# taz.de -- Eskalation in Nahost: Israel muss Irans Volk schonen | |
> Bisher hat Israel im Kampf gegen seine Feinde wenig Rücksicht aufs | |
> humanitäre Völkerrecht gezeigt. Im Iran wäre das ein strategischer | |
> Fehler. | |
Bild: Nobonyad-Platz, Teheran, Iran, 13. Juni: Menschen stehen vor einem zerst�… | |
Irans sogenannte Achse des Widerstands – das Netzwerk aus israelfeindlichen | |
Milizen vom Jemen bis nach Gaza – wurde oft als eine Art Oktopus | |
beschrieben. Demnach seien Hamas, Hisbollah und Huthi seine schlagkräftigen | |
Tentakel. Der Kopf ist der Iran selbst: Seit ihrer Machtergreifung 1979 | |
drohen das Mullah-Regime und sein militärischer Arm, die Revolutionsgarden, | |
Israel auszulöschen. Und finanzieren zu diesem Zweck Terrorbanden in der | |
gesamten Region. | |
Nach dem [1][Überfall der Hamas am 7. Oktober] hat sich Israels Führung vor | |
allem darauf konzentriert, die Tentakel abzuschlagen, mit allen verfügbaren | |
Mitteln und ohne Rücksicht aufs humanitäre Völkerrecht: von gezielten | |
Tötungen bis hin zu Flächenbombardements und dem [2][Aushungern einer | |
ganzen Bevölkerung in Gaza.] | |
Mit welchem Ziel, das wurde selbst für Israels Verbündete zuletzt immer | |
fragwürdiger. Wenn es Israel wirklich um Selbstverteidigung geht, dann ist | |
der Schritt, die Islamische Republik anzugreifen, immerhin folgerichtig – | |
und vielleicht sogar längst überfällig. Denn solange der Oktopus seinen | |
Kopf behält, wachsen die Tentakel nach. | |
Iran ist der entscheidende Faktor für Israels Sicherheit und die Stabilität | |
der ganzen Region. Mit einer anderen Führung könnte sich Iran vom | |
bedrohlichsten Feind zum wichtigsten Verbündeten entwickeln. Benjamin | |
Netanjahu weiß das und sehr wahrscheinlich spekuliert er auch darauf – das | |
iranische Atomprogramm war für den Militärschlag gegen den Iran insofern | |
nur ein willkommener Vorwand. | |
Seit Jahren hat Israel diese Militäroperation vorbereitet: zuerst gezielte | |
Luftschläge auf Irans Nuklearanlagen, dann auf die Privatwohnungen von | |
[3][mehreren hochrangigen Regime-Mitgliedern, darunter Hossein Salami], der | |
Chef der iranischen Revolutionsgarden, und Mohammed Bagheri, Irans | |
Armeechef. Jetzt, wo die Elite der Islamischen Republik dezimiert ist, | |
folgen seit Samstag die nächsten Angriffe, diesmal auf die strategische | |
Infrastruktur des Landes: Militärbasen, Gasanlagen, Ölraffinerien. | |
Netanjahu weiß aber auch, dass ein nachhaltiger Regimewechsel ohne die | |
iranische Bevölkerung nicht gelingen wird. Am Samstag wandte er sich in | |
einer Videoansprache deshalb direkt an das „stolze iranische Volk“: „Das | |
ist eure Gelegenheit, um euch zu erheben und euren Stimmen Verhör zu | |
verschaffen: [4][Frauen, Leben, Freiheit]. Unser Kampf gilt nicht euch, den | |
tapferen Menschen Irans, die ich respektiere und bewundere. Unser Kampf | |
gilt einem mörderischen Regime, das euch unterdrückt und verarmen lässt.“ | |
Das klingt nicht nach den verdeckten Erpressungen, die Netanjahu im | |
vergangenen Jahr an die libanesische Bevölkerung gerichtet hat („Sie haben | |
die Möglichkeit, den Libanon zu retten, bevor er in den Abgrund eines | |
langen Krieges stürzt“). Daneben hatte Natanjahu sich im vergangenen Jahr | |
auch mehrmals an die iranische Bevölkerung gewendet, sprach von Freiheit | |
und von der Vision einer gemeinsamen Zukunft: „Zwei alte Völker, das | |
jüdische und das persische, werden endlich im Frieden sein. (…) Israel | |
steht hinter euch.“ | |
Tatsächlich ist die Haltung der Iraner gegenüber Israel ambivalent. Laut | |
Einschätzungen von Experten wie Ali Fathollah-Nejad steht nur noch eine | |
kleine Minderheit – etwa 15 Prozent der Bevölkerung – hinter dem Regime. | |
Zwar hegen viele die Hoffnung auf einen Sturz der Mullahs, doch nur wenige | |
wollen dafür einen großen Krieg in Kauf nehmen. | |
Die Freude über den Tod der eigenen Henker täuscht die demokratischen | |
Gruppen der iranischen Opposition jedoch nicht darüber hinweg, dass | |
militärische Mittel allein ihre Probleme nicht lösen werden. Im Gegenteil: | |
Viele befürchten, dass das Regime jetzt noch brutaler gegen Dissidenten | |
vorgehen wird. „Jedes Mal, wenn das Regime außenpolitisch unter Druck | |
gerät, rächt es sich an der eigenen Bevölkerung“, sagt die | |
deutsch-iranische Autorin Daniela Sepehri. Schon 2024 erreichte die Zahl | |
der Todesstrafen im Iran ein Rekordhoch, fast tausend Menschen wurden | |
hingerichtet. | |
Auch inwieweit das iranische Atomprogramm durch die Luftschläge effektiv | |
gestoppt werden kann, ist fraglich, denn die meisten Anlagen liegen tief | |
unter der Erdoberfläche. | |
Vor allem in Hinblick auf die Rolle Israels ist die Meinung gespalten: Nur | |
eine Minderheit – insbesondere die Monarchisten, Anhänger des Sohnes des | |
gestürzten Schahs Reza Pahlavi – bekunden offen ihre Sympathie für Israel. | |
Sie gründet vor allem auf der Logik, wonach der Feind des Feindes zum | |
Freund wird. Und auch auf der Hoffnung, im Falle eines Sturzes des Regimes | |
mit Israels und Amerikas Gnaden ein künftiges Iran regieren zu dürfen. | |
Mit jedem zivilen Opfer dürfte die Abneigung gegenüber der israelischen | |
Seite größer werden. Schon jetzt starben mehrere Zivilisten. Eine von ihnen | |
war Parnia Abbasi, eine junge Dichterin, die sich zuvor öffentlich ohne | |
obligatorisches Kopftuch gezeigt hatte – ein Akt des Protests gegen die | |
klerikalen Machthaber. In den sozialen Medien kommentierten Nutzer: „Was | |
unser Regime nicht geschafft hat, bringt Israel jetzt zu Ende.“ Ein | |
Ausdruck des Gefühls, zwei Feinden gleichzeitig ausgesetzt zu sein. | |
Manche bekunden in den sozialen Medien Bewunderung für die Präzision der | |
israelischen Luftschläge: „In meiner Nachbarschaft wurde die Wohnung eines | |
Nuklearphysikers getroffen. Keine weiteren Häuser wurden beschädigt“, | |
berichtet eine junge Frau aus Teheran. | |
Die Wut richtet sich vor allem gegen die eigenen Machthaber. Eine | |
Vereinigung von Angehörigen getöteter Demonstranten schreibt: „Hol dich der | |
Teufel, Islamische Republik! Du hast nichts als Tod und Zerstörung über uns | |
gebracht!“ Und ein Nutzer auf Instagram schreibt: „Wir hatten genügend | |
Zeit, unsere Probleme zu lösen. Wir haben es nicht getan.“ | |
Doch dieser Tonfall kann sich schnell ändern. Die Iraner sind, wie der | |
israelische Premier richtig feststellte, ein altes und stolzes Volk. Auch | |
im Iran ist der Rally-around-the-Flag-Effekt also entsprechend stark: Steht | |
das eigene Land unter Beschuss, überwiegt Patriotismus vor dem Wunsch nach | |
Demokratie. „Ein heimischer Unterdrücker ist uns lieber als ein | |
ausländischer Aggressor. Wir Iraner müssen unsere Probleme selbst lösen“, | |
sagt eine Journalistin, die für das iranische Staatsfernsehen arbeitet. | |
Angesichts der Brutalität, mit der Israel „palästinensische Kinder | |
massakriert“, habe sie kein Vertrauen, dass sich Israels Regierung | |
plötzlich für iranische Menschenleben interessiere. | |
So ähnlich äußern sich gerade viele Iraner. Der Wunsch nach Freiheit ist | |
da, aber die Vorstellung, dass man durch einen fremden Staat „befreit“ | |
wird, lehnen große Teile der Bevölkerung ab. Diese Ablehnung wird nur noch | |
größer, je rücksichtsloser Israel vorgeht. Am Samstag drohte der | |
israelische Verteidigungsminister: „Wenn weiterhin Raketen auf Israel | |
fliegen, wird Teheran brennen.“ Am Sonntag folgten großräumige Luftschläge | |
mitten in Teheran. | |
Wenn Israels Regierung Weitsicht hat, muss sie genau davon Abstand nehmen | |
und iranische Zivilisten, soweit es geht, schonen. Der Oberste Führer Ali | |
Chamenei hat, nach der Tötung zentraler Regime-Figuren, die vakanten | |
Stellen schnell neu besetzt. Wenn aber weitere hochrangige Entscheider, | |
wenn etwa sogar Chamenei selbst der militärischen Eskalation zwischen | |
Israel und Iran zum Opfer fallen sollte, dann scheint alles denkbar: von | |
systemsprengenden Rochaden innerhalb des Regimes bis zu seinem endgültigen | |
Sturz. | |
Dann wäre die Unterstützung der Bevölkerung entscheidend für einen neuen | |
Iran, der keine Rache, sondern die friedliche Zusammenarbeit mit Israel | |
sucht. Dafür muss Netanjahu aber erst mal zeigen, dass es er es mit dem | |
Satz „Israel steht hinter euch“ ernst meint – wenn auch nur aus | |
Eigeninteresse. | |
15 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Kourosh Ardestani | |
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