# taz.de -- Eltern kritisieren fehlendes Angebot: Aus dem Kinderheim geworfen | |
> Eltern berichten, ihr geistig behindertes Kind sei in einer Einrichtung | |
> stundenweise eingeschlossen worden. Dafür ist eine Richtererlaubnis | |
> nötig. | |
Bild: Das Mädchen wurde in Stormarn oft eingeschlossen, damit sie die Abläufe… | |
HAMBURG taz | „Uns ist unfassbar Trauriges geschehen“, sagt Elisabeth | |
Heitmann. Ihre Tochter ist acht Jahre alt und geistig behindert und lebte, | |
seit sie vier ist, in einer Wohngruppe der „Lebenshilfe Stormarn“ bei | |
Hamburg. Doch im Juni 2019 wurde ihr der Platz gekündigt. Ihre Tochter sei | |
so massiv „selbst- und fremdgefährdend“, dass sie sofort ausziehen müsse. | |
Nun lebt das Mädchen in einem Heim bei Kappeln, 150 Kilometer entfernt. | |
Die Familie, deren Namen wir geändert haben, schrieb einen Offenen Brief an | |
die Lebenshilfe. Die Eltern kritisieren zum einen, dass es zu wenig | |
Angebote für Kinder wie ihre Tochter gibt und dass das Heim, das sie | |
zuletzt betreute, ihr Kind oft einschloss und schließlich abschob, statt | |
gemeinsam eine Lösung zu suchen. | |
Isa habe eine schwere Form von frühkindlichem Autismus bei „mittelgradiger | |
bis schwerer Intelligenzminderung“. Sie sei in ihrer sozialen und | |
psychischen Entwicklung auf dem Stand eines kleinen Babys. Dabei sei sie | |
motorisch sehr geschickt, unruhig und agil. „Man kann sagen, sie macht den | |
ganzen Tag nur Quatsch“, sagt die Mutter. Etwa, indem sie ein Buch zerreiße | |
oder ein Glas umkippt. „Man kann sie nicht ohne Aufsicht lassen.“ In | |
Hamburg gebe es nur eine Einrichtung, die Fälle wie Isa betreuen könnte, | |
und auf Jahre keine Plätze habe. | |
Darum waren die Eltern froh, dass die Tochter in Stormarn den Platz fand. | |
Isa habe sich dort anfangs wohl gefühlt. Jedes zweite Wochenende und in den | |
Ferien holten die Eltern sie zu sich. Die Zusammenarbeit laufe „sehr gut“, | |
hieß es noch im Februar 2019 in Bericht des Heims. Um die positive | |
Entwicklung des Kindes weiter voranzubringen, sei weitere Unterbringung | |
dort „unbedingt erforderlich“. | |
## Die Entfernung erschwert den Kontakt | |
„Deshalb hat uns die Kündigung so getroffen“, sagt Heitmann. Doch das Heim | |
habe nicht mit sich reden lassen. Etwa, ob es helfen könnte, beim Amt | |
zusätzliche Betreuung zu beantragen. So verlor die Tochter auch ihren | |
Schulplatz und die Eltern mussten in nur zwei Monaten ein neues Heim | |
finden. Die einzige Lösung war das zwei Autostunden entfernte Kappeln. | |
Wollen die Eltern ihr Kind am Wochenende zu sich holen, dauert das Bringen | |
und Holen acht Stunden. Das erschwert den Kontakt. | |
Die Heitmanns berichten, ihre Tochter habe „in den letzten Monaten in der | |
Wohngruppe der Lebenshilfe nur betreut werden“ können, „indem sie sehr | |
häufig in ihrem Zimmer eingeschlossen wurde, damit sie die Abläufe der | |
Gruppe nicht störte“. Dies sei „stets nach der Schule, stets zur | |
Mittagszeit an den Wochenenden und in den Ferien immer wieder | |
zwischendurch“ passiert. Ihr Zimmer sei vom Mobiliar „befreit“ worden, da | |
sie sich laut Aussage des Heims damit selber gefährde. | |
„Wir waren nicht grundsätzlich gegen den Einschluss, weil es ihr auch | |
helfen konnte, sich zu beruhigen“, sagt die Mutter. Doch dies sei nach | |
ihrem Eindruck zuletzt passiert, weil die Abläufe in der Gruppe es | |
erforderten, „und nicht, weil unsere Tochter es brauchte“. So sei das Kind | |
auch, als sie es zuletzt abholte, nachmittags eingeschlossen gewesen, ohne | |
dass sie dafür einen Grund erfuhr. | |
Sie hätten den Träger gebeten, über den Zimmereinschluss Buch zu führen. | |
Doch dies habe der, abgesehen von einer Woche vor etwa anderthalb Jahren, | |
nicht getan. Pikant: Seit Oktober 2017 müssen solche Maßnahmen bei Kindern | |
von einem Richter genehmigt werden. Die Eltern schreiben, dem Träger sei | |
wohl bewusst, dass ein solcher Antrag vor Gericht „wegen der übermäßigen | |
Dauer des Zimmereinschlusses“ keinen Erfolg hätte. Durch den Rauswurf, so | |
vermuten sie, wollte der Träger sich dieses Themas entledigen. | |
## Die Lebenshilfe Stormarn äußert sich nur allgemein | |
Die Wohngruppe in Kappeln schließt das Kind nicht ein, sagt die Mutter. Die | |
Gruppe sei kleiner, habe mehr Personal, gehe „professioneller damit um“. | |
Die Lebenshilfe Stormarn äußert sich wegen Datenschutz nicht zum Fall, nur | |
allgemein. Wenn Einrichtungen bei Menschen mit hohem Betreuungsbedarf | |
feststellten, dass der Schutz der Betreuten und der Mitarbeitenden nicht | |
mehr gewährleistet sei, müsse „eine Unterbringung in einer anderen | |
Einrichtung angestrebt werden“. | |
Dem Sozialministerium in Kiel war der Brief nicht bekannt. Die Heimaufsicht | |
werde nun Kontakt zu den Beteiligten aufnehmen und prüfen, „ob hier | |
aufsichtsrechtliche Themen betroffen sind“, sagt Sprecher Christian Kohl. | |
Über besagten Richtervorbehalt habe das Landesjugendamt alle Träger | |
informiert. „In der Regel wird davon nicht Gebrauch gemacht.“ | |
## Hamburg arbeitet an neuen Wohnmöglichkeiten | |
Die Hamburger Sozialbehörde erklärt, es gebe drei Einrichtungen mit 110 | |
Plätzen für Kinder mit schweren geistigen Behinderungen, und 27 Kinder, die | |
außerhalb der Stadt untergebracht sind. Im Prinzip halte man die Plätze für | |
ausreichend, da es jedoch bundesweit mehr Bedarf gebe, arbeite man daran, | |
„neue Wohnmöglichkeiten für diese Kinder zu schaffen“. | |
Die Eltern erhielten von der Behörde eine persönliche Antwort. Die | |
geschilderten Erlebnisse seien „bestürzend“. Das Fallmanagement sei | |
„irritiert“, dass der Platz gekündigt wurde, ohne die Modalitäten zu | |
prüfen. | |
„Inklusion sieht anders aus“, sagt die Linke Cansu Özdemir. Der Senat müs… | |
dafür sorgen, dass es mehr Plätze für Kinder mit Behinderung in Hamburg und | |
Umgebung gibt, „mit einer Personaldecke, die gute Arbeitsbedingungen | |
ermöglicht“. | |
3 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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