# taz.de -- Energiewende in Deutschland: Der Erntehelfer | |
> Für mehr Windenergie braucht es auch Menschen, die angstfrei hochklettern | |
> und nie seekrank werden. An Bord bei der Wartung eines Offshore-Windrads. | |
Bild: Mit dem Boot geht es zum Einsatzort, oft mit hohem Seegang | |
Barhöft taz | Der Ausbildungsplatz von Philipp Ortmann liegt draußen im | |
Meer, 16 Kilometer vor der Ostseeküste. Der 19-Jährige steht am Heck der MS | |
Caspar, einem kleinen motorgetriebenen Katamaran auf dem Weg zum Windpark | |
Baltic 1. Links Naturschutzgebiet, rechts eine Sandbank, der Himmel ist | |
angenehm bedeckt, die Wellen klein. Die anderthalb Stunden Fahrt | |
versprechen entspannt zu werden. Ortmann hat sich auf dem Lageplan seinen | |
heutigen Einsatzort angeschaut: Windrad B6, ganz unten links. Hier gilt es | |
einen Auftrag zu erfüllen. | |
Baltic 1 ist der älteste Windpark in der Ostsee. Von der Halbinsel | |
Fischland-Darß-Zingst kann man ihn bei gutem Wetter in der Ferne sehen, so | |
breit wie ein Daumennagel liegt er nördlich am Horizont. Betrieben wird | |
Baltic 1 vom Energiekonzern EnBW, 21 Windanlagen produzieren hier seit 2011 | |
grünen Strom. Auf dem Meer lässt sich mehr Wind „ernten“, wie man in der | |
Branche sagt, als an Land, weil er hier konstanter und stärker bläst. | |
[1][Die Bundesregierung plant daher, bis 2030 dreißig Gigawatt Leistung | |
offshore] zu installieren. Bisher stehen knapp zehn Gigawatt auf dem Meer. | |
Der Ausbau ist ein großer Eingriff ins Ökosystem der Meere und verwandelt | |
sie zum Industriegebiet. Gerade, wenn die Stahlfundamente der Windräder | |
tief in den Meeresboden gerammt werden – bei Baltic 1 waren es 37 Meter –, | |
belastet der Schall Meeressäuger und Fische. Doch haben sich viele | |
Befürchtungen auch nicht bewahrheitet. Windparks sind kein totes Gebiet, | |
sondern bieten zahlreichen Arten einen Rückzugsort, weil hier keine Schiffe | |
fahren. Man ist sich einig: [2][ohne Windräder auf dem Meer keine | |
Energiewende]. Auch die Deutsche Umwelthilfe spricht der | |
Offshore-Windenergie eine „Schlüsselrolle“ zu, wenn Deutschland seine | |
Klimaziele einhalten will. | |
Windenergie auf dem Wasser zu ernten, bedeutet aber nicht nur einen | |
herausfordernden Aufbau der Anlagen. Auch die Wartung ist aufwendiger als | |
bei einem Windpark auf dem Acker. Für alle Probleme, die nicht durch Knöpfe | |
drücken in der Leitwarte, einer Art Supercockpit an Land, gelöst werden | |
können, braucht es Spezialkräfte. Sie fahren raus zur Anlage, ziehen Bolzen | |
nach, bauen Ersatzteile ein und bringen stillstehende Rotorblätter wieder | |
zum Drehen. | |
Mehr Windräder bedeuten mehr Fachkräfte, die diese Aufgaben erfüllen. Und | |
die sind, [3][wie in so vielen Branchen], Mangelware. Leute wie Philipp | |
Ortmann werden also gebraucht. Doch was muss man für Eigenschaften | |
mitbringen, um auf dem Meer die Energiewende zu beschleunigen? | |
Heute steht kein Windrad still, das Problem ist banaler: B6 wird neuerdings | |
von Kormoranen beschlagnahmt und vollgekackt. Die Vögel ruhen sich nach dem | |
Fischen auf der Plattform am Fuß des Windrads aus. Im schlimmsten Fall | |
verklebt der Vogeldreck Scharniere und Schlüssellöcher am Windrad, also | |
müssen Azubi Ortmann und sein Chef Sebastian Wolt heute etwas dagegen | |
unternehmen. | |
Ortmann packt unter Deck eine Brotbox mit Reis und Hühnchen aus, die | |
Portion hat er aufs Gramm abgewogen. Er sei beim Muskelaufbau in der | |
„Regain-Phase“, sagt er. Der Bizeps spannt unter seinem Poloshirt. | |
Eigentlich wollte Ortmann Steuerberater werden, aber während eines | |
Praktikums merkte er, dass das ziemlich viel Sitzen und Schreibtisch | |
bedeutet. Also entschied er sich für etwas Praktisches. „Mein Vater | |
arbeitet in einem Windpark, aber auf der Nordsee“, sagt Ortmann, so kam er | |
auf die Idee. Seit zwei Jahren wird er zum Elektroniker für Betriebstechnik | |
ausgebildet mit Fokus auf Offshore-Windkraft. | |
„Offshoreaffin wird man nicht von Dienstag auf Donnerstag“ sagt Teamleiter | |
Wolt, der so schnell spricht, dass er sich eigentlich jeden Moment auf die | |
Zunge beißen müsste. Er betreut die Auszubildenden und die dürfen vor allem | |
drei Sachen nicht mitbringen: Seekrankheit, Höhenangst und Heimweh. Im | |
Windpark wird im Zwei-Wochen-Rhythmus gearbeitet: 14 Tage rausfahren, 14 | |
Tage frei. In den zwei Arbeitswochen wohnen die Techniker in einem Hotel am | |
Hafen und werden umsorgt. „Die Zimmer werden geputzt, die Wäsche gewaschen, | |
es gibt Essen, man muss nicht einkaufen“, zählt Ortmann zufrieden auf. | |
Während die Windräder über dem Wasser einzeln wie Zahnstocher auftauchen, | |
hat sich das Meer entschieden, doch nicht so ruhig zu sein. Die Wellen in | |
der Ostsee sind besonders kurz, weil das Gewässer vergleichsweise klein | |
ist. Wenn sie dann höher werden, wird es unangenehm. Das Boot knallt | |
mehrmals mit einem lauten Scheppern auf die Wasseroberfläche. Bei den | |
ersten Ausfahrten hat das Philipp Ortmann noch Probleme bereitet. „Ich hing | |
die ganze Fahrt über der Reling“, sagt er. Heute wirkt er gelassen, während | |
sich anderen an Bord der Magen umdreht. | |
Dass man sich an die Wellen gewöhnt, ist nicht sicher. Mit Ortmann lernt | |
noch ein zweiter Auszubildender, der sich schwertut mit den Schifffahrten. | |
Für ihn bedeutet das Stress, für Sebastian Wolt ein Risiko. „Wenn wir wegen | |
Kotzen umdrehen müssen, ist das ein vier- bis fünfstelliger Verlust“, sagt | |
er. Denn ein stillstehendes Windrad, das nicht repariert wird, bringt einen | |
weiteren Tag kein Geld. | |
Am Fuß von B6 ist sich der Schiffskapitän kurz unsicher, ob das Meer zu | |
unruhig ist, um an die Anlage zu fahren. Bis zu einer Wellenhöhe von 1,20 | |
Metern ist der Überstieg vom Schiff auf das Windrad sicher. Die beiden | |
Männer machen sich trotzdem bereit. Philipp Ortmann setzt seinen Helm auf, | |
legt seine Schwimmweste an und schlüpft in ein Sicherungsgeschirr, das | |
aussieht, als würde es ein Mammut vorm Absturz retten können. An seiner | |
Hüfte hängen links und rechts tellergroße Karabiner. | |
Legt man den Kopf in den Nacken, sieht man auf über 78 Metern Höhe die | |
Gondel des Windrads, ihr Maschinenhaus. Von unten wirkt sie wie ein | |
Schuhkarton. Jedes der drei Rotorblätter misst 45 Meter und hat damit | |
Hochhaushöhe. Dennoch ist Baltic 1 eher der Trabi unter den Windparks. Die | |
Dimensionen, in denen Offshore-Windräder gebaut werden, überschlagen sich, | |
denn größere Rotorblätter bedeuten mehr Energiegewinn. 120 Meter lang | |
können sie mittlerweile sein, es gibt Windräder mit Gondeln, so groß wie | |
ein Einfamilienhaus. „Dagegen ist das eine Hundehütte“, sagt Sebastian | |
Wolt. „Aber hier kann man gut lernen.“ | |
Vorne am Bug des Schiffs ist eine Stoßstange aus Gummi montiert. Die lenkt | |
der Kapitän gegen das Windrad und gibt weiter Gas, um an der Säule | |
stehenzubleiben. Pushen nennen sie das. Ortmann und Wolt haken sich | |
nacheinander in das Sicherungsseil an der Leiter von B6 ein, dann machen | |
sie einen beherzten Schritt und klettern gut 25 Sprossen hoch auf die | |
Anlage. Diese Situation ist das Gefährlichste an ihrem Job. | |
Das Klettern ist die nächste Herausforderung für die Auszubildenden. „Wenn | |
sie auf der Leiter stehen und runterschauen, 30, 60 Meter bis zum Boden, | |
erstarren manche vor Angst“, sagt Wolt später. „Dann werden die Knöchel an | |
den Händen ganz weiß.“ Steckt man erst mal in dieser Starre, geht es weder | |
hoch noch runter. Wolt greift dann auf einen Trick aus seiner Zeit bei der | |
Marine zurück. In seiner Hosentasche habe er eine kleine Nadel dabei, mit | |
der er die krampfende Person kurz sticht. „Der Pieks holt sie zurück.“ | |
Auf der Plattform von B6 ist ein kleiner Kran montiert, mit dem Werkzeug | |
und Ersatzteile vom Boot auf die Anlage gehoben werden, oder eben ein | |
Kärcher. Der wurde extra umgebaut für den Einsatz auf der Plattform, doch | |
nun kommt kein Strom aus der Steckdose, um den Vogelkot wegzupusten. Oben | |
produziert das Windrad mit jeder Umdrehung Elektrizität, unten fehlt sie. | |
„Ich geb’ euch Strom vom Boot“, funkt der Kapitän hoch zu den beiden | |
Männern auf der Windanlage. Das funktioniert. Der Kärcher schießt das | |
Meerwasser gegen den Windradturm. | |
Für ihre Einsätze auf dem Wasser bekommen Offshore-Techniker:innen | |
einen Zuschlag von 130 Euro am Tag. So haben sie netto circa 1.500 Euro | |
mehr im Monat gegenüber ihren Kolleg:innen, die Windräder an Land warten. | |
Aber ist es das wert? Den halben Monat nicht zu Hause sein, Familie und | |
Freunde nicht sehen für 1.500 Euro mehr auf dem Konto? Philipp Ortmann | |
findet schon. Er grinst ein bisschen, wenn der Ausbildungsleiter über sein | |
zukünftiges Gehalt spricht. „Aber ich habe auch gerade keine Freundin“, | |
gibt er zu. | |
Frauen sucht man in der Branche beinahe vergeblich. Fünf | |
Servicetechnikerinnen gebe es in der gesamten deutschen Windenergiebranche, | |
sagt Wolt. Das seien dann eher Kletterinnen, die zum Beispiel außen an den | |
Rotorblättern Reparaturen erledigen. Aktiv Frauen akquirieren würden sie | |
aber nicht. Für Sebastian Wolt kommt es vor allem darauf an, dass die | |
Auszubildenden wissen, worauf sie sich einlassen. Was die Arbeit auf dem | |
Meer bedeutet, das könnten viele da unten am Firmensitz in Karlsruhe nicht | |
einschätzen, sagt er. Seit Neustem nimmt er deshalb an den | |
Bewerbungsgesprächen teil. Neun von zehn würden die Ausbildung aber | |
schaffen. | |
Er freut sich, dass ihre Mission geglückt ist. „Ich schreie heute Nacht | |
deinen Namen beim Einschlafen!“, ruft Sebastian Wolt seinem Kapitän zu, als | |
er zurück auf dem Schiff ist. Die MS Caspar dreht Richtung Barhöfter Hafen. | |
Aber bald kommt sie zurück zu Windrad B6. Die kaputte Steckdose muss | |
repariert werden. | |
16 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Fichtner | |
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