# taz.de -- Einjähriger Todestag von Kristof Schreuf: Etwas in die Welt werfen | |
> Weggefährten erinnern sich an den Autor und Musiker Kristof Schreuf. Das | |
> Werk seiner Band Kolossale Jugend wird neu veröffentlicht. | |
Bild: Drei der vier Bandmitglieder von Kolossale Jugend, 1989 in Hamburg, Krist… | |
## Die Stimme | |
[1][Kristof Schreuf ist die Stimme. Fordernd, herausfordernd, | |
überfordernd.] Nur so konnte sich aus dem kuscheligen Genesungswunsch der | |
Hamburger Morgenpost an Alex Hacke von den Einstürzenden Neubauten „Heile | |
heile Händchen“ der Schrei „Heile Heile, Hacke singt. Hau den Lukas, | |
Köpfchen singt“ [2][für einen Song von Kolossale Jugend] entwickeln. Diese | |
Stimme habe ich noch immer im Kopf. | |
Christoph Leich, Schlagzeuger von Kolossale Jugend, später bei Die Sterne. | |
## Schlägereien mit Worten | |
Es gibt mehr Geschichten über Kristof Schreuf, als sein Leben Tage hatte. | |
Und alle sind wahr. Ich soll hier eine erzählen. Also: Er hat mit Worten | |
und einem Mikrofon eine Gruppe Nazis, die Anfang der Neunziger ein Konzert | |
von Kolossale Jugend stürmen wollte, dazu gebracht, geschlagen abzuziehen. | |
Man kann sagen: Er konnte Schlägereien mit Worten gewinnen. | |
Pascal Fuhlbrügge Gitarrist von Kolossale Jugend, Mitgründer des Labels | |
L’age d’or, auf dem ihre beiden Alben 1989 und 1990 zuerst erschienen sind. | |
## Anders Kristof | |
Nicht selten hatte Kristof seine Stimme nicht hinter, sondern vor den | |
Lippen. ER musste sie nicht lange suchen, um sie über die dünne rote Linie | |
zu bringen, zum Glück, und so wurde er zum lebendigsten und | |
dankenswertesten Publikum von Mensch und Tier, von den Dingen und von dir | |
und mir. Vor drei Jahren etwa saß Kristof als Patenonkel mit bei der Taufe | |
unseres Sohnes in Hamburg. Die Pastorin sprach: „… und so lasst uns nun | |
alle gehen mit Gott“. Niemand hatte dem etwas hinzuzufügen oder gar eine | |
gute Pointe anzubringen. Anders Kristof. Augenblicklich fuhr sein rechter | |
Arm wie bei einer fahrigen Wortmeldung in die Höhe und mit nur ganz leicht | |
angespitztem Tonfall rief er laut, lässig und liebenswert: „Na klar mit | |
Gott!“ | |
Tobias Levin hat Kristofs Soloalbum „Bourgeois with Guitar“ produziert und | |
mit ihm an neuen Songs gearbeitet. Er betreibt das Electric Avenue Studio | |
in Hamburg und ist Gitarrist und Sänger der Band Cpt. Kirk &. | |
## Die Vermittlung | |
Anfang des Jahrtausends, das Telefon klingelt, Kristof ist dran. Er habe | |
jetzt mit allen geredet und nein, sie verstehen es einfach nicht. Er findet | |
schon noch einen Weg. Ich weiß erst nicht, wovon er redet, bis mir dämmert: | |
Kristof hat Labels von Hamburg bis Detroit angerufen, damit meine | |
Riot-Grrrl-Band Parole Trixi einen Plattenvertrag bekommt. Er hatte es | |
sogar bei Techno-Labels versucht! Vom Spirit her würde das doch passen! Ich | |
soll eine Kassette an Alec Empire schicken. Dafür wollte er keinen Dank. | |
Zwei Jahre zuvor, ich erholte mich gerade von einer heavy Magersucht, hatte | |
er mir den Umzug nach Hamburg erleichtert, indem er mich bei sich wohnen | |
ließ; ohne Wenn und Aber, bis ich eine eigene Wohnung gefunden hatte. Und | |
das, obwohl ich damals extrem unkommunikativ war. Für ihn war das völlig | |
okay. Immer wieder sagte er: „Du brütest über was ganz Großem“, womit er | |
mich überhaupt erst auf die Idee brachte, dass das Häufchen Elend, das ich | |
war, zu Großem fähig sein könnte! Bald darauf gründete ich meine Band. Und | |
ich muss nicht erwähnen, wer es war, der mir dafür seine E-Gitarre geliehen | |
hat, ganz zu schweigen davon, wer „Punk Papst“ Alfred Hilsberg dazu | |
gebracht hat, dass ich fortan auf dessen ZickZack-Label Musik | |
veröffentlichte. | |
Sandra Grether, Musikerin und Autorin in Berlin. | |
## Der Gitarrenkoffer | |
Schreuf war immer da. Früher sowieso, aber auch in den nuller Jahren, als | |
er von Hamburg nach Berlin gezogen war. Zum ersten Mal auf einer Bühne sah | |
ich ihn im Kaiserkeller. 1990, vermutlich. Kolossale Jugend war super. Und | |
wie sich später herausstellte, waren die Typen der Band auch super. Im | |
Gegensatz zu anderen Kolossale-Jugend-Musikern, deren spätere Projekte wir | |
auf Fidel Bastro veröffentlichten, beschränkt sich der Output von Schreuf | |
auf einen einzigen Song auf einem Sampler. | |
Dennoch gehörte er zur Familie. Bei unzähligen Veranstaltungen war er | |
anwesend. Auch einfach so: Es klingelt an der Haustür: „Ich war gerade in | |
der Nähe …“, sieben Stunden später, nachdem wir sechs Stunden über die | |
US-Band Mission of Burma geredet und deren Gesamtwerk gehört hatten, | |
verschwand Kristof in die Nacht. Meist sahen wir uns in den letzten Jahren | |
zu Konzerten. Erfrischend war seine tolle, uneitle Art. Im Vorfeld nicht zu | |
klären, welche Verstärker bereitstehen würden, ist eher untypisch. Auch | |
über Gage wurde nie im Vorfeld geredet. Manchmal kam er nur mit Gitarre, | |
manchmal nur mit einem Buch in der Hand. | |
Es passierte, dass er mit seinem Gitarrenkoffer ankam, diesen zum | |
Soundcheck öffnete, die Gitarre aber zuvor nicht in den Koffer gepackt | |
hatte. Er schleppte seinen leeren Koffer nach sonst wo. | |
Im September 2022 zum 30. Label-Geburtstag war er natürlich wieder | |
„gebucht“. Traf mit zwei Gitarrenkoffern (beide gefüllt!) ein und trat als | |
letzter von elf Acts nach der Noisecore-Band Eniac auf. Bei Eniac moshte | |
ein schwitzender Mob. Nach kurzer Umbaupause steht Schreuf auf der Bühne | |
und das gleiche Publikum ist nun muxmäuschenstill und hört ihm fast schon | |
andächtig zu: DAS hat er immer wieder geschafft! Er erzählt wieder einmal | |
viel, spielt Coverversionen von Rockklassikern – ohne Rock – und eine | |
Handvoll eigener Hits. Anschließend tranken wir unseren gemeinsamen Drink, | |
nicht wissend, dass es der letzte sein würde. Zukünftige Label-Geburtstage | |
ohne Kristof. Eine sehr beschissene Vorstellung. Kein neues Album, keine | |
seiner guten Texte mehr. Das ist wirklich Mist. | |
Bernd Kroschewski ist Mitgründer des Hamburger Labels Fidel Bastro. | |
## Das Unerwartbare seiner Gesten | |
Einmal begegnete ich Kristof am Kottbusser Tor. Er stand verloren da mit | |
seiner Tochter im Kinderwagen und machte nicht den Eindruck, als wüsste er, | |
wo er sich befindet. Als er mich sah, fing er an, lebhaft zu gestikulieren | |
und begeistert über Dinge zu reden, die mir nicht mehr in Erinnerung sind, | |
aber ich war hingerissen von seiner Sprunghaftigkeit, dem Unerwarteten, der | |
exzentrischen Geste, von seiner Haltung, etwas in die Welt zu werfen und | |
sich dann davonzumachen. | |
Ein anderes Mal unterhielten wir uns über Wolfgang Pohrt, dessen Biografie | |
ich schrieb. Kristof bewunderte Pohrt und fragte mich mit einer so großen | |
Neugier über ihn aus, mit einer so ungeheuren Zuneigung, und wusste dabei | |
selbst so kluge Dinge über ihn zu sagen, dass ich ganz beschwingt wurde. | |
Selten jedenfalls hatte ich das Gefühl, ein so intensives Gespräch mit | |
jemandem geführt zu haben. Das lag an Kristofs großer Neugier an seinem | |
Gegenüber, die sehr selten geworden ist in Zeiten des Narzissmus. Kurze | |
Zeit später trafen wir uns noch einmal, weil er das Gespräch aufzeichnen | |
wollte. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Nach seinem Tod schämte | |
ich mich, dass ich so wenig über ihn wusste. | |
Klaus Bittermann ist Verleger von Edition Tiamat. | |
## Das große Vertrauen | |
Knapp zehn Jahre, nachdem wir das letzte Mal auf der Bühne standen, damals | |
als Vorband von Sebadoh, anstelle der Kollegen von | |
[3][Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs], rief Kristof mich an, um mir | |
mitzuteilen, dass wir in drei Wochen mit neuem Material auftreten werden. | |
So weit, so normal. Problematisch an der Sache war, dass ich ja nicht zu | |
Hause saß und darauf wartete, dass Kristof ’ne gute Idee hatte. | |
Kurz vorher hatte ich eine meiner beiden Kneipen zugemacht und war von | |
einer 80-Stunden-Woche auf vielleicht 50 runter. Als wir uns erstmals im | |
Proberaum trafen, hatte ich mir kurz zuvor in der Küche meiner Kneipe | |
„Karo-Ecke“ in den Finger geschnitten, stand schweißtriefend, mit Tomaten- | |
und Fettflecken besprenkelt am Bass. Und stellte fest, dass ich so gut wie | |
keinen Basslauf mehr erinnerte – ein paar Hits wollten wir auf jeden Fall | |
spielen. Ich hatte keine Zeit, mir die Bassläufe rauszuhören. Wer Brüllen | |
kennt, weiß, dass diese teils sehr komplex sind. Meine Rettung war | |
Christian Smukal, Bassist bei der Gruppe Sport, 2022 ebenfalls viel zu jung | |
verstorben. Der meinte: Klar, kriegen wir hin. | |
Die Aufregung im Vorfeld wuchs noch, als uns zugeraunt wurde, dass sich | |
[4][Alfred Hilsberg zum Konzert angemeldet hatte]. Ich hatte großen Spaß, | |
mit Martin und Kristof wieder Musik zu machen, auch wenn es stressig war. | |
Warum ich das erzähle, ein Jahr nachdem er verstorben ist? Weil Kristof ein | |
Typ war, der kein Nein hören wollte, der ungeachtet aller Umstände alles | |
aus einem rausgeholt hat, was ging. Wen er einmal ins Herz geschlossen | |
hatte, dem vertraute er und dem traute er Sachen zu, bei denen man sich | |
selber in die Hose schiss. Das konnte Fluch und Segen zugleich sein, aber | |
es hat sich immer gelohnt, von Kristof herausgefordert zu werden. You are | |
dearly missed. | |
Luka Skywalker spielte mit Kristof Schreuf und Martin Buck in der Band | |
Brüllen. 1997 hat das Trio sein einziges Album „Schatzitude“ | |
veröffentlicht. | |
9 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Soloalbum-von-Kristof-Schreuf/!5144375 | |
[2] https://youtu.be/dZaIuXGagGs?si=PgyrGAhWakwSYsiH | |
[3] /Neues-Album-von-Stella/!5136646 | |
[4] /Biografie-ueber-Alfred-Hilsberg/!5291759 | |
## AUTOREN | |
Benjamin Moldenhauer | |
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