| # taz.de -- Entschädigung für Holocaustopfer: Salo Muller gegen die Deutsche … | |
| > Seine Eltern wurden von der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert. Deshalb | |
| > fordert der Niederländer Salo Muller Entschädigungen von der Deutschen | |
| > Bahn. | |
| Bild: Zugfahrt in den Tod: Die erste Deportation von Juden auf dem Bahnhof in B… | |
| Hamburg taz | Salo Muller war sechs Jahre alt, als er seine Eltern zum | |
| letzten Mal sah. Er stand vor der Bühne eines Amsterdamer Theaters, auf der | |
| seine Mutter und sein Vater sich zwischen anderen jüdischen Gefangenen | |
| drängten. Muller sagt, er habe zu ihnen gewollt, habe gerufen und geweint, | |
| aber nicht gedurft. | |
| Dann wurden seine Eltern deportiert, erst in den Zügen der Niederländischen | |
| Staatsbahn, ab der deutschen Grenze mit der Reichsbahn. Die Zugfahrten | |
| mussten sie selbst zahlen. Einige Monate später, Anfang 1943, wurden sie in | |
| Auschwitz von SS-Wachmännern ermordet. Sie sind zwei von mehr als 100.000 | |
| niederländischen Jüdinnen und Juden, die in Konzentrationslager deportiert | |
| wurden. | |
| Mehr als acht Jahrzehnte später, an einem Sonntag im Januar, sitzt Muller | |
| tief versunken in einem Kinositz und schaut auf die Bühne des Hamburger | |
| Centralkomitees, eigentlich ein Veranstaltungsort für politisches Kabarett. | |
| Heute hat das [1][Auschwitz-Komitee hier eine Veranstaltung] organisiert. | |
| Muller trägt eine braune Hornbrille, Anzug und Krawatte, seine Hände liegen | |
| gefaltet im Schoß. Der 87-Jährige sieht ganz und gar nicht aus, wie man | |
| sich einen Aktivisten vorstellt. Doch gleich wird er sich aus seinem Sitz | |
| aufraffen, die Stufen zur Bühne hochsteigen und mit aktivistischer | |
| Entschlossenheit fordern, wofür er seit Jahren kämpft: | |
| Entschädigungszahlungen von der Deutschen Bahn. | |
| ## Die meisten Opfer werden nicht mehr erreicht | |
| Es wäre Mullers zweiter großer Sieg: 2019 hat er die Niederländische | |
| Staatsbahn dazu bewegt, 50 Millionen Euro Entschädigung an insgesamt 7.000 | |
| Opfer und Hinterbliebene zu zahlen. Deshalb nimmt er jetzt noch mal in | |
| Deutschland Anlauf, gemeinsam mit dem Hamburger Anwalt Martin Klingner. | |
| Der wirkt genau so entschlossen wie sein Klient. Er sitzt an diesem Sonntag | |
| neben Muller auf der Bühne und sagt: „Wir sehen einen klaren Anspruch, den | |
| Salo und andere Überlebende haben.“ Können sie damit erfolgreich sein? | |
| Klingner weiß: Viel Zeit bleibt nicht mehr. Muller gehört zur letzten | |
| Generation Überlebender der NS-Verbrechen. Die meisten Opfer kann eine | |
| materielle Entschädigung nicht mehr erreichen. Das weiß auch die | |
| Bundesregierung. | |
| Der Historiker Prof. Constantin Goschler von der Universität Bochum forscht | |
| zu Wiedergutmachungspolitik und beobachtet, dass die Regierung | |
| Entschädigungszahlungen fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges | |
| beenden will. „Das Ende hängt damit zusammen, dass die letzten Überlebenden | |
| sterben“, sagt er. | |
| ## Wer trägt die Verantwortung? | |
| Entschädigungszahlungen seien für die Generation der Überlebenden angedacht | |
| gewesen. Das zeige sich schon an der Stiftung „Erinnern, Verantwortung, | |
| Zukunft“ (EVZ) der Bundesregierung, die in den 2000er Jahren für die | |
| Verteilung von Geldern an ehemalige NS-Zwangsarbeiter*innen zuständig war. | |
| Mittlerweile kümmert sie sich vor allem um erinnerungskulturelle Projekte. | |
| Dem gegenüber stehe eine andere Entwicklung, sagt der Historiker: | |
| Mittlerweile fordern auch Kinder und andere Hinterbliebene von | |
| Holocaust-Opfern Entschädigung. Zu der Frage, ob Muller mit seiner | |
| Forderung erfolgreich sein kann, gehört also auch: Wer muss 80 Jahre nach | |
| dem Zweiten Weltkrieg überhaupt noch entschädigt werden? Und wer trägt die | |
| Verantwortung? | |
| Vier Tage vor der Veranstaltung im Centralkomitee, im Videotelefonat von | |
| Hamburg nach Amsterdam. Mit dabei: Salo Muller, sein Anwalt Klingner und | |
| ein Dolmetscher, der zwischen Niederländisch und Deutsch vermittelt. | |
| Muller schaut in seine Webcam und antwortet ohne Zögern auf die Frage, | |
| warum er auf die Entschädigungszahlungen pocht: „Ich will Gerechtigkeit.“ | |
| Und er sagt einen Satz, mit dem er immer wieder zitiert wird: „Wenn man es | |
| ernst meint mit der Entschuldigung, dann muss man zahlen.“ | |
| Erinnerungskultur alleine reiche nicht. Deshalb schreibt Muller seit Jahren | |
| Briefe an Bahnvorstände und Abgeordnete, tritt öffentlich auf. | |
| ## „Bis heute Abend“ – doch er sah sie nie wieder | |
| Muller findet nicht, dass er deshalb ein Aktivist ist. Er würde sich ja | |
| nirgendwo festkleben, sagt er und wirkt in seinem kleinen Zoom-Fenster fast | |
| etwas beleidigt. Was er aber tut: nicht lockerlassen. Im Telefonat sagt er: | |
| „Wenn jemand sagt, dass etwas vielleicht möglich ist, dann höre ich ein | |
| Ja.“ Das Gleiche sagt er auch vier Tage später auf der Hamburger Bühne. Und | |
| seine Tochter sagt über ihn am Rande der Veranstaltung: „Mein Vater hat | |
| damit schon viel erreicht.“ | |
| Zur Geschichte des 87-jährigen Zeitzeugen, der nicht lockerlässt, gehört | |
| auch die Geschichte des sechsjährigen Kindes, dessen Eltern in Auschwitz | |
| vergast wurden. Das selbst nur überlebte, weil es zwei Jahre lang versteckt | |
| gehalten wurde. Deshalb erzählt Muller sie immer wieder, erst im | |
| Videointerview und dann vor Publikum auf der Veranstaltung des | |
| Auschwitz-Komitees. Sie beginnt am 27. November 1942 und geht so: | |
| Mullers Mutter brachte ihn an diesem Morgen zu Schule. „Bis heute Abend und | |
| sei brav“, soll sie zum Abschied gesagt haben, aber nie wiedergekommen | |
| sein. Während seine Eltern erst nach Westerbork und neun Wochen später nach | |
| Auschwitz deportiert wurden, kam Mullers erste von insgesamt neun | |
| Rettungen. | |
| Ein niederländischer Unternehmer aus dem Widerstand versteckte den | |
| jüdischen Jungen über zweieinhalb Jahre immer wieder bei neuen Familien. | |
| Bis dort jemand Angst bekam, gewarnt oder verdächtigt wurde. Auf einem Hof | |
| in Groningen sei es besonders schlimm gewesen. Einmal die Woche seien | |
| deutsche Soldaten gekommen, um sich „mit den Frauen des Ortes zu | |
| vergnügen“, wie Muller erzählt. Er musste sich unter dem Dielenboden | |
| verstecken. Zwölf Stunden lang habe er da jeden Samstag gelegen, im Dunkeln | |
| zwischen Mäusen und Ratten. | |
| ## Mit dem Zug fuhr er fast nie | |
| Während Muller auf der Bühne erzählt, ist seine Stimme ruhig und laut, der | |
| Saal ist leise. Die Moderatorin will in die Pause überleiten, aber Muller | |
| will nicht aufhören. „Fünf bis zehn Minuten haben Sie noch“, sagt sie. | |
| „Okay, dann zehn“, sagt Muller und redet weiter. | |
| Sein letztes Versteck war bei einem älteren Ehepaar. Sie seien wie | |
| Großeltern gewesen, sagt Muller. Seine Tante hingegen, die ihn dort nach | |
| Kriegsende wieder abholte und mit zu sich nach Hause nahm, sei ihm fremd | |
| geworden. Er konnte nur noch Flämisch sprechen, hatte Ekzeme und Asthma. Er | |
| sei kein einfaches Kind gewesen, sagt Salo Muller. | |
| Nach einer schwierigen Schulzeit machte er eine Ausbildung und wurde | |
| Physiotherapeut beim Fußballclub Ajax Amsterdam. Der sei ein bisschen so | |
| wie der Hamburger Verein FC. St. Pauli, nur besser, sagt Muller. Er lernte | |
| seine Frau kennen, bekam Kinder, machte irgendwann eine eigene Praxis für | |
| Physiotherapie auf. Mit dem Zug fuhr er sein ganzes Leben lang nur, wenn er | |
| unbedingt musste. | |
| Seine Kindheit im Versteck, der Mord an seinen Eltern war nie etwas, das | |
| Muller verschwieg. „Wir Kinder sind aufgewachsen mit den Geschichten | |
| unserer Eltern und mit ihrem Schmerz“, sagt Mullers Tochter. Öffentlich | |
| über seine Geschichte sprechen, Konsequenzen fordern, damit hat Muller aber | |
| erst später in seinem Leben angefangen. | |
| ## Angst vor dem Imageschaden | |
| Sein politischer Kampf beginnt vor neun Jahren, beim Zeitunglesen. Im | |
| Dezember 2014 liest Muller, dass die französische Bahn überlebenden Juden* | |
| und Jüdinnen und ihren Nachkommen in den USA eine Entschädigungssumme | |
| zahlen wird. Insgesamt 60 Millionen Dollar sollen sie erhalten. Und Muller | |
| findet: Das steht auch ihm zu. | |
| Deshalb schreibt er einen Brief an die Direktion der Niederländischen | |
| Staatsbahn, bring das Thema in eine Nachrichtensendung, nimmt immer wieder | |
| Gespräche mit der Bahn auf. Dann holt er sich eine Anwältin, Liesbeth | |
| Zegveld, und droht mit einer Klage. Im Sommer 2019 willigt die Staatsbahn | |
| schließlich ein, bis zu 50 Millionen Euro an Deportationsopfer und | |
| Hinterbliebene zu zahlen. | |
| Die Bahndirektion habe Muller daraufhin zu sich eingeladen. „Sie hatten | |
| recht, Herr Muller. Wir werden zahlen“, soll sie gesagt haben. Und Muller | |
| habe es nicht fassen können. „Ich habe angefangen zu weinen“, erinnert er | |
| sich im Videotelefonat. „Die wollten nicht gegen einen | |
| Holocaust-Überlebenden vor Gericht stehen. Deshalb sind sie eingeknickt.“ | |
| Der Imageschaden wäre für die Bahn zu hoch gewesen. | |
| [2][Nach dem Erfolg] seien ihm Hunderte E-Mails zugeschickt worden, viele | |
| von Nachkommen niederländischer Holocaust-Opfer, die sich bedankten. | |
| Dutzende Zeitungen haben über ihn berichtet, ihn als Helden gefeiert. Ein | |
| Jahr später wurde er sogar im Stadion von Ajax Amsterdam mit einer | |
| königlichen Auszeichnung geehrt. Und Muller fasst einen neuen Entschluss: | |
| Wenn die niederländische Staatsbahn zahlt, dann muss es auch die Deutsche | |
| Bahn tun. Die aber stellt sich bis heute quer. | |
| ## Ein Herzensanliegen für den Anwalt | |
| Den ersten Versuch startet Muller 2020: Gemeinsam mit seinem damaligen | |
| Anwalt, Axel Hagedorn, setzte er ein Schreiben an den Bund und die Deutsche | |
| Bahn AG auf. Im Sommer, einige Monate später, kommt eine Absage des | |
| Kanzleramts. Man könne keine individuellen Zahlungen übernehmen. Und | |
| Hagedorn kann aus gesundheitlichen Gründen nicht weitermachen. Deshalb | |
| kommt Klingner ins Spiel: Er nimmt neuen Anlauf, es sei ein Herzensanliegen | |
| für ihn, sagt er. Den vollen Satz müsse Muller ihm nicht zahlen. | |
| Klingner kämpft nicht nur für Mullers Anliegen, sondern auch für Muller: Am | |
| Ende des Videotelefonats lächelt er in die Kamera: „Salo, Sonntag sehen wir | |
| uns endlich live. Zum ersten Mal“, sagt er. Ein paar Tage später, auf der | |
| Veranstaltung im Hamburger Centralkomitee, sitzt Muller während der Pause | |
| auf seinem Sitz in der ersten Reihe, spricht mit Gäst*innen, die zu ihm | |
| kommen. | |
| Auch sein Anwalt neigt sich kurz zu ihm runter, legt die Hand auf seine. | |
| „Gut?“ fragt Muller. „Gut!“, sagt Klingner. Später sagt er: „Ich wü… | |
| schon sagen, dass das auch der Beginn einer Freundschaft ist. Wir sind | |
| vertraut miteinander. Und wir reden auch über andere Dinge, über den AFC | |
| Ajax und über St. Pauli.“ | |
| Eigentlich ist Klingner Anwalt für Arbeits- und Mietrecht, engagiert sich | |
| in Initiativen von Mieter*innen. Vor 20 Jahren hat er parallel den | |
| Arbeitskreis „Distomo“ mitbegründet, der sich unter anderem für die | |
| Entschädigung griechischer NS-Opfer einsetzt. Die Aufarbeitung von | |
| NS-Verbrechen sei etwas, das ihn schon lange umtreibt, sagt er. „Das hat | |
| nie stattgefunden, wie es hätte stattfinden müssen. Ich streite dafür, dass | |
| das passiert.“ | |
| ## Der Bahn „ein wichtiges Anliegen“ | |
| Bislang sei die Deutsche Bahn allerdings nicht zu weiteren Gesprächen | |
| bereit. Auch wenn es dem Unternehmen ein wichtiges Anliegen sei, das | |
| zumindest betont eine Pressesprecherin mehrmals am Telefon und verweist auf | |
| zahlreiche Initiativen, die die DB unterstützt. | |
| Zitieren lässt sich das Unternehmen so: „Wir sind uns unserer historisch | |
| begründeten Verantwortung sehr bewusst. Deswegen setzt sich die Deutsche | |
| Bahn dauerhaft für eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte | |
| ihrer Vorläuferorganisationen ein, insbesondere mit der Geschichte der | |
| Deutschen Reichsbahn im Nationalsozialismus.“ | |
| Das lässt sich auch alles auf der DB-Website nachlesen. Dort steht unter | |
| anderem, dass der Konzern 2021 eine Erklärung gegen Antisemitismus und | |
| Rassismus unterschrieb, Azubis sich im Rahmen ihrer Ausbildung mit der | |
| Unternehmensgeschichte auseinandersetzen müssen, die DB an das Anne Frank | |
| Zentrum in Berlin spendet und Mitglied im Freundeskreis Yad Vashem ist. | |
| Aber ersetzt das die Entschädigungszahlungen, die Muller und sein Anwalt | |
| fordern? | |
| Die Deutsche Bahn sagt, das könne sie am Ende gar nicht entscheiden, sie | |
| sei schlicht nicht zuständig: „Die DB AG kann keine individuellen | |
| Entschädigungszahlungen übernehmen“, so eine Sprecherin. Sie verweist auf | |
| ihren Eigentümer, den Bund, der alle Fragen materieller Entschädigung | |
| bereits habe klären können. | |
| ## Rechtssicherheit für die deutsche Wirtschaft | |
| Ganz falsch ist das nicht: Rechtlich betrachtet sind die Ansprüche | |
| gegenüber der Deutschen Reichsbahn nach dem [3][Allgemeinen | |
| Kriegsfolgengesetz von 1958] erloschen. Das Gesetz regelt vereinfacht, | |
| welche Ansprüche gegen das Deutsche Reich vom Bund erfüllt werden mussten. | |
| Deportationen gelten darin als ein Teil des gesamten Verfolgungsprozesses | |
| durch das NS-Regime. Die Bundesregierung könne sie deshalb nicht gesondert | |
| entschädigen, heißt es in einer Antwort der Regierung auf eine Kleine | |
| Anfrage der FDP aus dem Jahr 2021. | |
| Außerdem verweisen sowohl die Bundesregierung als auch die Deutsche Bahn | |
| auf ihre Beteiligung an der Entschädigung von NS-Zwangsarbeiter*innen, die | |
| von der EVZ-Stiftung organisiert wurde. Neben dem Bund zahlten dort auch | |
| eine Reihe deutscher Unternehmen ein, darunter die DB. Laut der Stiftung | |
| erhielten bis 2007 rund 1,664 Millionen Menschen Zahlungen in Höhe von | |
| insgesamt 4,4 Milliarden Euro. Pro Person sind das im Schnitt etwa 2.600 | |
| Euro. | |
| Mehrere Initiativen hatten zuvor von Regierung und Unternehmen | |
| eingefordert, NS-Zwangsarbeiter*innen und andere Opfer des | |
| Nationalsozialismus individuell zu entschädigen. Gleichzeitig setzen | |
| Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter*innen in den USA die | |
| Bundesregierung unter Druck. Unternehmen, die in die Stiftung einzahlten, | |
| wurde deshalb ein Schutz vor weiteren Klagen zugesichert. | |
| Der Historiker Goschler spricht von einem Gabentausch: „Erhielten die | |
| Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter symbolische Anerkennung, so erlangte | |
| die deutsche Wirtschaft dafür Rechtssicherheit.“ | |
| ## Hat die Bahn wirklich profitiert? | |
| Klingner findet aber nicht, dass sich das Thema durch diese Rechtslage | |
| einfach abwickeln lässt. Der Anwalt wiederholt deshalb immer wieder ein | |
| zivilrechtliches Argument, das so ähnlich auch für viele US-amerikanische | |
| Sammelklagen aus den 1990er Jahren wesentlich war: Die Verschleppten haben | |
| selbst für ihre Deportation bezahlt, die Reichsbahn habe dadurch Profit | |
| gemacht, die Deutsche Bahn hat das Vermögen übernommen. | |
| Der Verein „Zug der Erinnerung“, der seit 2007 die Deportationen von | |
| Kindern während des Nationalsozialismus aufarbeitet, schreibt, dass die | |
| Reichsbahn so umgerechnet 445 Millionen Euro verdiente. Ob diese Zahl | |
| stimmt, ist fragwürdig. Für Klingner steht aber fest: Die Deutsche Bahn hat | |
| Geld eingenommen, das ihr nicht zusteht. Und das fordert er zurück – im | |
| Notfall auch mit einer Klage. | |
| Historiker Goschler erklärt, das Ziel einer solchen Argumentation sei in | |
| der Regel kein gerichtliches Urteil, sondern ein Vergleich. Unternehmen | |
| würden deshalb zahlen, weil ihnen ansonsten ein hoher Imageschaden drohe. | |
| Muller hätte dafür eine starke Story, sagt der Historiker: „Das | |
| Super-Zeichen des rollenden Zuges, das durch Filme wie ‚Schindlers Liste‘ | |
| bekannt ist, das Detail der Fahrkarten – das wirkt natürlich.“ | |
| Der Preis dafür sei allerdings, dass sich Forderungen von NS-Opfern eben | |
| dieser rechtlichen Logik und dieser medialen Skandalisierung anpassen | |
| müssten. Dabei sei die Frage nach dem Profit irreführend, Goschler spricht | |
| sogar von Unsinn: „Was, wenn die Deutsche Bahn am Ende gar nicht profitiert | |
| hat und anfängt vorzurechnen, wie viele Kohlen sie für die Deportationen | |
| verheizt haben?“ Am Ende sei das für die Erinnerungskultur eine Sackgasse. | |
| ## Die Bahn hat mitgemacht | |
| Stattdessen müsse es eine Debatte über Teilverantwortung geben. Das | |
| Unternehmen habe Tausende Menschen wissentlich in Viehwagen in den Tod | |
| transportiert und niemand habe versucht, das zu stoppen. Das sei der | |
| wichtige Punkt: „Die Bahn hat eine Rolle im arbeitsteiligen Prozess der | |
| Massenermordung eingenommen. Und das muss sie genauso einsehen: Sie hat | |
| einen Beitrag zum Holocaust geleistet“, so Goschler. | |
| Auch Klingner fordert, dass die Bahn moralische Verantwortung für die 7.000 | |
| niederländischen Opfer und Hinterbliebenen übernimmt. Er sagt, das gehöre | |
| auch zur Prävention, zu einem „Nie wieder“. Gerade in Zeiten, in denen die | |
| AfD in Parlamente gewählt wird und die Anzahl an antisemitischen Straftaten | |
| steigt. Deshalb versuche er öffentlich Druck aufzubauen, Verbündete in der | |
| Politik zu finden. | |
| Einer von ihnen ist Otto Fricke, Bundestagsabgeordneter der FDP. Er sehe | |
| keine rechtlichen Ansprüche, die Muller an die Bahn stellen kann, sagt er. | |
| Ethisch jedoch müsse man bedenken, dass viele Opfergruppen eben | |
| unterschiedliche Hilfe bekommen. Auf taz-Anfrage schreibt er: „Ich | |
| unterstütze daher das Ansinnen, den direkt Betroffenen besondere Hilfen | |
| zukommen zulassen.“ | |
| Öffentlich haben sich in den vergangenen Jahren noch andere Politiker für | |
| Muller stark gemacht. [4][2021 warf der Linke-Fraktionschef Dietmar | |
| Bartsch] der Bundesregierung und der Deutschen Bahn vor, sich mit | |
| gegenseitigen Zuweisungen aus der Verantwortung zu ziehen. Das sei | |
| beschämend, sagte er gegenüber dem RND. Und der Grünen-Politiker Konstantin | |
| von Notz forderte, sich ernsthaft mit Mullers Forderungen | |
| auseinandersetzen. | |
| ## Ein kleines Pflaster über der Wunde | |
| So sieht es auch der Historiker Goschler. Er weist darauf hin, dass nach | |
| wie vor viele NS-Opfer noch keine finanziellen Entschädigungen erhalten | |
| haben, zahlreiche nationalistische Gewalttaten werden wohl immer im Dunkeln | |
| bleiben. Deshalb sei es zu früh, Entschädigung nur als eine Form der | |
| Erinnerungskultur zu verstehen – wie es die Bahn tut mit Ausstellungen, | |
| Bildungsprogrammen und symbolischen Erklärungen. | |
| Aber was könnte da nach einer so langen Zeit eine angemessene Entschädigung | |
| sein? Oder anders gefragt: Wie kann die Bahn tatsächlich moralische | |
| Verantwortung übernehmen? Egal was die Bahn tut, egal wie viel Geld sie | |
| zahlt, am Ende könne das ohnehin nur eine symbolische Geste sein. | |
| Denn: „Es ist absurd zu behaupten, irgendwas ließe sich mit Zahlungen | |
| heilen. Es ist nun mal unmöglich, die Geschehnisse rückgängig zu machen“, | |
| gibt Goschler zu bedenken. Aber wenn die Bahn es ernst meint damit, | |
| Verantwortung übernehmen zu wollen, wenn sie es ernst meint damit, den | |
| Schmerz der Hinterbliebenen anzuerkennen, dann müsse sie zahlen. „Denn wenn | |
| die Bahn glaubwürdig sein will, dann muss die Geste ihr wehtun“, so | |
| Goschler. | |
| Muller sieht es genauso. „In den Niederlanden war man bereit, ein kleines | |
| Pflaster auf die Wunde zu kleben“, sagt er auf der Bühne in Hamburg. Die | |
| Deutsche Bahn sei das hoffentlich auch. Am Ende der Veranstaltung klatschen | |
| alle im Saal für den Holocaust-Überlebenden. Er steht auf, steht still und | |
| hebt die Hand zum Dank. Entschlossen sieht er aus. Salo Muller hat es | |
| selbst gesagt: Wenn jemand „vielleicht“ sagt, dann hört er „Ja“. | |
| 27 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.auschwitz-komitee.de/7654/gegen-das-vergessen-salo-muller-nur-w… | |
| [2] https://www.sueddeutsche.de/panorama/holocaust-entschaedigung-bahn-holland-… | |
| [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Kriegsfolgengesetz | |
| [4] https://www.rnd.de/politik/bahn-soll-holocaust-opfer-entschadigen-linke-gru… | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lindemann | |
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