# taz.de -- Eltern von Kindern mit Behinderung: Was wird aus Nico? | |
> Wenn behinderte Kinder erwachsen werden, sind ihre Eltern irgendwann zu | |
> alt, um sie noch zu betreuen. Das kann zum Problem werden. | |
Bild: Mühsamer Weg: Nico Schnittger wird von seinem Vater die Treppe hinunterg… | |
HAMBURG taz | Auf dem Foto oben sieht man Nico Schnittger, man sieht die | |
Hände seines Vaters Arnold. Es ist ein Foto, das manches zeigt, manches | |
muss man sich dazu denken, manches bleibt verborgen. Es zeigt, dass Nico | |
Schnittger, der von Geburt an körperlich und geistig behindert ist, den | |
Besuch des Fotografen aufregend und lustig fand. Ein großer Spaß. Es zeigt, | |
dass er jemand ist, der gern Kontakt zu anderen aufnimmt. | |
Das Bild zeigt nicht, dass Arnold Schnittger 68 Jahre alt ist, es zeigt | |
nicht, dass der Tag kommen wird, an dem er den Treppensteiger mit seinem | |
Sohn nicht mehr wird ziehen können. Es zeigt ohnehin nur seine Hände und | |
darin liegt etwas Symbolisches, ohne dass der Fotograf es darauf angelegt | |
hätte: die [1][Eltern von behinderten Kindern] sind wenig sichtbar in | |
unserer Gesellschaft. | |
Auch die Kinder werden mit zunehmendem Alter unsichtbarer, sie verschwinden | |
aus den allgemeinen Schulen und finden sich wieder in Einrichtungen, die | |
sie ihrem Selbstverständnis nach schützen und zugleich abschließen vom Rest | |
der Gesellschaft. Es ist eine Gesellschaft, die keinen Anstoß daran nimmt, | |
diese Menschen meist nur im Transporter wahrzunehmen, der sie zu Orten | |
bringt, die die anderen nie betreten. | |
Es gibt gute Gründe, zu finden, dass sich die Situation von Menschen mit | |
Behinderung verbessert hat, deutlich sogar, sowohl gesetzlich als auch | |
lebensweltlich. Mit dem frisch verabschiedeten Bundesteilhabegesetz sollen | |
Menschen mit Behinderung freier darüber entscheiden können, wo sie leben. | |
Medien sind in leichter Sprache zugänglich, Menschen mit Behinderung | |
erscheinen im öffentlichen Leben in neuen Rollen, etwa als AkteurInnen im | |
Theater. | |
Das ist das eine. Das andere ist der Alltag derjenigen, die pflegen und | |
begleiten. Die sich aufreiben im Dschungel der Bürokratie, zwischen | |
abgelehnten Kuren, abgelaufenen Behinderten-Parkausweisen, zwischen Windeln | |
und der Zwiesprache mit dem Kind, die mal mühelos und mal mühsam ist. So | |
wie mit jedem Kind, nur dass das eigene sein Leben lang auf Unterstützung | |
angewiesen sein wird. | |
Es gibt ein hohes Maß an innerfamiliärer Solidarität in vielen Familien mit | |
Kindern mit Behinderung. Man kann in Studien darüber nachlesen, es genügt | |
aber auch, Familien wie die Schnittgers zu erleben. Aber diese Familien | |
leben nicht auf Inseln, sie leben in einer Gesellschaft, von der man gerade | |
nicht recht weiß, wohin sie geht. | |
Arnold Schnittger sagt, es sei ein Bauchgefühl, das ihn hindere, seinen | |
Sohn in eine [2][öffentliche Pflegeeinrichtung] zu geben. Er sieht eine | |
Abwärtsspirale kommen in der Güte der Häuser, nicht aus bösem Willen der | |
Pflegekräfte, sondern aus ökonomischen Druck. Die Lebenserwartung | |
behinderter Menschen wächst, auch ihre Zahl wird größer. | |
Wie sonderbar: Der medizinische Fortschritt, wenn man ihn so nennen möchte, | |
sorgt dafür, dass ungeborene Kinder mit Behinderung [3][aussortiert] werden | |
können. Wer mit Down-Syndrom im Mutterleib erkannt wird, hat wenig Chance, | |
geboren zu werden. | |
Und zugleich sorgt diese Medizin dafür, dass immer mehr Kinder Geburten und | |
Krankheiten überleben, die sie mit Behinderungen zurücklassen. Die Kosten | |
des Bluttests, der das Down-Syndrom nachweist, übernimmt jetzt die | |
Krankenkasse. Weil es sich lohnt. Und weil er nachgefragt ist. | |
Die Frage ist, ganz nüchtern gestellt, ob wir es lohnend finden, in das | |
Leben von Menschen mit Behinderung zu investieren. Das könnte Geld sein, | |
das andere gern für sich hätten. Gelder sind endlich und Verteilungskämpfe | |
bringen selten das Bessere in den Menschen hervor. | |
Die Frage, ob es sich lohnt, ob es die bestmögliche Verwendung ist, stellen | |
wir ständig, es ist ein normaler Vorgang, und ob uns etwas lohnend | |
erscheint, muss nichts mit Volkswirtschaft zu tun haben. Und doch: Man kann | |
nicht anders, als an [4][Nazi-Deutschland] zu denken, vor 80 Jahren, als | |
die Frage radikalisiert gestellt wurde: Lohnt sich Leben mit Behinderung? | |
Verteilungskämpfe bringen nicht notwendigerweise das Bessere in uns hervor, | |
aber sie müssen auch nicht das Schlechtere hervorbringen. Sie können im | |
Bewusstsein unser aller Hinfälligkeit etwas ganz anderes wecken: ein Gefühl | |
von Solidarität. Als Ausgangspunkt für ein Gespräch über das, was uns | |
wichtig ist. | |
Mehr über Nico und die Probleme von älter werdenden Eltern mit behinderten | |
Kindern lesen Sie in der taz am Wochenende oder [5][hier]. | |
31 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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