# taz.de -- Ein Vater über sein Kind mit Downsyndrom: Ihr Kinderlein, kommet. … | |
> Als Nikita da ist, wird schnell klar: Unser Kind hat das Downsyndrom. | |
> Eine Wahrheit, die schwer zu ertragen ist. Aber es gibt kein Zurück. Gut | |
> so. Eine sonntaz-Weihnachtsgeschichte. | |
Bild: Beim Lachen hat Nikita ein typisches Downgesicht und ein lustiges dazu. | |
Um halb sechs am Morgen wird unser zweiter Sohn geboren. Blau angelaufen | |
ist er, so blau, dass ich Angst bekomme. Dass Neugeborene blau sein können, | |
habe ich gehört, aber so blau? Ich blicke zur Hebamme. Routiniert klemmt | |
sie die Nabelschnur ab und reicht mir die Schere. Es ist offenbar alles in | |
Ordnung. Ich schneide die Schnur durch. | |
Ein Wurm, dünne Schreie, zerfurchtes Gesicht. Er liegt auf dem Bauch der | |
Mutter, mir kommen die Tränen. Nikita soll er heißen. Dascha, meine Frau, | |
erinnert mich, eine SMS an die Oma im fernen Ural zu schicken. Vor | |
anderthalb Jahren, beim ersten Kind, hatten wir das vergessen. Die Oma | |
bangte. Heute soll sie die Erste sein. "Nikita geboren, Mutter und Kind | |
wohlauf!", tippe ich. | |
Eine Stunde später hören wir, dass er Trisomie 21 hat. Es ist Sonnabend, | |
der 13. Juni 2009. | |
Nein, wir wissen es noch nicht mit letzter Klarheit, die liefert nur ein | |
Gentest, aber der junge Arzt lässt wenig Platz für Hoffnung. Eigentlich | |
lässt er keinen. Die Hebamme hatte behauptet, der Stationsarzt würde nur | |
kommen, um sich Nikitas Blutzucker anzuschauen, die Werte seien etwas | |
niedrig. "Wir sind hier schließlich ein Krankenhaus." Der Arzt hat Nikita | |
wie eine Puppe auf einen Schrank gelegt, er hat ihn aus seinem Leibchen | |
gepackt und schüttelt ihn wieder und wieder, wie man einen Bewusstlosen | |
sachte schüttelt. Er schaut ihm ins Gesicht, streicht über Händchen und | |
Beinchen, gerade so, als suche er etwas. | |
"Was macht er?" Dascha ist misstrauisch geworden. "Mit dem Blutzucker ist | |
eigentlich alles in Ordnung", murmelt der Arzt, er ist an Daschas Bett | |
gekommen. Doch es gebe andere Auffälligkeiten. Auffälligkeiten? "Hat Ihr | |
Junge denn Ähnlichkeiten mit Ihrem ersten Sohn?" Was ist das für eine | |
Frage? "Vom Gewicht her sind die beiden doch identisch!", entgegnet Dascha. | |
- "Und sonst?" - "Sie meinen die Augen?"- "Ja. Die sind sehr auffällig bei | |
einem Gendefekt, Trisomie 21." - "Das ist nicht Ihr Ernst!", entfährt es | |
Dascha. Mir werden die Knie weich. | |
Sicher, uns waren Nikitas Augen aufgefallen, geradezu asiatisch | |
geschwungen. Besorgt waren wir nicht. Sind Neugeborene nicht wie winzige | |
Greise? Mit hutzeligen Körpern? Die Stirn, die Augen - das wird sich alles | |
entfalten. Oder etwa nicht? Seit Minuten versuche ich, das schrumplige | |
Kind, das der Arzt liegen gelassen hat, wieder anzuziehen. Je länger der | |
Mann hinter mir redet, desto weniger gelingt mir das. Leibchen, Hemdchen | |
und Schnürchen und mittendrin dieser zerbrechliche Leib - es ist wie ein | |
Knäuel, und meine Finger wollen mir nicht mehr gehorchen. Ich kann es nicht | |
fassen: Das Häuflein, das da vor mir liegt, hat das Downsyndrom. | |
Er könne uns leider wenig Hoffnung machen, redet der Arzt in unser | |
Schweigen hinein. Alles spreche für Trisomie: die abgespreizten großen | |
Zehen an den Füßen, die durchgehende Falte in beiden Handtellern, die | |
heraushängende Zunge und die Mandelaugen. Natürlich sei das keine Diagnose, | |
räumt er ein, "aber machen Sie sich mal damit vertraut". Schon ist er weg. | |
Haben wir nicht gerade diese Nacht durchwacht? Hat Dascha nicht eben ein | |
Kind geboren? Haben wir nicht Nikita seit neun Monaten bei uns? Zuerst als | |
dunklen Punkt auf dem Ultraschallbild, dann mit Händen und Füßen? Haben wir | |
uns nicht gefreut, als die Wehen einsetzten? Ist das nicht ein | |
unglaublicher Moment, wenn ein Kind auf die Welt kommt? Heulen nicht alle | |
Eltern, vor Schmerz, vor Glück und vor Dankbarkeit? Und jetzt schleicht | |
sich ein Arzt wie ein Dämon herein und verkündet: Sie haben einen | |
behinderten Sohn. | |
Weg von hier. Weit weg. Ich würde am liebsten alles stehen und liegen | |
lassen. Lässt sich dieser Film noch einmal zurückdrehen? Lässt sich diese | |
Nacht ungeschehen machen? Nein, lässt sich nicht. Ich bleibe. Wir bleiben. | |
Ich habe den Kleinen immer noch nicht angezogen. Irgendwann steckt er in | |
den viel zu großen Klamotten. Das Köpfchen wackelt, er schweigt. Ich lege | |
ihn in dieser Plexiglasschale ab, packe ihn da hinein wie ein Bündel, das | |
zu schwer für mich ist. Habe ich ihn vorwurfsvoll angeschaut? Er zittert. | |
Wer ist schuld? Niemand, sagen die Ärzte, das passiere, spontan, einmal bei | |
etwa tausend Geburten. Warum? Keine Antwort. Warum wir? Keine Antwort. | |
Sicher, ich hatte an Downsyndrom gedacht, wie wohl alle werdenden Eltern. | |
Trisomie 21 ist die häufigste Genmutation. Doch das betrifft uns nicht, | |
glaubte ich. Dascha ist 31 Jahre alt, das Risiko steigt erst mit 35 Jahren | |
an. Warum sich Gedanken machen? | |
Die Ultraschalluntersuchungen bei Daschas Gynäkologen waren unauffällig. | |
Der große Check beim Feindiagnostiker war es auch. Da zappelte dieses Wesen | |
auf dem Bildschirm, mal als bloßer Schatten, mal sehr real mit Köpfchen, | |
Wirbelsäule und Fingern. Und seine Händchen, die ruderten: Wartet nur! Und | |
sein Herzchen hüpfte, und uns hüpfte es auch. Vorfreude. | |
Wir wollten Nikita. Unser erster Sohn Ilja sollte bald einen Gefährten | |
bekommen. Wo Platz für ein Kind ist, reicht er doch auch für zwei. Die | |
Großmütter waren nicht begeistert, als sie davon hörten. Sie dachten nur an | |
die Mühe. Wir dachten an das Glück. | |
Zum Krankenhaus geht es durch einen Park. Ich schleppe mich über die Wege, | |
schiebe den Wagen mit Ilja. Wer mich sieht, denkt wohl an einen Todesfall, | |
nicht an eine Geburt. Die ersten beiden Tage liegen Dascha und der Kleine | |
auf der Wochenstation. Ringsum müde, doch glückliche Mütter, gesunde | |
Kinder, stolze Väter, weinende Tanten - und wir, wie Fremde auf einem Fest. | |
Das erhebende Gefühl, zum ersten Mal Eltern zu werden, kannten wir von | |
Ilja. Als diesmal die Wehen stärker wurden und wir wieder hierherkamen, | |
fühlten wir uns schon wie Stammkunden. Die zweite Geburt gehe schneller, | |
sagten erfahrene Mütter. Also zügig das Kind geboren, zwei Tage auf der | |
Station, und ab nach Hause - so war unser Plan. | |
Stattdessen gibt es in einer Ecke nun das erste längere Gespräch mit einer | |
Ärztin. Der neue Kurs: Dascha und Nikita werden auf die Intensivstation | |
verlegt, man will den Kleinen untersuchen, ob es organische Defekte gibt. | |
Kinder mit Downsyndrom haben oft Fehlbildungen, hören wir. Es wird Zeit, | |
meine Eltern auf dem Dorf anzurufen. "Ihr seid wieder Großeltern geworden", | |
sage ich. "Alles in Ordnung?" Ich sage: "Ja." | |
Auf der Intensivstation bekommen Nikita und Dascha ein Zimmer für sich und | |
bald einen Bildband hingelegt, über Kinder mit Downsyndrom und ihre Mütter. | |
Keine plumper Wink mit dem Zaunpfahl der Oberschwester, eher eine Hilfe, es | |
sind liebevolle, innige Fotos. Die Ärzte und Schwestern sind | |
rücksichtsvoll. Nur um den einen Arzt machen wir einen Bogen. | |
Nikita hängt an Kabeln. In seiner Nase steckt ein Schlauch, durch den wird | |
Muttermilch in seinen Magen gepumpt. Er kann wie viele Trisomie-Kinder | |
schlecht saugen. Dascha übt mit ihm, so oft es geht, das Stillen. Zwei | |
Schwestern vom Kinderpflegedienst stellen sich vor, sie werden zu Hause | |
regelmäßig die Sonde wechseln. Wie lange? Sie zucken die Schultern, | |
manchmal dauere es aber über ein Jahr. Der Genschnelltest bestätigt den | |
Verdacht: Trisomie 21. Es gibt keine Hintertür mehr. | |
Nikita hat "deutlich klinische Stigmata für ein Downsyndrom". An solche | |
Sätze werden wir uns gewöhnen müssen. Der Entlassungsbrief des | |
Krankenhauses windet in medizinischer Nüchternheit Fachwörter zu Girlanden. | |
Wenigstens ist organisch alles in Ordnung. Jedenfalls fast: Zwei Löcher | |
werden in der Herzscheidewand entdeckt. Doch Grund zur Sorge bestehe nicht, | |
versichert man uns, mit großer Wahrscheinlichkeit wüchsen die bald zu. Wir | |
wollen es gern glauben und machen uns auf den Weg. Es gibt auch so genug | |
Fragen. Mit einem Wunschkind im Bauch sind wir ins Krankenhaus gefahren, | |
mit einem Bündel an Problemen kehren wir heim. | |
Wenigstens sind wir vier nun zusammen. Der Alltag mit Nikita besteht aus | |
zwei Dingen: Der Junge muss besser trinken, außerdem klappern wir Ärzte ab. | |
Der Verwandtschaft wird reiner Wein eingeschenkt. Meiner 81-jährigen Mutter | |
sage ich es langsam ins Telefon: "Downsyndrom." Das erweist sich als | |
unnötig, sie weiß, was das ist. Auch die russische Großmutter wird | |
informiert. Was haben sie für Bilder im Kopf? | |
In Russland werden Behinderte meist weggeschlossen, aus Scham. Und bei uns? | |
In dem 300-Seelen-Dorf, aus dem ich komme, lebte ein geistig behinderter | |
Mann. Hänschen war unser Dorftrottel. Täglich streifte er über die Feldmark | |
und führte Selbstgespräche. Im Dorf zurück, versteckte er sich gern in der | |
Bushaltestelle und onanierte - zur Belustigung der Traktoristen und zum | |
Entsetzen der Mädchen. Förderung bestand bei Hänschen vor allem darin, dass | |
er die vollen Körbe aus dem elterlichen Garten schleppte. Hänschen ist tot. | |
Der nächste Behinderte, der nun dort auftaucht, ist Nikita. | |
Nach einem Monat hat Nikita sein Greisengesicht abgelegt, er trinkt aus der | |
Brust, als ginge es um sein Leben, der Pflegedienst kann die Sonden bald | |
einpacken. Wir stellen Nikita dem Kardiologen vor, dann dem Endokrinologen, | |
der Logopädin, der allgemeinen Kinderärztin, der Ärztin im | |
Sozialpädiatrischen Zentrum, der Augenärztin, der Physiotherapeutin und der | |
Sozialberatung. Wir haben bei den Besuchen bald eine gewisse Routine. | |
Während Dascha mit Nikita beim Arzt sitzt, gehe ich mit Ilja vor der Praxis | |
spazieren. | |
Große Hände, kleines Herz | |
Der große Bruder hat den kleinen schnell akzeptiert. Wir kramen Fotos von | |
Ilja hervor. Gibt es Unterschiede? Im Gegenteil, die beiden sehen sich | |
immer ähnlicher. Und sie sehen uns ähnlich - mit oder ohne "Stigmata". | |
Eines Tages fällt mir auf, dass Nikita wirklich mächtige Hände hat. Ich | |
freue mich und führe das auf die vielen Maurer und Heizer bei den deutschen | |
Vorfahren zurück. Und ich selbst habe fünf Jahre als Traktorist in der LPG | |
gearbeitet. "Das ist auch so ein typisches Zeichen für Trisomie", stoppt | |
Dascha meine Fantasie. | |
Eigentlich ist es schon egal. Die Trisomie beschäftigt uns nicht mehr jeden | |
Tag. Dazu gibt es bei zwei Kindern zu viel zu tun. Das ist ein Vorteil. | |
Wichtiger ist, dass Nikita, viel früher als Ilja damals, erst zu lächeln, | |
dann zu lachen beginnt. Beim Lachen hat er ein typisches Downgesicht und | |
ein lustiges dazu. Wir fahren zum ersten Mal zu meinen Eltern aufs Dorf. Es | |
gibt wieder Normalität. | |
Doch nicht lange. Im August macht der Kardiologe uns klar, dass sich die | |
Spalten im Herzen nicht schließen werden. Eine Operation sei notwendig, ein | |
großer Eingriff, und zwar bald. Ende September wird Nikita im Deutschen | |
Herzzentrum in Berlin aufgenommen. Das Zentrum ist eine Welt für sich. | |
Eltern aus halb Europa kommen hier zusammen mit ihren großen, kleinen und | |
ganz kleinen Kindern. Arabische Patriarchen, türkische Mütter, Russen aus | |
Sibirien, Ukrainer, bosnische Familien, kroatische Ehepaare und natürlich | |
Deutsche - die Sorge um den Nachwuchs eint sie alle. | |
Mütter und Väter sitzen schweigend auf dem Flur oder abseits in der | |
"Eltern-Oase", manche kneten unentwegt die Hände, andere telefonieren, | |
wieder andere führen ihren geschwächten Sprössling spazieren, einen großen | |
Tropf neben sich. | |
Ein junger Vater aus Brandenburg seufzt mir zu: "Ist schon schlimm!" Ich | |
nicke. Er ist mit seiner ganzen, vielköpfigen Familie gekommen, weil der | |
Jüngste, selbst kaum älter als Nikita, an einer Herzklappe operiert wird. | |
Mit zwei Autos sind sie angereist, sie werden so lange bleiben, bis die | |
Schwestern ihr Brüderchen wie einen ganz kleinen Lord nach Hause geleiten. | |
Wir merken schnell, dass Nikitas Operation hier eher zu den leichten Fällen | |
zählt. Als er in den Operationssaal gefahren wird, lacht er. Danach kommen | |
für uns die furchtbarsten Stunden seit der Geburt. Was ist, wenn Nikita | |
etwas zustößt? Ist sein Herz nicht so klein wie eine Walnuss? Was ist, wenn | |
der Chirurg vor lauter Routine unachtsam wird? Haben wir nicht Papiere | |
unterschrieben, die uns über alle Eventualitäten aufklärten, auch über | |
Herzstillstand und Tod? Die Operation dauert sechs Stunden. Es gebe keine | |
akute Lebensgefahr, sagt die Ärztin, als wir am Abend in der | |
Intensivstation anrufen. Es habe etwas gebraucht, bis das Herz wieder zu | |
schlagen anfing. Man müsse jetzt abwarten, "ruhen Sie sich aus". Aber wie | |
soll das gehen? | |
Die Nacht wird zur Tortur. Nikita ist jetzt seit dreieinhalb Monaten bei | |
uns. Gab es nicht vorwurfsvolle Blicke? Trübsinnige Gedanken? Den Wunsch, | |
die Zeit zurückzudrehen? Jetzt wollen wir die Stunden peitschen, dass sie | |
wie im Fluge vergehen. Nach zwei Tagen wacht er auf, nach drei Tagen hängt | |
er an der Brust. Als ich Dascha über die Schulter schaue, blickt er mich | |
zum ersten Mal, müde noch, an. Seine Augen sagen: Na, hast wohl Angst | |
gehabt? - Und wie! Er ist unser Held. Wir lieben ihn, wie man ein | |
Menschenkind nur lieben kann. | |
Nicht gestellte Fragen | |
Ich lerne seinen Chirurgen kennen, einen älteren Herrn mit freundlichen | |
Augen. Er heißt Vladimir Alexi-Meskishvili, kam vor zwanzig Jahren aus der | |
Sowjetunion nach Berlin und ist als Chirurg eine Kapazität. Dascha sagt er | |
beiläufig, dass er noch ein drittes Loch verschlossen habe. Nach der | |
Operation hat er Nikita täglich besucht. Am liebsten würde ich | |
Alexi-Meskishvili um den Hals fallen. Er hat das walnusskleine Herz | |
geflickt. Ich sage: "Vielen Dank!" | |
Irgendwann hört Daschas Gynäkologe von der Trisomie und meldet sich. Er | |
habe sich gleich mit dem Feindiagnostiker in Verbindung gesetzt, sagt er. | |
Zusammen haben sie noch mal sämtliche Ultraschallaufnahmen überprüft, ob | |
sich nicht doch Hinweise hätten finden lassen. Ohne Resultat. Er bedaure | |
die Situation und wünsche uns Kraft. | |
Was wäre gewesen, wenn sie uns bei der Feindiagnostik eröffnet hätten, es | |
gebe da einen Verdacht? Die zweite Hälfte der Schwangerschaft wäre zur | |
Hölle geworden. Hätte es sie überhaupt noch gegeben? Trisomie ist ein Grund | |
für Spätabtreibungen. Vermutlich hätten uns die Ärzte dazu geraten. | |
Schätzungsweise neun von zehn Feten, bei denen Trisomie diagnostiziert | |
wird, werden abgetrieben. | |
Abtreibung kam für uns nicht infrage, das war unsere Überzeugung - schon | |
vor dem ersten Kind. Hätten wir uns dennoch überreden lassen? Weil es auf | |
Unverständnis gestoßen wäre, wenn wir diese Möglichkeit nicht wahrgenommen | |
hätten? Weil wir die Belastung gefürchtet hätten? Die Blicke? Weil es das | |
Beste gewesen wäre? Auch für das Kind? Diese Fragen sind uns erspart | |
geblieben. Pränataldiagnostik hat ihre Grenzen. Gibt es ein Anrecht auf ein | |
"normales" Kind? Gibt es nicht. Es gibt auch kein Anrecht auf ein 80 Jahre | |
währendes Leben, nicht einmal auf Sonnenschein im Urlaub. | |
Dass Nikita mit besonderem Erbgut ausgestattet ist, führen wir auf seine | |
Vorfahren zurück. Während sein deutscher Großvater im Sommer 1941 als | |
junger Bursche in Weißrussland sowjetische Kriegsgefangene bewachte, wurde | |
Nikitas russischer Opa als Kleinkind von Leningrad an den Ural gebracht. | |
Bei der Blockade durch die Deutschen wäre er sonst verhungert. Und während | |
der Vater seiner russischen Großmutter in Astrachan im Wolgadelta Rekruten | |
ausbildete, damit sie gegen die Deutschen kämpfen, versteckte sich zu | |
Kriegsende im damaligen Ostbrandenburg seine deutsche Großmutter als | |
Siebzehnjährige tagelang vor der Roten Armee. Wenig später verlor sie ihre | |
Heimat und ist nie dorthin zurückgekehrt. Wer dieses Erbe mitbekommt, | |
braucht wohl ein Chromosom mehr. Eigentlich ist nicht Nikita die Ausnahme, | |
sondern sein Bruder Ilja. Natürlich verfängt diese Begründung nicht bei | |
Genetikern und Gynäkologen. Uns genügt sie. | |
Es gibt was geschenkt | |
Am dritten Advent feiern wir Nikitas ersten "halben" Geburtstag. Wie war | |
das, als er geboren wurde? Ungefähr so, als hätten wir einen Urlaub in | |
Venedig gebucht, hätten uns Monate darauf gefreut, hätten Reiseführer | |
gekauft. Dann stiegen wir ins Flugzeug - und landeten in Rotterdam. Man | |
braucht Zeit, sich an Rotterdam zu gewöhnen. | |
Nikita schielt ein bisschen, hat in manchem eine lange Leitung und eine | |
Narbe auf der Brust. Er hat länger in Krankenhäusern gelegen als ich und | |
auch schon mehr Ärzte gesehen. Er hat wenig zu tun mit den properen Babys, | |
die von den Titelblättern Dutzender Elternzeitschriften lachen, als könnte | |
man solche Nachkommenschaft irgendwo bestellen. Doch es gibt nichts zu | |
bestellen, nicht die Haarfarbe und nicht die Chromosomenzahl. Es gibt was | |
geschenkt. | |
Am Morgen des dritten Advents liegt Nikita zwischen uns im Bett. Seine | |
Maurerhändchen wandern über mein Gesicht. Er lacht. Warum? Weil er seit | |
einem halben Jahr bei uns ist. Nicht er ist unser Wunschkind - wir sind | |
seine Wunscheltern. Klugheit ist keine Frage der Lebensjahre. Verkehrte, | |
schöne Welt. | |
"Was du den Weisen und Klugen verborgen hast, den Unverständigen hast du es | |
offenbart." Dieser Satz aus dem Matthäus-Evangelium soll sein Taufspruch | |
werden. | |
Auch die Großmütter haben dazugelernt. Die beiden Frauen, die sich | |
untereinander kaum verständlich machen können, sind zum "Geburtstag" nach | |
Berlin gekommen. Sie blicken zu Nikita in den Stubenwagen, ihre Augen | |
strahlen. Und plötzlich sehen die beiden nur noch das Glück - und wir auch | |
ein bisschen die Mühe. | |
*** | |
Thomas Gerlach, 45, ist taz-Schwerpunktredakteur. Lange hat er mit seiner | |
Frau Dascha überlegt, ob er diese persönliche Weihnachtsgeschichte erzählen | |
soll | |
23 Dec 2009 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
Thomas Gerlach | |
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