| # taz.de -- Mein Sohn Nikita: Er liebt alles, was sich dreht | |
| > Nikita ist Autist und hat das Downsyndrom. Das macht ihn besonders. Sein | |
| > Vater erzählt von den Herausforderungen, die Welt des Jungen zu | |
| > verstehen. | |
| Bild: Nikita mit seiner Mutter Daria | |
| Das Erste, was in den „Coronaferien“ dran glauben musste, war das iPad. Wir | |
| hatten es Nikita im Dezember gekauft, es war sein Kommunikationsmittel. Er | |
| konnte damit, wenn auch begrenzt, am Tisch seine Bedürfnisse mitteilen. In | |
| einem unbeobachteten Moment hat er es durch sein Zimmer geworfen. Zwar | |
| hatte es eine stabile Hülle, doch das Glas zersprang. | |
| Als Zweites zerlegte unser Sohn die Steckdose im Bad, an der die | |
| Waschmaschine hängt, die er so liebt. Er hatte auch zwei | |
| Erstickungsanfälle, beide beim Frühstück. Nikita stopft sich den Mund immer | |
| so voll mit Brot, als hätten wir eine Hungersnot. Dann versucht er zu | |
| kauen. Daria, meine Frau, schnappte Nikita und klopfte ihm auf den Rücken, | |
| ich beugte ihn nach vorn, bis er den Klumpen ausspuckte. Dann mussten wir | |
| selbst tief Luft holen. | |
| Eigentlich hätten die Coronawochen Nikita aus der Bahn werfen können. Er | |
| braucht Routine. Die kleinste Abweichung ist purer Stress. Am liebsten | |
| würde er mit uns morgens um halb acht täglich zur Schule aufbrechen. | |
| Wochenenden sind schwierig. Ferien sowieso. Wir versuchen dann, mit dem | |
| Auto möglichst schnell zu einer Reise aufzubrechen. Im letzten Jahr fuhren | |
| wir in den Osterferien nach Dalmatien, Nikita schaute dabei stundenlang | |
| entspannt aus dem Fenster. Eigentlich ist es ein Widerspruch, aber Nikita | |
| bewältigt Reisen besser als die ständige Präsenz in der Wohnung. Deswegen | |
| schien die Schulschließung zum Fiasko zu werden. Und wurde es nicht. | |
| Jetzt sitzt Nikita gern rittlings auf meinem Schoß und will, wie es Maori | |
| tun, seine Nase auf meine drücken. Das ist für Nikita das, was für andere | |
| ein Kuss ist. Vor Wochen hätten wir das nicht für möglich gehalten. Nikita | |
| hatte Nähe immer gemieden. | |
| ## Seine Leidenschaften | |
| Musik ist eine seiner Leidenschaften, die er meist allein genossen hat. Von | |
| „Bob der Bahn“ kann er derzeit nicht genug hören. Das ist eine Lok, die | |
| durch eine Tele-Tubbie-Welt rollt und Buchstaben, Planeten und Tiere | |
| besingt. Bob ist eine US-amerikanische Erfindung, um Fünfjährige zu | |
| sedieren. Nikita besteht jetzt darauf, dass wir uns Bob gemeinsam ansehen, | |
| und er will, dass ich meinen Arm um ihn lege, früher undenkbar. | |
| Wenn Nikita etwas will, reißt er mich oft am Arm, oder er schiebt mich. | |
| „Nikita, zeig’s mir!“ Ich bedeute ihm, Handzeichen zu geben. Wenn er Musik | |
| hören will, rudert er mit den Händen wie ein Dirigent; wenn er Luftballons | |
| will, formt er etwas Rundes. Wenn er etwas haben will, soll er mit dem | |
| Finger auf den Handteller zeigen. Manche Gesten beherrscht er gut, andere | |
| gelingen auch nach Jahren nicht. | |
| Nikita ist unser zweiter Sohn. Er hat das Down-Syndrom, und er ist Autist. | |
| Jede einzelne Abweichung ist ein Phänomen; beides zusammen – das ist | |
| Nikita. Vor fast elf Jahren wurde er geboren. Die Schwangerschaft verlief | |
| ruhig, die Geburt komplikationslos. [1][An einem Morgen im Juni 2009 war er | |
| da.] Daria und ich waren überglücklich und nannten ihn Nikita. | |
| Daria ist Russin, wir hatten für ihn, wie für seinen Bruder Ilja, einen | |
| russischen Namen bestimmt. Schon eine halbe Stunde nach der Geburt aber | |
| hätte ich Nikita am liebsten retour befördert. Ein junger Arzt hatte Nikita | |
| beäugt, Hände und Füße betastet und war wieder verschwunden. „Fällt Ihnen | |
| nichts auf?“, fragte er und sagte dann noch: „Machen Sie sich mit dem | |
| Gedanken vertraut, dass Ihr Sohn das Down-Syndrom hat.“ | |
| Der Boden unter uns war weg. Warum konnte Nikita nicht so gesund und | |
| unauffällig sein wie Ilja, den wir hier 16 Monate zuvor bekommen haben? | |
| Unser Leben war wie vom Schlag getroffen. Wir wollten es nicht wahrhaben. | |
| Tagelang verschwiegen wir diese Nachricht vor unseren Verwandten und | |
| Freunden. | |
| Lange hadern konnten wir allerdings nicht. Schnell mussten wir uns an den | |
| Gedanken gewöhnen, dass wir ein behindertes Kind hatten. Mit drei Monaten | |
| wurde Nikita am offenen Herzen operiert. Es folgten Arztbesuche, | |
| Ergotherapie, Logopädie, Schwerbehindertenausweis, Pflegeversicherung, | |
| Jugendamt, Überweisung ins Sozial-Pädiatrische Zentrum, das SPZ. Dort gibt | |
| es wunderbare Ärzte und Therapeutinnen. Trotzdem kamen wir uns vor, als | |
| hätten wir kein Kind, sondern ein medizinisches Problem geboren. | |
| Nikita war zwei Jahre alt, da ahnte seine Ärztin, dass da noch etwas | |
| anderes sein musste. Er verhielt sich nicht wie ein „gewöhnliches“ Kind mit | |
| Trisomie 21. Und zum ersten Mal hörte ich den Begriff: Atypischer Autismus. | |
| Nikita hat sich früh zurückgezogen. Er hat eine Obsession für alles | |
| entwickelt, was sich dreht. Er konnte sehr lange keinen Löffel halten und | |
| auch nicht laufen, aber schnell jedes Ding, was einer Scheibe ähnelte, zum | |
| Tanzen bringen. Das Geräusch eines emsig kreisenden Marmeladendeckels, kurz | |
| bevor er wieder still da liegt, war für Nikita eine Wonne. | |
| Die Leidenschaft für alles Rotierende lebt Nikita inzwischen anders aus. In | |
| der Küche hatten wir Barhocker, hoch wie Nikita, mit runden eisernen Füßen. | |
| Irgendwann ließ er die Hocker tanzen. Drei in einer schmalen Küche, Nikita | |
| mittendrin. Es sah meisterlich aus – und höchst gefährlich. „Nikita, du | |
| könntest im Zirkus auftreten“, sagte ich, schaffte die Requisiten aber | |
| fort. | |
| Wenn er sich jetzt entspannen will, zieht er ins Bad und verlangt, dass wir | |
| die Waschmaschine starten. Oder den Trockner. Am besten beides. Zwar fällt | |
| bei einem Zehnjährigen mit Windeln reichlich Wäsche an, oft genug aber | |
| werfen wir bloß zwei Handtücher in die Trommel; sobald das Wasser rauscht, | |
| drückt er sein Gesicht in das Bullauge und versinkt in der Welt, wo sich | |
| alles dreht. Für ihn muss es das Universum sein. Die Schleudergänge genießt | |
| er besonders. | |
| Nicht alles ist harmlos. Nikita hat sich jahrelang beim kleinsten Anlass | |
| geschlagen – auf die Stirn, auf die Schläfen, auf die Lippen. Manchmal tut | |
| er es heute noch. Er war noch sehr klein, da ist er unbemerkt bei den | |
| Großeltern in die Garage gekrabbelt, hat Angst bekommen und seine Stirn | |
| wieder und wieder auf den Betonboden geschlagen. Sein Gesicht war eine | |
| einzige Schwellung. Kleinste Abweichungen, Unerwartetes können ihn heute | |
| noch augenblicklich überfordern. Auf der Straße lässt er sich dann fallen | |
| und geht keinen Schritt. | |
| Wenn das frische Handtuch im Bad eine andere Farbe hat, weigert er sich, | |
| damit abgetrocknet zu werden. Wenn der Vorhang am Fenster nicht zugezogen | |
| ist, nimmt er keinen Bissen. Und er gibt keine Ruhe, bis nicht bestimmte | |
| Lampen brennen. Es kann auch umgedreht sein – Licht aus, Gardinen auf. | |
| ## Er liebt seine Stimme | |
| Nikita liebt seine Stimme und testet sie. Manchmal brüllt er, oder er | |
| bellt, oder er kräht. Manchmal leise, oft laut, oft sehr laut, manchmal wie | |
| eine Sirene. Nikita merkt, dass er damit andere auf sich aufmerksam machen | |
| kann. Er macht es aber auch, wenn er allein ist. Für Nikita ist es Musik. | |
| Und es ist eine Vorform von Sprache. Nikita wird laut, wenn er fröhlich | |
| ist, wenn er erregt ist, wenn er Angst hat. Im Sommer schließen wir das | |
| Fenster. Wir haben zu allen Mitbewohnern ein gutes Verhältnis. Die neuen | |
| Nachbarn auf unserer Etage haben allerdings bald nach dem Einzug eine | |
| Lärmschutzwand zu uns errichtet. | |
| Nikita liebt den Staubsauger und seinen Sound und könnte mit ihm | |
| stundenlang durch die Wohnung ziehen. Er liebt Wasser in jeder Form. Er | |
| liebt Schaukeln. Er liebt Presslufthämmer. Er liebt „Depeche Mode“. Jeder | |
| Morgen beginnt mit „Bob der Bahn“, dann gibt es einen Schwenk zu „Depeche | |
| Mode“. Neuerdings steht er auch auf eine ukrainische Band. | |
| Wir koordinieren die Musik vom Bett aus. Nikita ist meist schon um fünf Uhr | |
| auf, auch im Winter, auch am Wochenende. Einmal gab es eine Reihe von | |
| Tagen, da stand er exakt um 4.57 Uhr neben meinem Bett. | |
| Nikita hat eine innere Uhr. Das mag banal klingen. Aber woher weiß er, dass | |
| Daria Kopfschmerzen hat? Sie hat es noch keinem gesagt, trotzdem legt er | |
| ihr vorsichtig seine Hände auf das Haar und blickt sie aufmerksam an. | |
| Nikita entgeht auch nicht die kleinste Wunde, weder bei sich noch bei | |
| anderen. Manchmal findet er an meinem Arm eine winzige Rötung und | |
| streichelt sie, wieder und wieder. | |
| Hat er einen siebten Sinn? Weiß er etwas, wovon wir nichts wissen? Er steht | |
| dann da, manchmal verlegen, manchmal forsch, doch stets freundlich, und | |
| schaut, als würde er sagen: Lasst mal, so bin ich eben. In diesen Momenten | |
| bekomme ich eine Ahnung, wer Nikita wirklich ist. Da weiß ich, dass er | |
| nicht behindert ist – ein Wort, das ich kaum in den Mund nehme –, sondern | |
| dass er anders ist und dass er Fähigkeiten besitzt, von denen wir nichts | |
| wissen. | |
| Nikita gehört zu den Menschen, die über Sinnesorgane verfügen, für die wir, | |
| die wir uns so überlegen fühlen, vollkommen blind sind. Wir wissen nichts | |
| von ihrem inneren Kosmos, von ihrer Wahrnehmung, ihren Gedanken, ja von | |
| ihrer Weisheit. Nikita kann sich selbst kitzeln und lauthals lachen. | |
| Manchmal sitzt er am Tisch und lacht und lacht. Nikita erzählt sich einen | |
| Witz, sagen wir und lachen mit. | |
| Natürlich gibt es auch Verzweiflung. Wenn Nikita in einer Pfütze sitzt und | |
| nicht fortwill. Wenn er die Treppe nicht hinuntergeht. Oder die 88 Stufen | |
| nicht hinauf. Wenn alles Zureden, alle Tricks und alle Hilfsmittel | |
| versagen. Verstärker nennen wir sie – die Luftballons, die Musik aus dem | |
| Handy, das Rohr vom Staubsauger. Was haben wir nicht alles probiert. Daria | |
| hat ihm Schellen an die Schuhe genäht. Jeder Schritt ein Tsching. Er ist | |
| gelaufen wie Forrest Gump und hat gelacht. „Lauf, Forrest!“, haben wir | |
| gerufen, haben uns gefreut, sind mitgerannt, hinein in seine Förderschule. | |
| Er geht in die fünfte Klasse. | |
| Nach ein paar Tagen war Schluss. Es war im Dezember, da haben wir ihn | |
| wieder in die Schule hineingetragen. Er sitzt da, geht keinen Schritt. Es | |
| regnet. In der Eile machen wir einen Fehler. Als sich der Nebeneingang | |
| öffnet, wollen wir abkürzen. „Komm Nikita, da lang!“ Dabei geht er immer | |
| durch den Haupteingang. Jetzt soll er durch die Nebentür? Nur weil wir es | |
| wollen? Nur weil es regnet? Nikita sitzt auf dem Gehweg, dann fliegt seine | |
| Mütze ins Gebüsch. | |
| „Nikita, alles gut, komm, wir gehen durch den Haupteingang!“ Nikita sitzt | |
| da, der Kopf hängt, Wasser tropft. Wir warten, dann einer links, einer | |
| rechts untergefasst und hochgehoben. Natürlich gefällt ihm das nicht. Er | |
| verdreht den Kopf, er macht sich schwer. Das kann er gut. Es ist, als | |
| würden wir einen 40-Kilo-Kartoffelsack tragen, mit Beinen, die sich | |
| irgendwo festhaken wollen. Seine Hose rutscht. Sein Bauch ist frei. Die | |
| Windel guckt raus. Wir wuchten ihn die Treppe hoch. Dann sitzt er im Flur. | |
| Geschafft. | |
| ## Jeder Urlaub ein Abenteuer | |
| Diesmal hat das ein Vater beobachtet. Er sagt: „Ich rufe die Polizei“, | |
| greift zum Handy. „Ich habe auch so eine Tochter“, sagt er, „sie läuft. … | |
| dürfen Sie nicht machen.“ – „Das ist schön, dass Sie so aufmerksam sind… | |
| beginnt Daria, „aber Sie verstehen das nicht. Ihre Tochter hat das | |
| Down-Syndrom wie Nikita, er ist aber auch Autist. Deswegen läuft er nicht.“ | |
| Das darf man nicht so machen, beharrt er. „Bitte, wenn Sie wollen, rufen | |
| Sie die Polizei. Man kennt uns hier, gehen Sie zur Direktorin. Wir würden | |
| unserem Kind nie etwas antun.“ Er blickt auf sein Handy. Er wird nicht die | |
| Polizei rufen. Ich bin zu erschöpft, um etwas zu sagen. Und zu wütend. | |
| Zähneputzen ist schwierig, Zahnkontrollen sind eine Tortur, und ein | |
| Mundschutz würde keine fünf Sekunden halten. Der Kardiologe notierte: „EKG | |
| nicht möglich.“ Und Nikita auf dem Drehstuhl beim HNO-Arzt? Bei der | |
| Augenärztin? | |
| Nikita hat bisher vierzig Brillen verschlissen. Vielleicht sechzig. Bügel | |
| abgebrochen, Gestell verbogen, Gläser zerkratzt. Wenn er sich ins Gesicht | |
| schlug, war die Brille schnell hinüber. Das letzte Gestell war aus Gummi, | |
| da hat er mit dem Finger die Gläser herausgedrückt. | |
| Nichts ist einfach. Haareschneiden nicht. Passbilder nicht, biometrische | |
| Passbilder, wo das Gesicht zur Maske erstarren muss, schon gar nicht. Für | |
| ein Visum nach Russland haben wir zu Hause improvisiert. Ich habe als | |
| Hintergrund eine Tafel gehalten, Ilja hat beleuchtet, Daria fotografiert. | |
| „Hallo, Nikita, hierher schauen!“ Nikita hat uns angeblickt, als würde er | |
| fragen: Seid ihr noch normal? | |
| Jeder Urlaub, jeder Museumsbesuch ist ein Abenteuer. In Lemberg in der | |
| Ukraine hob Nikita im Vorbeigehen eine blecherne Tafel vor einem | |
| Souvenirladen an und ließ sie elegant fallen. Dann prasselten fünfzig | |
| keramische Kühlschrankmagneten aufs Pflaster. Die Scherben füllten einen | |
| Eimer. In Freiberg in Sachsen löste Nikita in der Schatzkammer der | |
| Mineraliensammlung Alarm aus. In der Berliner Gemäldegalerie war es knapp | |
| davor. „Die Alarmanlage ist seeehr laut“, sagte ein Herr von der Aufsicht, | |
| als er Nikita durch den Saal fegen sah. | |
| Um Museen machen wir inzwischen einen Bogen, und ich bin zu einer privaten | |
| Haftpflicht gewechselt, die ausdrücklich auch Schäden durch geistig | |
| behinderte Familienangehörige reguliert. | |
| Organisatorischer Kleinkram raubt Zeit. Eine größere Windelsorte zu finden | |
| etwa. Die Kindergrößen sind zu klein, die Windeln aus der Geriatrie zu | |
| groß. Und dann die Ratschläge. Eine Dame vom „Inkontinenzversorger“ empfa… | |
| kleine Einlagen, „schon wegen der Haut“. – „Er kackt richtig hinein“,… | |
| ich ins Telefon. | |
| Eine autismusspezifische Therapie, die das Jugendamt finanziert, hat uns | |
| zwölf Monate lang unzählige Mails, Telefonate und Termine gekostet. Die | |
| Therapeutin hilft uns sehr. Und trotzdem kommt immer wieder der Moment, in | |
| dem wir Nikita nicht erreichen. Dann schaukelt er mit seinem Oberkörper | |
| endlos hin und her oder hopst auf dem Hosenboden durch die Wohnung. Ein | |
| anderes Mal sitzt er da und weint still vor sich hin. Manchmal schlägt er | |
| sich. Dann wieder blickt er uns mit offenem Mund an, als würde er fragen: | |
| Wer seid ihr? | |
| Wir stehen daneben und versuchen, ihn zu verstehen. „Nikita lesen“ ist | |
| unser Ausdruck dafür. Nikita ist wie ein Buch, dessen Sprache wir nicht | |
| beherrschen und die auch nicht gelehrt wird. Wir müssen sie selbst | |
| entschlüsseln. Natürlich wissen wir, dass er uns oft genug versteht. Dass | |
| er reagiert. Dass er aufsteht und das Licht anknipst, wenn wir darum | |
| bitten. Aber wie sieht es in seiner Seele aus? Welche Gefühle hat er? | |
| Welche Ängste? Welche Hoffnungen? | |
| Und dann kommt es vor, dass er uns staunen lässt. Das iPad funktionierte | |
| noch, Nikita löffelte sein Müsli, ich setze mich hinzu und frage: „Na, | |
| Nikita, schmeckt’s?“ Er blickt nur kurz auf und sagt: „Es schmeckt gut!�… | |
| und isst weiter, als wäre nichts geschehen. Wir aber sind sprachlos. Hast | |
| du das gehört? Nikita hat geantwortet. | |
| ## Plötzlich unterhalten wir uns | |
| Es ist das erste Mal, dass wir uns, wenn auch sehr kurz, unterhalten haben. | |
| Allerdings nicht mit dem Mund, sondern mit dem iPad. Eine App, entwickelt | |
| von einer Mutter, die ein autistisches Kind hat, liefert Tausende | |
| Piktogramme zu Alltagsdingen, Verrichtungen und Gefühlslagen. Es ist ein | |
| Wörterbuch in Bildern. Ein paar Dutzend dieser Zeichen sind Nikita | |
| inzwischen vertraut, und zu jedem Bild lässt sich ein Text hinzufügen, den | |
| eine Stimme spricht, wenn das Symbol berührt wird. Und plötzlich sagt die | |
| Stimme: „Es schmeckt gut!“ Sie klingt künstlich, doch es war Nikita, der | |
| mit uns sprach. | |
| Down-Syndrom und Autismus ist eine seltene Mischung. Wir haben inzwischen | |
| alle Fachliteratur in deutscher Sprache, drei Bücher über „herausforderndes | |
| Verhalten“. Ich weiß nicht, wie viele Stunden, Tage, Wochen, Daria und ich | |
| zusammengesessen haben. Es gab Gespräche in der Förderschule, Telefonate, | |
| Beratungen. Der Wechsel von der Schuleingangs- zur Mittelstufe im letzten | |
| Herbst war eine gewaltige Umstellung. Andere Etage, neue Räume, neues | |
| Pädagogenteam – es gab Krisensitzungen. Wir hatten schlaflose Nächte. | |
| Nikita braucht in der Klasse eine feste Bezugsperson. Derzeit fehlt sie. | |
| Nikita wird immer auf Menschen angewiesen sein, die ihn „lesen“ können. | |
| Manche können das, manche wollen das, und es gibt welche, die wollen das | |
| nicht. Das kommt selten vor. Es gibt halbjährliche Helferkonferenzen, wo | |
| wir mit Lehrerinnen, Therapeutinnen, dem Einzelfallhelfer und | |
| Sozialarbeiterinnen zusammensitzen und über Strategien beraten. Martin, | |
| sein Einzelfallhelfer, der ihn an drei Nachmittagen betreut, ist inzwischen | |
| wie ein großer Freund. | |
| Brigitte, seiner Kita-Leiterin, ist Nikita so ans Herz gewachsen, dass sie | |
| seit ihrer Pensionierung als „Ersatzoma“ fungiert. Seine deutsche Oma ist | |
| gestorben und seine russische lebt weit weg im Ural. Manchmal sind wir | |
| sprachlos, wie viele großartige Menschen wir durch Nikita kennengelernt | |
| haben. Eine „schillernde Persönlichkeit“ nannte ihn seine Logopädin. Sie | |
| ist fest überzeugt, dass er eines Tages sprechen wird. | |
| Seit Kurzem haben wir einen Rollstuhl. Wenn Nikita das Laufen verweigert, | |
| müssen wir die Ausflüge nicht mehr abbrechen. Er setzt sich in das Gefährt | |
| und lässt sich wie Graf Koks schieben. Bis er wieder seine Beine gebraucht. | |
| Es geht aber auch ganz anders. Eben saß er noch da, plötzlich springt er | |
| vom Bürgersteig auf, rennt los, schaut nicht nach vorn, achtet nicht auf | |
| Fußgänger, nicht auf Autos. So plötzlich, wie er aufgesprungen ist, bleibt | |
| er manchmal stehen. Manchmal aber rennt er weiter. Mir bleibt das Herz | |
| stehen. | |
| Im vorigen Sommer habe ich mir bei einem dieser Sprints einen | |
| Muskelfaserriss geholt und konnte keinen Schritt mehr gehen. Der Urlaub war | |
| gelaufen. Ich habe Nikita verwünscht. | |
| Ich habe ihn verwünscht und verwünsche ihn, wenn er mich um halb fünf aus | |
| dem Tiefschlaf reißt und Musik und einen Luftballon fordert. Wenn er sich, | |
| sobald wir im Auto zu zweit unterwegs sind, abschnallt und meine | |
| Rückenlehne verstellt. Oder wenn er an den Schreibtisch kommt und meinen | |
| Laptop zuklappt. Bis zwanzig zählen, sagt eine erfahrene Therapeutin, und | |
| dann reagieren. Bis vierzig, eine andere, und bitte nicht laut werden. | |
| Manchmal schaffe ich es nicht bis zwei. Inzwischen aber lasse ich den | |
| Computer auch oft genug geschlossen und wir sehen „Bob die Bahn“. Ich sitze | |
| tatsächlich viel zu lange vor dem Bildschirm. Und was kümmert mich die | |
| Kanzlerin? | |
| Ich habe vor drei Jahren meine Vollzeitstelle auf vier Tage die Woche | |
| reduziert, Daria ist an drei Abenden als Sprachdozentin tätig. Alle drei | |
| Jahre leiste ich mir im Sommer zwei Monate unbezahlte Ferien. Nikita hat | |
| Pflegegrad vier, den zweithöchsten, es gibt von der Pflegekasse viel | |
| Unterstützung, auch finanziell. Die Situation in Deutschland und | |
| insbesondere in Berlin, wo von Therapeuten bis zur Förderschule alles | |
| schnell erreichbar ist, lässt sich mit anderen Ländern kaum vergleichen. | |
| Sie ist geradezu luxuriös. | |
| Wir haben russische Freunde, deren Sohn Nikita sehr ähnlich ist. Noch im | |
| Kreißsaal, so berichteten sie, wurde ihnen „angeboten“, ihr Kind gegen ein | |
| gesundes zu tauschen. Auf der Station lagen mehrere Babys, die nach | |
| anonymen Geburten zurückgelassen waren. Niemand würde etwas erfahren. Ihr | |
| Sohn hingegen wäre im Heim verschwunden. Auch weil sie später mehrfach vom | |
| Amt bedrängt wurde, ihr Kind in eine psychiatrische Anstalt zu geben, hat | |
| die Familie Russland verlassen. Sie lebt unter schwierigen Verhältnissen in | |
| einem Land, wo es eine deutlich bessere Förderung gibt. Ich bewundere ihre | |
| Konsequenz – und ihre Liebe. | |
| In Deutschland gibt es seit acht Jahren einen Bluttest, der das | |
| Down-Syndrom in der Schwangerschaft feststellt. [2][Seit 2019 übernehmen | |
| Krankenkassen, unter Bedingungen, die Kosten.] Laboranten suchen dabei im | |
| Erbmaterial des Fötus wie Gütekontrolleure nach Abweichungen. So hatte der | |
| Arzt bei Nikita auch gesucht. Und doch. | |
| ## Wir waren kopflos | |
| Unsere Reaktion auf Nikita war nicht anders als die anderer Eltern in | |
| vergleichbarer Lage. Die ersten Tage bin ich herumgelaufen, als würde ich | |
| zu einer Beerdigung gehen. Und es war ja eine. Wir haben Träume beerdigt. | |
| Wir träumten von zwei Jungs, die miteinander balgen. Auch ein drittes Kind | |
| wollten wir. Und wir gingen wie selbstverständlich davon aus, dass Nikita | |
| gesund sein würde. | |
| Aber was ist wirklich selbstverständlich? Weder das eigene Leben noch das | |
| der Kinder und auch nicht ein Dasein, frei von Sorge und Zumutung. | |
| Darias Arzt hat sich nach Nikitas Geburt gemeldet und irgendwie bedauert, | |
| dass ihm beim Ultraschall wohl etwas entgangen sein muss. Als ob wir, als | |
| ob irgendjemand ein Recht hat auf makellosen, pflegeleichten Nachwuchs. | |
| Hatte er Angst, dass wir ihn verklagen? Nikita kam zu uns wie ein | |
| Außerirdischer. Oder er kam direkt aus Gottes Hand. Und wir? Wir waren | |
| kopflos, wir hatten Angst, wir haben wie Unwissende an den Lippen der Ärzte | |
| gehangen, als würden sie uns die Zukunft vorhersagen. | |
| Wenn jetzt vierteljährlich der Arztbrief kommt, überfliege ich ihn | |
| höchstens und hefte ihn ab. Nikita ist nicht das, was Mediziner schreiben. | |
| Sicher, er braucht Unterstützung, beim An- und Ausziehen, beim Waschen, | |
| beim Essen, beim Trinken, eigentlich bei allem. Fenster und Balkone habe | |
| ich mit Netzen gesichert, weil schon Blumentöpfe, Bälle und Kannen auf die | |
| Straße geflogen sind. Trotzdem muss einer immer ein Auge auf Nikita haben. | |
| Er hat einen Behindertenausweis mit allerlei „Merkzeichen“, er hat den | |
| zweithöchsten Pflegegrad. Nikita ist eine Zumutung, manchmal. Wer ist das | |
| nicht? | |
| ## Nikita wird sein Leben leben | |
| Wir haben in unserem Wohnzimmer eine Fotogalerie mit Nikitas deutschen und | |
| russischen Vorfahren. Sein russischer Großvater wurde als Kleinkind aus dem | |
| belagerten Leningrad evakuiert und so vor dem Hungertod bewahrt. Sein | |
| deutscher Großvater gehörte zu den Millionen Soldaten, die in die | |
| Sowjetunion einmarschiert waren. Später hat er dafür in einem französischen | |
| Bergwerk bezahlt. Und seine deutsche Großmutter erlebte als 17-Jährige, wie | |
| ihr Dorf von der Front überrollt wurde, wenig später musste sie es binnen | |
| Stunden für immer verlassen. Sie schauen uns zu. Und wir, die wir im | |
| Vergleich zu ihnen im Überfluss schwelgen, sollten ihnen sagen, dass uns | |
| Nikita zu anstrengend ist? | |
| Und was würde sein, wenn Nikita „normal“ wäre? Wir würden ihn zum | |
| Klavierunterricht schicken, zum Basketball, der Wettlauf um einen Platz auf | |
| irgendeinem Gymnasium stünde an – all das kennen wir schon von Ilja, seinem | |
| Bruder. Smartphones interessieren Nikita ebenso wenig wie Taschengeld und | |
| Markenschuhe, und über Hausaufgaben streiten wir auch nicht. „So schafft | |
| Ihr Kind es nach Harvard“, fand ich einmal einen Artikel überschrieben. Ich | |
| musste lachen. | |
| Nikita wird sein Leben leben. Er hat ein Recht darauf. Er wird, wenn er | |
| groß ist, vermutlich in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen, und er wird | |
| eine Arbeit finden. Manchmal sehe ich ihn in einem Waschsalon. Oder er | |
| zieht mit einem Staubsauger über einen Hotelflur. Vielleicht findet er auf | |
| einem Hühnerhof Erfüllung. Hühner liebt er über alles, leider sind sie in | |
| der Stadt als Haustiere ungeeignet. Er wird Freunde finden, und er wird | |
| sich verlieben. Er kommt langsam in die Pubertät. Das wird spannend – und | |
| sicher anstrengend. | |
| Eigentlich ist Nikita genau das, was unsere Gesellschaft so gern fördern | |
| möchte. Nikita ist divers. Viel mehr geht nicht. Er passt gut nach Berlin, | |
| er hat kein Interesse an Autos, fährt lieber Straßenbahn, er ist | |
| Postmaterialist, ganz bestimmt Nonkonformist, er ist auffällig langsam, und | |
| unter Druck läuft nichts, gar nichts. Er ist das Gegenteil zu all den | |
| Selbstoptimierern, die mit Schrittzähler am Arm ihrem Glück nachlaufen. | |
| Vor einem Jahr habe ich mir einen Traum erfüllt. Der Muskelfaserriss war | |
| einigermaßen verheilt, da fuhr ich zu einem Holzhandel. Tagelang habe ich | |
| gearbeitet. Am fünften Tag saß er auf der Schaukel. Nikita hat gestrahlt. | |
| In den vergangenen Wochen hat die Schaukel die Stimmung gerettet. Nikita | |
| saust durch die Luft. Manchmal geht mein Blick zu den Schraubverbindungen, | |
| aber eigentlich setze ich mich am liebsten in die Ecke und schaue meinem | |
| jüngsten Sohn stolz beim Fliegen zu. Zeit werden wir haben. Die Öffnung von | |
| Nikitas Schule ist noch nicht in Sicht. | |
| Immerhin, am Tisch können wir uns wieder unterhalten. Wir haben ein neues | |
| iPad gekauft, dieses Mal mit einer Drei-Jahres-Versicherung gegen | |
| Display-Bruch. | |
| 16 May 2020 | |
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| Thomas Gerlach | |
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