Introduction
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# taz.de -- Mein Sohn Nikita: Er liebt alles, was sich dreht
> Nikita ist Autist und hat das Downsyndrom. Das macht ihn besonders. Sein
> Vater erzählt von den Herausforderungen, die Welt des Jungen zu
> verstehen.
Bild: Nikita mit seiner Mutter Daria
Das Erste, was in den „Coronaferien“ dran glauben musste, war das iPad. Wir
hatten es Nikita im Dezember gekauft, es war sein Kommunikationsmittel. Er
konnte damit, wenn auch begrenzt, am Tisch seine Bedürfnisse mitteilen. In
einem unbeobachteten Moment hat er es durch sein Zimmer geworfen. Zwar
hatte es eine stabile Hülle, doch das Glas zersprang.
Als Zweites zerlegte unser Sohn die Steckdose im Bad, an der die
Waschmaschine hängt, die er so liebt. Er hatte auch zwei
Erstickungsanfälle, beide beim Frühstück. Nikita stopft sich den Mund immer
so voll mit Brot, als hätten wir eine Hungersnot. Dann versucht er zu
kauen. Daria, meine Frau, schnappte Nikita und klopfte ihm auf den Rücken,
ich beugte ihn nach vorn, bis er den Klumpen ausspuckte. Dann mussten wir
selbst tief Luft holen.
Eigentlich hätten die Coronawochen Nikita aus der Bahn werfen können. Er
braucht Routine. Die kleinste Abweichung ist purer Stress. Am liebsten
würde er mit uns morgens um halb acht täglich zur Schule aufbrechen.
Wochenenden sind schwierig. Ferien sowieso. Wir versuchen dann, mit dem
Auto möglichst schnell zu einer Reise aufzubrechen. Im letzten Jahr fuhren
wir in den Osterferien nach Dalmatien, Nikita schaute dabei stundenlang
entspannt aus dem Fenster. Eigentlich ist es ein Widerspruch, aber Nikita
bewältigt Reisen besser als die ständige Präsenz in der Wohnung. Deswegen
schien die Schulschließung zum Fiasko zu werden. Und wurde es nicht.
Jetzt sitzt Nikita gern rittlings auf meinem Schoß und will, wie es Maori
tun, seine Nase auf meine drücken. Das ist für Nikita das, was für andere
ein Kuss ist. Vor Wochen hätten wir das nicht für möglich gehalten. Nikita
hatte Nähe immer gemieden.
## Seine Leidenschaften
Musik ist eine seiner Leidenschaften, die er meist allein genossen hat. Von
„Bob der Bahn“ kann er derzeit nicht genug hören. Das ist eine Lok, die
durch eine Tele-Tubbie-Welt rollt und Buchstaben, Planeten und Tiere
besingt. Bob ist eine US-amerikanische Erfindung, um Fünfjährige zu
sedieren. Nikita besteht jetzt darauf, dass wir uns Bob gemeinsam ansehen,
und er will, dass ich meinen Arm um ihn lege, früher undenkbar.
Wenn Nikita etwas will, reißt er mich oft am Arm, oder er schiebt mich.
„Nikita, zeig’s mir!“ Ich bedeute ihm, Handzeichen zu geben. Wenn er Musik
hören will, rudert er mit den Händen wie ein Dirigent; wenn er Luftballons
will, formt er etwas Rundes. Wenn er etwas haben will, soll er mit dem
Finger auf den Handteller zeigen. Manche Gesten beherrscht er gut, andere
gelingen auch nach Jahren nicht.
Nikita ist unser zweiter Sohn. Er hat das Down-Syndrom, und er ist Autist.
Jede einzelne Abweichung ist ein Phänomen; beides zusammen – das ist
Nikita. Vor fast elf Jahren wurde er geboren. Die Schwangerschaft verlief
ruhig, die Geburt komplikationslos. [1][An einem Morgen im Juni 2009 war er
da.] Daria und ich waren überglücklich und nannten ihn Nikita.
Daria ist Russin, wir hatten für ihn, wie für seinen Bruder Ilja, einen
russischen Namen bestimmt. Schon eine halbe Stunde nach der Geburt aber
hätte ich Nikita am liebsten retour befördert. Ein junger Arzt hatte Nikita
beäugt, Hände und Füße betastet und war wieder verschwunden. „Fällt Ihnen
nichts auf?“, fragte er und sagte dann noch: „Machen Sie sich mit dem
Gedanken vertraut, dass Ihr Sohn das Down-Syndrom hat.“
Der Boden unter uns war weg. Warum konnte Nikita nicht so gesund und
unauffällig sein wie Ilja, den wir hier 16 Monate zuvor bekommen haben?
Unser Leben war wie vom Schlag getroffen. Wir wollten es nicht wahrhaben.
Tagelang verschwiegen wir diese Nachricht vor unseren Verwandten und
Freunden.
Lange hadern konnten wir allerdings nicht. Schnell mussten wir uns an den
Gedanken gewöhnen, dass wir ein behindertes Kind hatten. Mit drei Monaten
wurde Nikita am offenen Herzen operiert. Es folgten Arztbesuche,
Ergotherapie, Logopädie, Schwerbehindertenausweis, Pflegeversicherung,
Jugendamt, Überweisung ins Sozial-Pädiatrische Zentrum, das SPZ. Dort gibt
es wunderbare Ärzte und Therapeutinnen. Trotzdem kamen wir uns vor, als
hätten wir kein Kind, sondern ein medizinisches Problem geboren.
Nikita war zwei Jahre alt, da ahnte seine Ärztin, dass da noch etwas
anderes sein musste. Er verhielt sich nicht wie ein „gewöhnliches“ Kind mit
Trisomie 21. Und zum ersten Mal hörte ich den Begriff: Atypischer Autismus.
Nikita hat sich früh zurückgezogen. Er hat eine Obsession für alles
entwickelt, was sich dreht. Er konnte sehr lange keinen Löffel halten und
auch nicht laufen, aber schnell jedes Ding, was einer Scheibe ähnelte, zum
Tanzen bringen. Das Geräusch eines emsig kreisenden Marmeladendeckels, kurz
bevor er wieder still da liegt, war für Nikita eine Wonne.
Die Leidenschaft für alles Rotierende lebt Nikita inzwischen anders aus. In
der Küche hatten wir Barhocker, hoch wie Nikita, mit runden eisernen Füßen.
Irgendwann ließ er die Hocker tanzen. Drei in einer schmalen Küche, Nikita
mittendrin. Es sah meisterlich aus – und höchst gefährlich. „Nikita, du
könntest im Zirkus auftreten“, sagte ich, schaffte die Requisiten aber
fort.
Wenn er sich jetzt entspannen will, zieht er ins Bad und verlangt, dass wir
die Waschmaschine starten. Oder den Trockner. Am besten beides. Zwar fällt
bei einem Zehnjährigen mit Windeln reichlich Wäsche an, oft genug aber
werfen wir bloß zwei Handtücher in die Trommel; sobald das Wasser rauscht,
drückt er sein Gesicht in das Bullauge und versinkt in der Welt, wo sich
alles dreht. Für ihn muss es das Universum sein. Die Schleudergänge genießt
er besonders.
Nicht alles ist harmlos. Nikita hat sich jahrelang beim kleinsten Anlass
geschlagen – auf die Stirn, auf die Schläfen, auf die Lippen. Manchmal tut
er es heute noch. Er war noch sehr klein, da ist er unbemerkt bei den
Großeltern in die Garage gekrabbelt, hat Angst bekommen und seine Stirn
wieder und wieder auf den Betonboden geschlagen. Sein Gesicht war eine
einzige Schwellung. Kleinste Abweichungen, Unerwartetes können ihn heute
noch augenblicklich überfordern. Auf der Straße lässt er sich dann fallen
und geht keinen Schritt.
Wenn das frische Handtuch im Bad eine andere Farbe hat, weigert er sich,
damit abgetrocknet zu werden. Wenn der Vorhang am Fenster nicht zugezogen
ist, nimmt er keinen Bissen. Und er gibt keine Ruhe, bis nicht bestimmte
Lampen brennen. Es kann auch umgedreht sein – Licht aus, Gardinen auf.
## Er liebt seine Stimme
Nikita liebt seine Stimme und testet sie. Manchmal brüllt er, oder er
bellt, oder er kräht. Manchmal leise, oft laut, oft sehr laut, manchmal wie
eine Sirene. Nikita merkt, dass er damit andere auf sich aufmerksam machen
kann. Er macht es aber auch, wenn er allein ist. Für Nikita ist es Musik.
Und es ist eine Vorform von Sprache. Nikita wird laut, wenn er fröhlich
ist, wenn er erregt ist, wenn er Angst hat. Im Sommer schließen wir das
Fenster. Wir haben zu allen Mitbewohnern ein gutes Verhältnis. Die neuen
Nachbarn auf unserer Etage haben allerdings bald nach dem Einzug eine
Lärmschutzwand zu uns errichtet.
Nikita liebt den Staubsauger und seinen Sound und könnte mit ihm
stundenlang durch die Wohnung ziehen. Er liebt Wasser in jeder Form. Er
liebt Schaukeln. Er liebt Presslufthämmer. Er liebt „Depeche Mode“. Jeder
Morgen beginnt mit „Bob der Bahn“, dann gibt es einen Schwenk zu „Depeche
Mode“. Neuerdings steht er auch auf eine ukrainische Band.
Wir koordinieren die Musik vom Bett aus. Nikita ist meist schon um fünf Uhr
auf, auch im Winter, auch am Wochenende. Einmal gab es eine Reihe von
Tagen, da stand er exakt um 4.57 Uhr neben meinem Bett.
Nikita hat eine innere Uhr. Das mag banal klingen. Aber woher weiß er, dass
Daria Kopfschmerzen hat? Sie hat es noch keinem gesagt, trotzdem legt er
ihr vorsichtig seine Hände auf das Haar und blickt sie aufmerksam an.
Nikita entgeht auch nicht die kleinste Wunde, weder bei sich noch bei
anderen. Manchmal findet er an meinem Arm eine winzige Rötung und
streichelt sie, wieder und wieder.
Hat er einen siebten Sinn? Weiß er etwas, wovon wir nichts wissen? Er steht
dann da, manchmal verlegen, manchmal forsch, doch stets freundlich, und
schaut, als würde er sagen: Lasst mal, so bin ich eben. In diesen Momenten
bekomme ich eine Ahnung, wer Nikita wirklich ist. Da weiß ich, dass er
nicht behindert ist – ein Wort, das ich kaum in den Mund nehme –, sondern
dass er anders ist und dass er Fähigkeiten besitzt, von denen wir nichts
wissen.
Nikita gehört zu den Menschen, die über Sinnesorgane verfügen, für die wir,
die wir uns so überlegen fühlen, vollkommen blind sind. Wir wissen nichts
von ihrem inneren Kosmos, von ihrer Wahrnehmung, ihren Gedanken, ja von
ihrer Weisheit. Nikita kann sich selbst kitzeln und lauthals lachen.
Manchmal sitzt er am Tisch und lacht und lacht. Nikita erzählt sich einen
Witz, sagen wir und lachen mit.
Natürlich gibt es auch Verzweiflung. Wenn Nikita in einer Pfütze sitzt und
nicht fortwill. Wenn er die Treppe nicht hinuntergeht. Oder die 88 Stufen
nicht hinauf. Wenn alles Zureden, alle Tricks und alle Hilfsmittel
versagen. Verstärker nennen wir sie – die Luftballons, die Musik aus dem
Handy, das Rohr vom Staubsauger. Was haben wir nicht alles probiert. Daria
hat ihm Schellen an die Schuhe genäht. Jeder Schritt ein Tsching. Er ist
gelaufen wie Forrest Gump und hat gelacht. „Lauf, Forrest!“, haben wir
gerufen, haben uns gefreut, sind mitgerannt, hinein in seine Förderschule.
Er geht in die fünfte Klasse.
Nach ein paar Tagen war Schluss. Es war im Dezember, da haben wir ihn
wieder in die Schule hineingetragen. Er sitzt da, geht keinen Schritt. Es
regnet. In der Eile machen wir einen Fehler. Als sich der Nebeneingang
öffnet, wollen wir abkürzen. „Komm Nikita, da lang!“ Dabei geht er immer
durch den Haupteingang. Jetzt soll er durch die Nebentür? Nur weil wir es
wollen? Nur weil es regnet? Nikita sitzt auf dem Gehweg, dann fliegt seine
Mütze ins Gebüsch.
„Nikita, alles gut, komm, wir gehen durch den Haupteingang!“ Nikita sitzt
da, der Kopf hängt, Wasser tropft. Wir warten, dann einer links, einer
rechts untergefasst und hochgehoben. Natürlich gefällt ihm das nicht. Er
verdreht den Kopf, er macht sich schwer. Das kann er gut. Es ist, als
würden wir einen 40-Kilo-Kartoffelsack tragen, mit Beinen, die sich
irgendwo festhaken wollen. Seine Hose rutscht. Sein Bauch ist frei. Die
Windel guckt raus. Wir wuchten ihn die Treppe hoch. Dann sitzt er im Flur.
Geschafft.
## Jeder Urlaub ein Abenteuer
Diesmal hat das ein Vater beobachtet. Er sagt: „Ich rufe die Polizei“,
greift zum Handy. „Ich habe auch so eine Tochter“, sagt er, „sie läuft. …
dürfen Sie nicht machen.“ – „Das ist schön, dass Sie so aufmerksam sind…
beginnt Daria, „aber Sie verstehen das nicht. Ihre Tochter hat das
Down-Syndrom wie Nikita, er ist aber auch Autist. Deswegen läuft er nicht.“
Das darf man nicht so machen, beharrt er. „Bitte, wenn Sie wollen, rufen
Sie die Polizei. Man kennt uns hier, gehen Sie zur Direktorin. Wir würden
unserem Kind nie etwas antun.“ Er blickt auf sein Handy. Er wird nicht die
Polizei rufen. Ich bin zu erschöpft, um etwas zu sagen. Und zu wütend.
Zähneputzen ist schwierig, Zahnkontrollen sind eine Tortur, und ein
Mundschutz würde keine fünf Sekunden halten. Der Kardiologe notierte: „EKG
nicht möglich.“ Und Nikita auf dem Drehstuhl beim HNO-Arzt? Bei der
Augenärztin?
Nikita hat bisher vierzig Brillen verschlissen. Vielleicht sechzig. Bügel
abgebrochen, Gestell verbogen, Gläser zerkratzt. Wenn er sich ins Gesicht
schlug, war die Brille schnell hinüber. Das letzte Gestell war aus Gummi,
da hat er mit dem Finger die Gläser herausgedrückt.
Nichts ist einfach. Haareschneiden nicht. Passbilder nicht, biometrische
Passbilder, wo das Gesicht zur Maske erstarren muss, schon gar nicht. Für
ein Visum nach Russland haben wir zu Hause improvisiert. Ich habe als
Hintergrund eine Tafel gehalten, Ilja hat beleuchtet, Daria fotografiert.
„Hallo, Nikita, hierher schauen!“ Nikita hat uns angeblickt, als würde er
fragen: Seid ihr noch normal?
Jeder Urlaub, jeder Museumsbesuch ist ein Abenteuer. In Lemberg in der
Ukraine hob Nikita im Vorbeigehen eine blecherne Tafel vor einem
Souvenirladen an und ließ sie elegant fallen. Dann prasselten fünfzig
keramische Kühlschrankmagneten aufs Pflaster. Die Scherben füllten einen
Eimer. In Freiberg in Sachsen löste Nikita in der Schatzkammer der
Mineraliensammlung Alarm aus. In der Berliner Gemäldegalerie war es knapp
davor. „Die Alarmanlage ist seeehr laut“, sagte ein Herr von der Aufsicht,
als er Nikita durch den Saal fegen sah.
Um Museen machen wir inzwischen einen Bogen, und ich bin zu einer privaten
Haftpflicht gewechselt, die ausdrücklich auch Schäden durch geistig
behinderte Familienangehörige reguliert.
Organisatorischer Kleinkram raubt Zeit. Eine größere Windelsorte zu finden
etwa. Die Kindergrößen sind zu klein, die Windeln aus der Geriatrie zu
groß. Und dann die Ratschläge. Eine Dame vom „Inkontinenzversorger“ empfa…
kleine Einlagen, „schon wegen der Haut“. – „Er kackt richtig hinein“,…
ich ins Telefon.
Eine autismusspezifische Therapie, die das Jugendamt finanziert, hat uns
zwölf Monate lang unzählige Mails, Telefonate und Termine gekostet. Die
Therapeutin hilft uns sehr. Und trotzdem kommt immer wieder der Moment, in
dem wir Nikita nicht erreichen. Dann schaukelt er mit seinem Oberkörper
endlos hin und her oder hopst auf dem Hosenboden durch die Wohnung. Ein
anderes Mal sitzt er da und weint still vor sich hin. Manchmal schlägt er
sich. Dann wieder blickt er uns mit offenem Mund an, als würde er fragen:
Wer seid ihr?
Wir stehen daneben und versuchen, ihn zu verstehen. „Nikita lesen“ ist
unser Ausdruck dafür. Nikita ist wie ein Buch, dessen Sprache wir nicht
beherrschen und die auch nicht gelehrt wird. Wir müssen sie selbst
entschlüsseln. Natürlich wissen wir, dass er uns oft genug versteht. Dass
er reagiert. Dass er aufsteht und das Licht anknipst, wenn wir darum
bitten. Aber wie sieht es in seiner Seele aus? Welche Gefühle hat er?
Welche Ängste? Welche Hoffnungen?
Und dann kommt es vor, dass er uns staunen lässt. Das iPad funktionierte
noch, Nikita löffelte sein Müsli, ich setze mich hinzu und frage: „Na,
Nikita, schmeckt’s?“ Er blickt nur kurz auf und sagt: „Es schmeckt gut!�…
und isst weiter, als wäre nichts geschehen. Wir aber sind sprachlos. Hast
du das gehört? Nikita hat geantwortet.
## Plötzlich unterhalten wir uns
Es ist das erste Mal, dass wir uns, wenn auch sehr kurz, unterhalten haben.
Allerdings nicht mit dem Mund, sondern mit dem iPad. Eine App, entwickelt
von einer Mutter, die ein autistisches Kind hat, liefert Tausende
Piktogramme zu Alltagsdingen, Verrichtungen und Gefühlslagen. Es ist ein
Wörterbuch in Bildern. Ein paar Dutzend dieser Zeichen sind Nikita
inzwischen vertraut, und zu jedem Bild lässt sich ein Text hinzufügen, den
eine Stimme spricht, wenn das Symbol berührt wird. Und plötzlich sagt die
Stimme: „Es schmeckt gut!“ Sie klingt künstlich, doch es war Nikita, der
mit uns sprach.
Down-Syndrom und Autismus ist eine seltene Mischung. Wir haben inzwischen
alle Fachliteratur in deutscher Sprache, drei Bücher über „herausforderndes
Verhalten“. Ich weiß nicht, wie viele Stunden, Tage, Wochen, Daria und ich
zusammengesessen haben. Es gab Gespräche in der Förderschule, Telefonate,
Beratungen. Der Wechsel von der Schuleingangs- zur Mittelstufe im letzten
Herbst war eine gewaltige Umstellung. Andere Etage, neue Räume, neues
Pädagogenteam – es gab Krisensitzungen. Wir hatten schlaflose Nächte.
Nikita braucht in der Klasse eine feste Bezugsperson. Derzeit fehlt sie.
Nikita wird immer auf Menschen angewiesen sein, die ihn „lesen“ können.
Manche können das, manche wollen das, und es gibt welche, die wollen das
nicht. Das kommt selten vor. Es gibt halbjährliche Helferkonferenzen, wo
wir mit Lehrerinnen, Therapeutinnen, dem Einzelfallhelfer und
Sozialarbeiterinnen zusammensitzen und über Strategien beraten. Martin,
sein Einzelfallhelfer, der ihn an drei Nachmittagen betreut, ist inzwischen
wie ein großer Freund.
Brigitte, seiner Kita-Leiterin, ist Nikita so ans Herz gewachsen, dass sie
seit ihrer Pensionierung als „Ersatzoma“ fungiert. Seine deutsche Oma ist
gestorben und seine russische lebt weit weg im Ural. Manchmal sind wir
sprachlos, wie viele großartige Menschen wir durch Nikita kennengelernt
haben. Eine „schillernde Persönlichkeit“ nannte ihn seine Logopädin. Sie
ist fest überzeugt, dass er eines Tages sprechen wird.
Seit Kurzem haben wir einen Rollstuhl. Wenn Nikita das Laufen verweigert,
müssen wir die Ausflüge nicht mehr abbrechen. Er setzt sich in das Gefährt
und lässt sich wie Graf Koks schieben. Bis er wieder seine Beine gebraucht.
Es geht aber auch ganz anders. Eben saß er noch da, plötzlich springt er
vom Bürgersteig auf, rennt los, schaut nicht nach vorn, achtet nicht auf
Fußgänger, nicht auf Autos. So plötzlich, wie er aufgesprungen ist, bleibt
er manchmal stehen. Manchmal aber rennt er weiter. Mir bleibt das Herz
stehen.
Im vorigen Sommer habe ich mir bei einem dieser Sprints einen
Muskelfaserriss geholt und konnte keinen Schritt mehr gehen. Der Urlaub war
gelaufen. Ich habe Nikita verwünscht.
Ich habe ihn verwünscht und verwünsche ihn, wenn er mich um halb fünf aus
dem Tiefschlaf reißt und Musik und einen Luftballon fordert. Wenn er sich,
sobald wir im Auto zu zweit unterwegs sind, abschnallt und meine
Rückenlehne verstellt. Oder wenn er an den Schreibtisch kommt und meinen
Laptop zuklappt. Bis zwanzig zählen, sagt eine erfahrene Therapeutin, und
dann reagieren. Bis vierzig, eine andere, und bitte nicht laut werden.
Manchmal schaffe ich es nicht bis zwei. Inzwischen aber lasse ich den
Computer auch oft genug geschlossen und wir sehen „Bob die Bahn“. Ich sitze
tatsächlich viel zu lange vor dem Bildschirm. Und was kümmert mich die
Kanzlerin?
Ich habe vor drei Jahren meine Vollzeitstelle auf vier Tage die Woche
reduziert, Daria ist an drei Abenden als Sprachdozentin tätig. Alle drei
Jahre leiste ich mir im Sommer zwei Monate unbezahlte Ferien. Nikita hat
Pflegegrad vier, den zweithöchsten, es gibt von der Pflegekasse viel
Unterstützung, auch finanziell. Die Situation in Deutschland und
insbesondere in Berlin, wo von Therapeuten bis zur Förderschule alles
schnell erreichbar ist, lässt sich mit anderen Ländern kaum vergleichen.
Sie ist geradezu luxuriös.
Wir haben russische Freunde, deren Sohn Nikita sehr ähnlich ist. Noch im
Kreißsaal, so berichteten sie, wurde ihnen „angeboten“, ihr Kind gegen ein
gesundes zu tauschen. Auf der Station lagen mehrere Babys, die nach
anonymen Geburten zurückgelassen waren. Niemand würde etwas erfahren. Ihr
Sohn hingegen wäre im Heim verschwunden. Auch weil sie später mehrfach vom
Amt bedrängt wurde, ihr Kind in eine psychiatrische Anstalt zu geben, hat
die Familie Russland verlassen. Sie lebt unter schwierigen Verhältnissen in
einem Land, wo es eine deutlich bessere Förderung gibt. Ich bewundere ihre
Konsequenz – und ihre Liebe.
In Deutschland gibt es seit acht Jahren einen Bluttest, der das
Down-Syndrom in der Schwangerschaft feststellt. [2][Seit 2019 übernehmen
Krankenkassen, unter Bedingungen, die Kosten.] Laboranten suchen dabei im
Erbmaterial des Fötus wie Gütekontrolleure nach Abweichungen. So hatte der
Arzt bei Nikita auch gesucht. Und doch.
## Wir waren kopflos
Unsere Reaktion auf Nikita war nicht anders als die anderer Eltern in
vergleichbarer Lage. Die ersten Tage bin ich herumgelaufen, als würde ich
zu einer Beerdigung gehen. Und es war ja eine. Wir haben Träume beerdigt.
Wir träumten von zwei Jungs, die miteinander balgen. Auch ein drittes Kind
wollten wir. Und wir gingen wie selbstverständlich davon aus, dass Nikita
gesund sein würde.
Aber was ist wirklich selbstverständlich? Weder das eigene Leben noch das
der Kinder und auch nicht ein Dasein, frei von Sorge und Zumutung.
Darias Arzt hat sich nach Nikitas Geburt gemeldet und irgendwie bedauert,
dass ihm beim Ultraschall wohl etwas entgangen sein muss. Als ob wir, als
ob irgendjemand ein Recht hat auf makellosen, pflegeleichten Nachwuchs.
Hatte er Angst, dass wir ihn verklagen? Nikita kam zu uns wie ein
Außerirdischer. Oder er kam direkt aus Gottes Hand. Und wir? Wir waren
kopflos, wir hatten Angst, wir haben wie Unwissende an den Lippen der Ärzte
gehangen, als würden sie uns die Zukunft vorhersagen.
Wenn jetzt vierteljährlich der Arztbrief kommt, überfliege ich ihn
höchstens und hefte ihn ab. Nikita ist nicht das, was Mediziner schreiben.
Sicher, er braucht Unterstützung, beim An- und Ausziehen, beim Waschen,
beim Essen, beim Trinken, eigentlich bei allem. Fenster und Balkone habe
ich mit Netzen gesichert, weil schon Blumentöpfe, Bälle und Kannen auf die
Straße geflogen sind. Trotzdem muss einer immer ein Auge auf Nikita haben.
Er hat einen Behindertenausweis mit allerlei „Merkzeichen“, er hat den
zweithöchsten Pflegegrad. Nikita ist eine Zumutung, manchmal. Wer ist das
nicht?
## Nikita wird sein Leben leben
Wir haben in unserem Wohnzimmer eine Fotogalerie mit Nikitas deutschen und
russischen Vorfahren. Sein russischer Großvater wurde als Kleinkind aus dem
belagerten Leningrad evakuiert und so vor dem Hungertod bewahrt. Sein
deutscher Großvater gehörte zu den Millionen Soldaten, die in die
Sowjetunion einmarschiert waren. Später hat er dafür in einem französischen
Bergwerk bezahlt. Und seine deutsche Großmutter erlebte als 17-Jährige, wie
ihr Dorf von der Front überrollt wurde, wenig später musste sie es binnen
Stunden für immer verlassen. Sie schauen uns zu. Und wir, die wir im
Vergleich zu ihnen im Überfluss schwelgen, sollten ihnen sagen, dass uns
Nikita zu anstrengend ist?
Und was würde sein, wenn Nikita „normal“ wäre? Wir würden ihn zum
Klavierunterricht schicken, zum Basketball, der Wettlauf um einen Platz auf
irgendeinem Gymnasium stünde an – all das kennen wir schon von Ilja, seinem
Bruder. Smartphones interessieren Nikita ebenso wenig wie Taschengeld und
Markenschuhe, und über Hausaufgaben streiten wir auch nicht. „So schafft
Ihr Kind es nach Harvard“, fand ich einmal einen Artikel überschrieben. Ich
musste lachen.
Nikita wird sein Leben leben. Er hat ein Recht darauf. Er wird, wenn er
groß ist, vermutlich in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen, und er wird
eine Arbeit finden. Manchmal sehe ich ihn in einem Waschsalon. Oder er
zieht mit einem Staubsauger über einen Hotelflur. Vielleicht findet er auf
einem Hühnerhof Erfüllung. Hühner liebt er über alles, leider sind sie in
der Stadt als Haustiere ungeeignet. Er wird Freunde finden, und er wird
sich verlieben. Er kommt langsam in die Pubertät. Das wird spannend – und
sicher anstrengend.
Eigentlich ist Nikita genau das, was unsere Gesellschaft so gern fördern
möchte. Nikita ist divers. Viel mehr geht nicht. Er passt gut nach Berlin,
er hat kein Interesse an Autos, fährt lieber Straßenbahn, er ist
Postmaterialist, ganz bestimmt Nonkonformist, er ist auffällig langsam, und
unter Druck läuft nichts, gar nichts. Er ist das Gegenteil zu all den
Selbstoptimierern, die mit Schrittzähler am Arm ihrem Glück nachlaufen.
Vor einem Jahr habe ich mir einen Traum erfüllt. Der Muskelfaserriss war
einigermaßen verheilt, da fuhr ich zu einem Holzhandel. Tagelang habe ich
gearbeitet. Am fünften Tag saß er auf der Schaukel. Nikita hat gestrahlt.
In den vergangenen Wochen hat die Schaukel die Stimmung gerettet. Nikita
saust durch die Luft. Manchmal geht mein Blick zu den Schraubverbindungen,
aber eigentlich setze ich mich am liebsten in die Ecke und schaue meinem
jüngsten Sohn stolz beim Fliegen zu. Zeit werden wir haben. Die Öffnung von
Nikitas Schule ist noch nicht in Sicht.
Immerhin, am Tisch können wir uns wieder unterhalten. Wir haben ein neues
iPad gekauft, dieses Mal mit einer Drei-Jahres-Versicherung gegen
Display-Bruch.
16 May 2020
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Thomas Gerlach
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Eine sonntaz-Weihnachtsgeschichte.
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