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# taz.de -- Menschen mit Behinderung erzählen: Dass ich mal so glücklich werd…
> Hildegard Wittur ging auf eine Sonderschule und landete später in der
> geschlossenen Psychiatrie – für 25 Jahre. Nach der Wende begann ein
> anderes Leben für sie.
Bild: In Pose geschmissen: Hildegard Wittur auf dem Tempelhofer Feld
Meine erste Erinnerung ist, dass die Polizei uns holen kam. Ich muss vier
Jahre oder so gewesen sein, denn ich war es, die sie hereinließ. Und nur
mit Mühe konnte ich die Klinke erreichen, um die Tür zu öffnen. Zu der Zeit
wohnte ich mit meinen sechs Geschwistern, drei Jungens und drei Mädchen,
und den Eltern in Pankow, Blankenburger Straße 62.
Meine Eltern waren eigentlich aus Polen und aus Jugoslawien und im KZ
Sachsenhausen gewesen, aber alle Kinder sind in Berlin geboren. Wir waren
wohl arm, ich erinnere mich nicht an Spielzeug. Aber daran, dass wir
zwischen den Wäschestangen im Hof „Bäumchen, wechsel dich“ und Verstecken
spielten.
Ich hab damals nicht verstanden, wer uns warum da mit der Polizei wegholen
ließ, meine Eltern waren meine Eltern, ich kannte ja nichts anderes. Es
wurde viel geschrien, es gab oft Streit zwischen den beiden. Sie mussten
damals aber schon Trinker gewesen sein, nur habe ich das nicht begriffen.
Schläge waren normal.
Wir kamen in ein großes Auto, und das fuhr uns weg. Es war dunkel, und wir
wurden in kratzige, stinkende Decken gewickelt. Den Geruch und das Gefühl
habe ich noch heute in der Nase. Wir Kinder wurden auf verschiedene Heime
verteilt. Ich wurde an die Ostsee gebracht, zusammen mit meinem Bruder
Eduard. Von der Ostsee weiß ich nichts mehr, außer dass es mir dort
überhaupt nicht gefallen hat. Vielleicht wollte ich damals aber auch nur
nach Hause.
## In Dresden hatte ich ein Zuhause
Nicht einmal den Ort konnte ich mir merken, nur das Meer. Ich kann auch gar
nicht sagen, wie lange wir dort waren, nur dass wir irgendwann nach
Dresden gebracht wurden und ich dort eingeschult wurde.
In Dresden trafen wir wieder zusammen mit Annemarie. Die anderen
Geschwister habe ich erst viel später wiedergesehen. Für lange Zeit war
Dresden der schönste Platz und die schönste Zeit, die ich hatte. Hier wurde
ich eingeschult, hier hatte ich ein Zuhause. Das Heim lag außerhalb der
Stadt auf einem Hügel und wir liefen morgens zur Schule oder fuhren mit dem
Pferdewagen, im Winter sind wir sogar mit dem Schlitten gefahren.
Dazu muss man wohl sagen, dass ich 1948 geboren bin, es war also alles noch
ganz anders als heute, und es war ja DDR. Aber auf so einem Pferdewagen
lässt es sich herrlich reisen.
Im Heim gab es gut und regelmäßig zu essen. Ich hatte zumindest meine
beiden Geschwister bei mir, und die Erzieher waren nett zu uns. Es war ein
großes Haus mit mehreren Gebäuden und sehr vielen Kindern. Wir durften
sogar in die Stadt gehen, und es gab nur selten Strafen. In dieser Zeit
hatte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern, und habe sie aber auch nicht
vermisst.
## Mit 13 geschah etwas Schreckliches
Ich ging zur Schule und fühlte mich wohl. Ich war sehr klein für mein Alter
und immer zu Faxen und Streichen bereit. Das ist bis heute so geblieben. In
der Schule verstand ich nicht so viel, aber ich kam zurecht. Mit den
anderen Kindern kamen wir gut aus, manchmal wurden wir gehänselt als
Heimkinder, aber das war nicht oft.
Ich kann das Heim nicht mehr finden, ich habe leider vergessen, wie es hieß
und wo genau es war. Das ist mir noch mit vielen anderen Dingen passiert;
woran das liegt, weiß ich nicht.
Mit 13 geschah dann etwas Schreckliches. Wir mussten Dresden verlassen und
zurück nach Berlin zu unseren Eltern. Niemand hatte uns gefragt, ob wir
wollten oder nicht, und niemand hat uns erklärt, warum wir zurücksollten.
Normalerweise denkt man ja, das ist toll, aber ich fand es furchtbar. Ich
kannte meine Eltern ja gar nicht richtig, wusste nur, dass es irgendwie
falsch war, dort wieder hinzukommen.
Meine Mutter holte uns am Bahnhof ab, eine fremde, eklige Frau, die nach
Alkohol roch und uns anschrie. Ich wehrte mich mit allen Kräften und
kratzte und biss sie sogar ins Bein. Es nutzte nichts, wir mussten mit.
## Mit dem Gürtel zu vertrimmt
Zu Hause war es nicht besser geworden in der Zwischenzeit. Im Gegenteil:
Der Vater war schon kaputt und krank und starb bald darauf bei einem
Unfall. Er ist verbrannt, weil er bei der Arbeit in den Starkstrom gekommen
ist. Ganz verkohlt war er. Er hätte eigentlich gar nicht arbeiten sollen,
da er ja krank war, aber er wollte wohl auch nicht zu Hause bleiben.
Das tat mir leid, denn er war der Nettere von beiden. Geschlagen hat uns
jedenfalls immer nur die Mutter, aber verteidigt hat er uns auch nicht. Er
hat mir einmal heimlich Geld zugesteckt, 50 Mark, die habe ich zur Oma
gebracht. In dieser Zeit kehrten auch meine anderen Geschwister zurück.
Meine Mutter holte sich einen neuen Mann und verbrachte viel Zeit mit ihm,
aber das hielt sie nicht davon ab, uns mit dem Gürtel zu vertrimmen, wenn
wir nicht spurten. Deshalb haben wir sie auch immer ausgesperrt, wenn sie
voll war. Dann ist sie zurück zu ihrem Kerl.
Ich musste zum Amt, und dort sagte man, ich wäre behindert, weil ich nicht
rechnen konnte. Das habe ich nie gelernt, mein Kopf kommt mit Zahlen immer
durcheinander. Lesen und Schreiben ging aber gut, und auch sonst war ich in
Ordnung. Post kann ich noch immer gut lesen, nur verstehe ich sie nicht
immer.
## In der Sonderschule verliebt in Michael
Meine anderen Geschwister sind alle normal gewesen, nur ich kam wieder auf
die Sonderschule. Dort war es aber nicht schlimm, alles war besser als zu
Hause. Ich verliebte mich sogar in einen Mitschüler, Michael. Der war
unglaublich dick, das machte mir aber nichts aus, denn er war sehr lieb.
Ich traute mich aber nicht, ihn mit nach Hause zu nehmen, und so wurde nie
etwas daraus. Er kam dann irgendwann nicht mehr zur Schule, und es hieß, er
wäre an Fettsucht gestorben.
Mein Leben sah zu der Zeit ungefähr so aus: aufstehen, Geschwister
versorgen, Schule, nach Hause, Haushalt und schlafen. Und immer machte ich
etwas verkehrt, gab Widerworte und wurde angeschrien und geschlagen. Von
meiner besoffenen Mutter. Alle wussten Bescheid, aber bis uns jemand half,
verging eine Ewigkeit.
Ich fing an wegzulaufen, erst versteckte ich mich nur auf dem Dachboden,
dann bei einem Nachbarn, der mir erlaubte, bei ihm zu bleiben, aber es
nutzte nix. Ich musste ja irgendwann zurück, und dann setzte es wieder –
und umso mehr – Schläge.
Der einzige Lichtblick war meine Freundin Petra, mit der konnte ich mich
unterhalten, wir trafen uns heimlich auf dem Speicher oder im Hof. Aber
auch die hatte kein Glück. Sie starb wenig später, als ihr Freund mit dem
Motorrad verunglückte.
## Kranführerin wie mein Vater
Auch meine Oma starb, der einzige Mensch, der mir manchmal half. Ich
erinnere mich genau: Eine Straßenbahn überfuhr sie, als wir auf dem Weg zu
ihr waren. Das war eine schlimme Zeit, ich fühlte mich alleine und war
todunglücklich. Mittlerweile war ich 14, hatte die Schule beendet und
sollte nun eine Arbeit bekommen. Ich wäre gerne Kranführerin geworden wie
mein Vater. Hoch oben alleine in der Kanzel zu sitzen und über den anderen
Dingen mit dem Kran zu schweben war mein Traum. In der Zeit wurde in
Ostberlin ja überall gebaut, das gefiel mir. Ich mochte die Bauarbeiter und
war eine richtige Göre geworden und habe die immer verulkt.
Leider durfte ich das nicht, ich war zu schlecht in der Schule und ja auch
geistig behindert. So begann ich in der Kantine des VEB
Starkstromanlagenbau zu arbeiten, in dem schon mein Vater beschäftigt
gewesen war. Dort kannte man mich, es war nicht schlecht dort. Die Arbeit
machte mir Spaß, und die Leute mochten mich gerne. Aber meine Mutter nahm
mir alles Geld sofort ab, ich durfte nichts für mich behalten und hatte den
Haushalt zu besorgen, mich um meine kleinen Geschwister zu kümmern. Die
großen waren schon lange über alle Berge, ohne sich um uns zu kümmern, die
tranken mittlerweile selber.
Als ich nicht mehr weiterwusste, beschloss ich zu sterben. Alles war besser
als das hier. Meine Oma war schon dort, meine einzige Freundin und auch der
dicke, liebe Michael. Da drehte ich den Gashahn auf und nahm irgendwelche
Tabletten aus dem Nachttisch meiner Mutter. Es hat aber nicht geklappt, mir
war nur sehr schlecht, und mein Bruder holte den Nachbarn, der sich um mich
kümmerte und das Amt informierte.
Dann ging alles ganz schnell: Der Nachbar wurde als mein Vormund eingesetzt
und sollte aufpassen, dass ich gut und richtig behandelt werde. Aber der
alte Bock wollte, obwohl er verheiratet war, noch mehr von mir. Eines
Nachts stand er in meinem Zimmer. Ich lief weg. Viele Jahre später habe ich
ihn einmal mit meinen Betreuern besucht und habe gemerkt, wie viel Angst er
hatte, dass ich etwas erzählen könnte. Das hat mir sehr gefallen, wie er da
geschwitzt hat.
## Für alle der Fußabtreter
Aber wo sollte ich hin? Ich hab sogar versucht, in den Westen zu kommen,
als die Mauer noch nicht stand, aber schon Stacheldraht da war. Am
S-Bahnhof Schönholz. Aber die Grenzer haben mich geschnappt, als ich schon
halb drüben war, und schickten mich wieder weg. Ich schlief in leeren
Häusern und ging schließlich zurück zu meiner Familie. Meine Mutter schlug
mich mit dem Gürtel fast kaputt, obwohl mein Bruder Rudi versuchte, sie
daran zu hindern. Aber er war zu schwach.
Rudi war mir von allen immer der Liebste und blieb es. So ging es weiter,
und als das Elend zu groß war, versuchte ich ein zweites Mal, mir das Leben
zu nehmen. Immer hatte ich Angst, für alle war ich der Fußabtreter, niemand
liebte mich. Ich wollte einfach nur, dass das aufhörte.
Aber wieder klappte es nicht, und ganz benommen bin ich dann alleine zum
Amt gegangen, zu Herrn Simon, und habe gesagt, dass ich nicht mehr so leben
kann und will. Und dass ich mich auf der Stelle umbringe, wenn sie nicht
sofort etwas machen.
Ich war 15 oder 16 Jahre alt, geistig behindert, wollte sterben, weil meine
Mutter mich quälte, mir niemand half. Nun hatte ich das Amt gezwungen,
etwas zu unternehmen. So kam ich ins Griesinger.
## Auf der geschlossenen Station
Im Griesinger, dem Krankenhaus in Hellersdorf, kam ich zuerst nicht
zurecht. Ich fühlte mich nicht krank, ich wollte nur meine Ruhe. So
beschloss ich, mal wieder wegzulaufen. Das habe ich immer so gemacht:
versucht wegzulaufen, aber meistens wusste ich gar nicht, wohin. Auch
diesmal ging es schief. Ich kam nicht weit, und meine Flucht endete auf der
geschlossenen Station 1. Dort blieb ich 25 Jahre. Im Nichts.
Ein Tag war wie der andere, mit der Zeit bekam ich immer mehr kleine
Aufgaben, Botengänge. Bis ich irgendwann eine Art Hilfsschwester war, die
die Patienten auch wusch und sich um alle kümmerte.
Die Schwestern waren streng, und es gab auch hier harte Strafen, wenn man
Mist baute. Einige Male wurde ich in den Bunker gesperrt, das war ein
fensterloser, kleiner Raum mit nur einer Matratze. Wenn man mal musste, war
nur der Boden da und nachher musste man alles sauber machen. Und man wurde
unter Wasser gestuckt, also mit dem Kopf unter Wasser gedrückt, bis man
keine Luft mehr bekam. Eigentlich ist das wie Folter, nur schlimmer, weil
wir ja krank waren oder behindert.
Es hat sich auch nie jemand bei mir entschuldigt, damals nicht und bis
heute auch nicht. Jetzt muss auch keiner mehr kommen. Aber ich war ja viel
gewöhnt, und so lebte ich auf der Station und später auch auf dem Gelände,
ohne es jemals zu verlassen. Ich habe aber nicht die ganze Zeit geweint
oder so.
## Einmal machen, was ich wollte
Die meisten mochten mich, und wenn ich mich nützlich machen konnte, verging
die Zeit schneller. Ich machte gerne Späße und bemühte mich, nett und
freundlich zu allen zu sein. Aber es ist schon komisch, dass ich so lange
da drin war, ohne dass jemals jemand gesagt hat oder auf den Gedanken
gekommen ist, dass ich da nicht hingehöre auf die geschlossene Station.
Dann kam die Wende.
Im Griesinger war einiges passiert, wie in der ganzen DDR. Ich hatte gehört
und gelesen, dass jetzt alles anders werden sollte. Das gefiel mir, denn
auch ich wollte jetzt einmal machen, was ich wollte. Jetzt fühlte ich mich
auch eingesperrt und wollte nicht mehr, dass andere alles bestimmten.
Da schrieb ich einen Brief an Bürgermeister Walter Momper. Ich schrieb,
dass ich rauswollte, dass ich schon so lange dort drin sei und er mir
helfen sollte. Den Brief schmuggelte ich heimlich raus, denn ich war
sicher, das würde Ärger geben. Den gab es auch, denn Walter Momper hat
zurückgeschrieben und gefragt, was denn da los sei. Die Schwestern und
Ärzte waren natürlich sehr sauer mit mir, ich kam zum letzten Mal in den
Bunker.
Aber als dann der Chef des benachbarten Biesdorfer Heims Grabensprung bei
uns war, habe ich ihn auf der Visite angesprochen, und ich durfte endlich
raus aus dem Griesinger und wohnte nun im Grabensprung. Hier ging es viel
freier zu, mitarbeiten musste ich aber auch hier. Ich glaube, die haben
gewusst, dass ich die Leute waschen konnte, und wollten deshalb, dass ich
zu ihnen komme. Aber wenigstens habe ich Taschengeld bekommen und durfte
raus.
## Viel unterwegs in Berlin
Ich verbrachte die Nacht des 9. November auf der Mauer, trank Sekt und hab
gefeiert, das war herrlich. Ein junger Mann hatte mich hochgehoben, und ich
tanzte oben mit den vielen anderen. In dieser Zeit war ich viel in Berlin
unterwegs, und durch das Heim lernte ich viele neue Leute kennen.
Nur mit meiner Familie war es blöd. Meine Mutter war gestorben. Die
Geschwister lebten zwar noch, teilweise sogar in Berlin, aber wir trafen
uns nur zufällig. Sie wollten nichts von mir wissen, nur Rudi interessierte
sich für mich. Die anderen hatten geheiratet oder waren unter die Räder
gekommen. Hedi hat mich auch einmal besucht und prompt beklaut.
Westberlin gefiel mir sehr, es war so ganz anders, laut und bunt. Da wollte
ich hin. Ich wusste ja jetzt, dass ich, wenn ich etwas wirklich wollte,
auch etwas tun musste, damit es klappte. Eine Schwester aus dem Heim half
mir, dem Amt zu schreiben. Dass ich anders wohnen wollte und auch arbeiten
würde.
Wieder wurde ich untersucht, musste viele Fragen beantworten. Bis der Mann
vom Amt sagte: Ja, du bist behindert, darfst aber in einer Wohngemeinschaft
leben. So kam ich tatsächlich in einer Wohngemeinschaft für geistig
Behinderte in Kreuzberg unter und fing an, in einer Behindertenwerkstatt,
der BWB Süd, zu arbeiten.
## Eigentlich viel zu beschäftigt
Das war nun ein ganz anderes Leben, ich hatte mein eigenes Zimmer,
Wohnungsschlüssel und verdiente eigenes Geld. Nur die Betreuer waren mir
noch zu viel: Warum musste denn jeden Tag jemand in meiner Wohnung sein, um
zu gucken, ob ich alles richtig mache? Ich war ja kein kleines Kind mehr,
sondern mittlerweile über 40 Jahre alt. Es musste doch möglich sein, dass
ich ohne Aufpasser und Bestimmer sein konnte. Auch die anderen Bewohner der
WG konnte ich mir nicht aussuchen. Das gefiel mir auch nicht so, denn ich
verstand mich nicht mit allen.
Einer zog aus in seine eigene Wohnung, obwohl ich viel besser den Haushalt
im Griff hatte als er! Ich bettelte und schmollte so lange, bis die
Betreuer endlich nachgaben und einen Antrag stellten. Der wurde genehmigt,
und 1993 zog ich endlich in meine eigene Wohnung in die Dieffenbachstraße.
Ich glaube, ich war noch nie so glücklich. Auch hier hatte ich Betreuer,
aber was der machte, hatte ich lange nicht verstanden. Er kam manchmal,
unterhielt sich mit mir und half mir, mich einzurichten und so. Einmal hab
ich ihn gefragt, was er eigentlich arbeitet, da hat er gelacht.
Eigentlich war ich viel zu beschäftigt, um mich betreuen zu lassen. Ich
ging arbeiten und spielte Theater in einer berühmten Truppe, dem
RambaZamba. Bis nach Italien sind wir gefahren mit unseren Stücken! Aber
das wurde mir bald zu viel, und ich wollte keine Schauspielerin mit den
ewigen Proben sein. Ich war viel unterwegs und lernte meinen Kiez kennen.
Ich bin auch mal in den Delegiertenrat gegangen, um für die Rechte von
Behinderten zu kämpfen. Aber das war langweilig, immer nur reden, reden,
reden und Kekse essen.
Meine Geschwister habe ich teilweise wiedergetroffen, Rudi hat mich sogar
ein paar Mal besucht, und mit Annemarie hab ich telefoniert. Die anderen
rufen nur an, wenn sie Geld brauchen, aber das gebe ich ihnen nicht, wozu
auch, sie versaufen es ja eh!
## Eigene Wunschfamilie im Kiez
Als Rudi vor ein paar Jahren starb, durfte ich nicht zur Beerdigung, meine
Geschwister meinten, ich wäre zu behindert und würde das nicht verkraften.
Seitdem habe ich keine Lust mehr, jemanden aus der Familie zu treffen.
Ich vermisse sie auch nicht, ich habe schon längst meine eigene
Wunschfamilie hier im Kiez. Früher habe ich oft davon geträumt, eigene
Kinder zu haben und einen Mann, der nett ist und sich um uns kümmert. Aber
das ist nie passiert. Ich hatte ja Männer kennengelernt, aber dann wollte
ich nie mitmachen, was die wollten, und bin weg. Heute will ich keinen
mehr, Gott sei Dank! Ich bin zufrieden, dass ich mich um keinen Kerl
kümmern muss.
Viele von denen haben gedacht, die ist behindert, da kann ich machen, was
ich will. Aber da haben sie sich getäuscht. Ich hab mich immer gewehrt und
mir Hilfe geholt. Einen mochte ich gern, da wäre ich geblieben, aber seine
Mutter wollte das nicht, ich war zu alt und nicht ihr Typ. So ist es dann
gekommen, dass ich alleine bin. Aber ich kenne viele Menschen, weil ich
immer hilfsbereit und lustig bin.
Manchmal bin ich auf Leute reingefallen. Deshalb habe ich einen
Amtsbetreuer, der auf mein Geld aufpasst, meine Miete bezahlt und zu dem
ich gehen kann, wenn ich etwas brauche. Damals haben mich Mädchen
mitgenommen, und ich musste viele Telefonverträge unterschreiben, sogar ein
Auto habe ich gekauft. Sie haben mir einen Papageien versprochen und
gesagt, ich dürfte mit niemanden darüber reden, sonst kämen sie und würden
mich töten.
## Noch lange weiterleben wie jetzt
Ich hab das aber doch meinem Betreuer gesagt, und wir sind zur Polizei, und
danach hat er eine Amtsbetreuung organisiert.
Mittlerweile habe ich meinen eigenen Papagei bekommen. Den habe ich mir von
meinem Ersparten gekauft. Dass die beiden Betreuer da sind, stört mich
nicht.
Wenn ich mir noch etwas wünschen soll für mein Leben, dann wäre es, noch
lange so weiterzuleben wie jetzt. Das hätte ich mir damals, mit dem Kopf im
Gas, nicht träumen lassen. Dass ich noch mal so glücklich werden kann.
11 Aug 2018
## AUTOREN
Hildegard Wittur
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