, der im | |
Film relativ harmlos und ein wenig folkloristisch als „Chauffeur“ Chomeinis | |
firmiert, ist in Wirklichkeit ein hochgradig kriminelles Subjekt, ein Boss | |
der iranischen Revolutionsgarden. Aufgrund der Umstände am Drehort Iran | |
muss das undeutlich bleiben. | |
Aber geziemt es sich, mit solch amtierenden Schwerverbrechern zu ihren | |
Bedingungen zu sprechen? Unscharf bleiben zudem die weiteren aktuellen | |
Interviews aus Iran, auch die mit Personen aus der iranischen | |
Zivilgesellschaft (Parviz Rafie, Amir Hassan Cheheltan, Negar Tahsili). | |
Hoessli setzt sich mit Bruno Ganz’ Stimme aus dem Off bei den eingefangenen | |
Alltagsszenen aus Teheran zwar deutlich von der Regime-Propaganda ab. Doch | |
bleibt „Der nackte König“ insgesamt einiges schuldig. Es fehlt die | |
einordnende Erzählspur, die die Ereignisse von 1979/80, Iran und Polen, | |
über eine klare subjektive Haltung analytisch miteinander verbindet. Die | |
offene Selbsthinterfragung des Filmers und die seines Gewährsmanns | |
Kapuściński wäre eine solche vielleicht gewesen. So fehlen dieser großen | |
Bildrecherche letztlich Haltung und essayistische Pointe. | |
11 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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