| # taz.de -- Die Linke und ihre Wählerschaft: Früher East Side, jetzt West Sid… | |
| > Seit der „Flüchtlingskrise“ ist die Linke im Osten keine Volkspartei | |
| > mehr, zwei Drittel der Bundestagsfraktion kommt aus dem Westen. | |
| Bild: Michel Brandt, seit 2017 im Bundestag, hat keinen Führerschein, ging geg… | |
| Karlsruhe/Pirna/Dippoldiswalde taz | Nimmt ein älterer Herr in der | |
| Sprechstunde des Bundestagsabgeordneten André Hahn von der Linkspartei im | |
| Wahlkreisbüro in Pirna Platz, einen akkurat gefalteten Zeitungsartikel mit | |
| beiden Händen umklammernd, und legt in reinstem Sächsisch los. Ihn täte da | |
| mal interessieren, was die Linke zur Flüchtlingspolitik sagt. | |
| Genauso stellt man sich das vor in Sachsen, wo die AfD bei der | |
| Bundestagswahl stärkste Partei wurde und die Linke einbrach. | |
| „Wenn jemand bei uns an der Haustür klingelt und um Hilfe bittet“, sagt der | |
| Mann, „aber ich merke, dass der lügt, dann sag ich: Nee. Geht nicht.“ Und: | |
| „Die Linke stellt sich nu aber vor solche Leute und sagt: | |
| Zwangsabschiebungen machen wir nicht.“ | |
| Er schaut Hahn fragend an. Hahn kaut an einem Hackepeterbrötchen. | |
| Die neuen Bundesländer, sie waren immer eine Hochburg der Linkspartei, noch | |
| 2009 stimmten dort knapp 30 Prozent der WählerInnen für sie. Mittlerweile | |
| hat sich der Anteil der LinkenwählerInnen fast halbiert. | |
| Den PDS-Nachfolgern, einst unangefochten zweitstärkste Kraft hinter der | |
| CDU, droht im Osten das Schicksal der SPD – eine Existenz als | |
| Zehnprozentpartei. Nur ohne Regierungsoption. | |
| Die Genossen wissen, dass die Verluste der Linken im Osten mit der | |
| liberalen Haltung der Partei zu Flüchtlingen zusammenhängen. „Zwar | |
| gestanden viele Personen ein, die Linke gut zu finden, aber auf Grund der | |
| ‚Flüchtlingspolitik‘ ihr Kreuz bei der AfD zu machen“, heißt es in einer | |
| parteiinternen Wahlauswertung. Bundesweit wechselten 420.000 WählerInnen | |
| von der Linken zur AfD. Zu keiner anderen Partei wanderten so viele | |
| LinkenwählerInnen ab. Im Wahlkampf, berichtet ein Genosse aus Sachsen, | |
| musste er sich anhören, die Linke mache ja nur noch Politik für Schwule und | |
| Ausländer. | |
| Bundesweit kam die Linkspartei trotzdem auf 9,2 Prozent. Zugewinne im | |
| Westen kompensierten die Verluste im Osten. Von der SPD kamen 700.000 | |
| WählerInnen, 330.000 von den Grünen, 590.000 waren ehemalige | |
| NichtwählerInnen. Die Wählerschaft der Linken hat sich verändert. Sie ist | |
| jünger, gebildeter und westlicher als früher. Bestand die | |
| Bundestagsfraktion bisher zur Hälfte aus Abgeordneten aus dem Osten und dem | |
| Westen, kommen nun zwei Drittel aus den alten Bundesländern. Die Ostländer | |
| planen, sich zur Landesgruppe Ost zusammenzuschließen, um ihre Interessen | |
| besser koordinieren zu können. | |
| ## Eine Runde Wodka | |
| Die einstige ostdeutsche Regionalpartei verändert sich im elften Jahr ihrer | |
| Gründung gerade gewaltig. In welche Richtung, ist noch nicht ausgemacht. | |
| Ähnlich einer Halbwüchsigen, die halb frohlockend, halb unbehaglich in die | |
| Pubertät eintritt. | |
| Das neue Gesicht der Linken ist jung. Und unprätentiös. Einen Führerschein | |
| besitzt Michel Brandt nicht. Er trägt am liebsten Kapuzenpulli und | |
| Turnschuhe. Brandt, Platz 6 der baden-württembergischen Landesliste, hat | |
| vor zehn Jahren das Abitur abgebrochen, um über eine Begabtenprüfung seinen | |
| Traumberuf zu studieren: Schauspieler. Gerade noch hat er am Badischen | |
| Staatstheater den Werther gegeben, jetzt lässt er den Beruf ruhen. | |
| Den Wahlabend verbrachte Brandt mit 170 Linken-Anhängern in einer | |
| alternativen Bar in Karlsruhe, wo er gebannt die Hochrechnungen verfolgte. | |
| Erst um fünf Uhr morgens war klar: Die Linke in Baden-Württemberg entsendet | |
| sechs Abgeordnete in den Bundestag. Brandt war drin. Er bestellte eine | |
| Runde Wodka. Dann legte er sich eine Stunde hin, packte seine Sachen und | |
| nahm den Zug nach Berlin. Zu seiner ersten Fraktionssitzung. | |
| In seinem Wahlkreisbüro in Karlsruhe lächelt Brandt immer noch, wenn er | |
| daran denkt, was sie da gewuppt haben: Die absolute Zahl der Zweitstimmen | |
| hat sich gegenüber der letzten Bundestagswahl fast verdoppelt. Wie das | |
| ging? Mit einem Verband, der sich im Wahlkampf anschickte, die Linke in | |
| Karlsruhe omnipräsent zu machen: Sie standen vormittags vor dem Arbeitsamt, | |
| nach Feierabend vor Netto und Alnatura, und gingen nachts zu den Menschen | |
| in die Kneipen. Und präsentieren eine klare Haltung in der | |
| Flüchtlingspolitik: „Ich habe selbst unterm Bus gelegen und Abschiebungen | |
| blockiert. Die Leute wissen, wofür ich stehe“, sagt Brandt. | |
| ## Bockwurst-Esser und Bionade-Trinker | |
| In Pirna, 600 Kilometer von Karlsruhe entfernt, muss André Hahn seine | |
| Haltung in der Flüchtlingspolitik verteidigen. Hahn schluckt das | |
| Hackepeterbrötchen herunter und hebt an, sie dem Besucher mit der | |
| gefalteten Zeitung zu erläutern. Die Flüchtlinge seien ja nun mal da, und | |
| überhaupt: „Mir ist das zu einfach, zu sagen: Raus, raus, raus.“ Seit 1990 | |
| habe Sachsen 800.000 Einwohner verloren, „und da sollen wir nicht in der | |
| Lage sein, 80.000 Flüchtlinge aufzunehmen?“ Sachsen habe einen | |
| Ausländeranteil von knapp 3 Prozent. „Mir fällt es wirklich schwer, zu | |
| verstehen, woher eigentlich die Angst vor Überfremdung kommt.“ | |
| Hahn kann man sich gut in einem Klassenzimmer vorstellen. In den späten | |
| achtziger Jahren studierte er Lehramt für Deutsch und Geschichte an der | |
| Berliner Humboldt-Universität, trat damals auch in die SED ein, die später | |
| zur PDS wurde. Seit 2013 ist er Bundestagsabgeordneter, er saß im | |
| NSA-Untersuchungsausschuss. | |
| Der Besucher antwortet: „Aber ich kann doch nicht erst Einfluss nehmen, | |
| wenn es zu spät ist.“ Er wolle nicht in einem Deutschland leben, in dem 25 | |
| Prozent eine andere Herkunft haben. Dass die AfD stärkste Partei geworden | |
| sei, gefalle ihm auch nicht. Wen er gewählt hat, verrät er nicht. | |
| Während die Linke mit ihrer „Offene Grenzen für alle“-Haltung die einen | |
| verschreckt, zieht sie andere damit an. Kann die Linke die einen Wähler | |
| ansprechen, ohne die anderen zu verlieren? Es geht auch um auch die Frage, | |
| welche Milieus die Partei bedienen will. „Wir wollen beide – die | |
| Bockwurstesser und die Bionadetrinker“, meint Parteichefin Katja Kipping. | |
| Aber geht das? | |
| ## Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit? | |
| Wenn die Partei über ihren Kurs diskutiert, ist die Lage unübersichtlich | |
| geworden. Traditionell verliefen die Konflikte zwischen Ost und West, | |
| zwischen Reformern und Fundamentalisten. Sie kreisten um die Frage: Wollen | |
| wir mitregieren oder wollen wir strikt opponieren? Immer bereit zum | |
| Regieren waren die Genossen im Osten, wo man seit der Wende in Kreis- und | |
| Landtagen präsent war. Auf keinen Fall regieren wir, warnten die Genossen | |
| im Westen, schon gar nicht mit den Sozen. Denn dann verlieren wir unsere | |
| Glaubwürdigkeit. | |
| Diese Debatten gibt es immer noch, doch die Argumentation verläuft | |
| inzwischen anders. Es geht nicht mehr um die Frage „Pragmatismus oder | |
| Fundamentalismus“, sondern um die offene oder die geschlossene | |
| Gesellschaft. Während Fraktionschefin Sahra Wagenknecht vom linken Flügel | |
| für den Sozialismus in nationalen Grenzen kämpft, steht Parteichefin Katja | |
| Kipping, die rechts von Wagenknecht als Reformerin verortet wird, für ein | |
| klares Bekenntnis zu grenzenloser Bewegungsfreiheit. Kipping wirbt für ein | |
| Einwanderungsgesetz, Wagenknecht ist dagegen, Kipping setzt auf mehr | |
| Europa, Wagenknecht will weniger. Die Konflikte ziehen sich quer durch die | |
| traditionellen Lager, die sich langsam neu sortieren. | |
| Die Frage, vor der die Linkspartei in der kommenden Legislaturperiode | |
| steht, ist: Wen sprechen wir eigentlich an? Hipster oder Kleinbürger? Wie | |
| stellen wir uns die Gesellschaft von morgen vor? Fordern wir ein | |
| bedingungsloses Grundeinkommen oder die 30-Stunden-Woche bei vollem | |
| Lohnausgleich? Arbeit für alle oder Recht auf Faulheit? Aufbruch oder | |
| Verteidigung alter Errungenschaften? | |
| ## Die Neuen halten sich raus | |
| Wagenknecht hat sich mit ihrem Co-Fraktionschef, dem Reformer Dietmar | |
| Bartsch, verbündet, und zwischen Parteichefin Kipping und den zweiten | |
| Vorsitzenden Bernd Riexinger, einst vom linken Flügel aufgestellt, passt | |
| kein Blatt. Die Atmosphäre unter den Spitzenduos ist angespannt. | |
| Nicht mal einen Monat nach der Bundestagswahl rumst es gewaltig. | |
| Mitte Oktober steigt André Hahn in seinen grauen Audi und Michel Brandt in | |
| den ICE. In Potsdam treffen sich die Abgeordneten der neuen Linksfraktion. | |
| 27 von 69 sind zum ersten Mal im Bundestag. Brandt und Hahn schütteln sich | |
| kurz die Hände, reden ein paar Worte. Bis heute kann der eine über den | |
| anderen wenig berichten. Denn die Vorstellungsrunde in dem tanzsaalgroßen | |
| Sitzungsraum muss ausfallen. Stattdessen erheben sich nacheinander die | |
| beiden Fraktionschefs Bartsch und Wagenknecht und die Parteichefs Kipping | |
| und Riexinger und referieren. | |
| Es gibt Streit, es geht um die Verteilung der Vorstandsposten, um das | |
| Rederecht im Bundestag. Es ist ein Kampf der Parteiführung gegen die | |
| Fraktionsführung. Sahra Wagenknecht droht mit ihrem Rücktritt als | |
| Fraktionsvorsitzende. Die neuen Abgeordneten halten sich raus. In der Pause | |
| bilden sich Grüppchen, sie stehen zusammen und pumpen den Filterkaffee aus | |
| den Thermoskannen vor dem Saal. Die Stimmung ist gedrückt. | |
| ## „Von Galionsfiguren halte ich nichts“ | |
| Wagenknecht hat am Morgen eine E-Mail an alle Fraktionsmitglieder | |
| verschickt, in der sie die beiden Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger | |
| beschuldigt, sie „wegmobben“ zu wollen. Der Ton des Briefes ist in Teilen | |
| gehässig, ungewohnt deftig für die sonst so kontrollierte Wagenknecht. Das | |
| Führungsquartett trifft sich spätabends noch zum Mediationsgespräch. Man | |
| einigt sich auf einen Kompromiss, der die Verwerfungen schlecht kaschiert. | |
| In seinem Pirnaer Bürgerbüro sagt Hahn, der sich äußerst ungern zu | |
| fraktionsinternen Angelegenheiten äußert, unfruchtbare Personaldebatten | |
| gebe es ja leider immer wieder in seiner Partei. „Aber daran will ich mich | |
| nicht gewöhnen.“ An der Basis habe blankes Unverständnis geherrscht. „Und | |
| ich habe mich die ganze Zeit gefragt: Was denken jetzt wohl die neuen | |
| Abgeordneten?“ | |
| Michel Brandt ärgert sich über den Stil der Auseinandersetzung. „Ich lasse | |
| mich nicht erpressen, das habe ich auch am Theater nicht getan“, sagt er | |
| über die Rücktrittsdrohungen Wagenknechts. „Von Galionsfiguren halte ich | |
| nichts.“ Auf der anderen Seite sehe er sehr viel Positives in der Fraktion. | |
| „Es gibt viele neue Leute, die frischen Wind reinbringen.“ | |
| ## Zu stark aufs Regieren fixiert | |
| Die neuen Linksparteiabgeordneten halten wenig von straffen | |
| Führungsstrukturen. Aus Strömungskämpfen halten sie sich raus. Mit ihnen | |
| wächst auch die Gruppe derer in der Partei, die keine Lust aufs Regieren | |
| haben. | |
| Lange bevor er Parteimitglied wurde, ging Michel Brandt gegen | |
| Castortransporte und Stuttgart 21 auf die Straße, er ließ im Sitzungssaal | |
| des Rathauses Luftballons steigen gegen Kürzungen im Kultur- und | |
| Sozialhaushalt. Gesellschaftliche Verhältnisse verändert man von unten her, | |
| ist seine Überzeugung. Im Osten nimmt er die Partei dagegen als zu stark | |
| aufs Regieren fixiert wahr. | |
| „Es ist ein Unterschied, ob man um die 5-Prozent-Hürde kämpft oder eine | |
| 30-Prozent-Partei ist“, sagt André Hahn, der seit 24 Jahren Mitglied des | |
| Kreistages Sächsische Schweiz ist und fast zwanzig Jahre im sächsischen | |
| Landtag saß. „Wir mussten immer eine größere Klientel ansprechen. Im Osten | |
| brauchst du im Wahlkampf so etwas wie ein Regierungsprogramm.“ | |
| Beide Positionen schließen sich nicht aus, können aber für harte | |
| Auseinandersetzungen sorgen, wenn es etwa darum geht, wie weit man in einer | |
| Regierung vom Grundsatzprogramm abrückt. Es ist ein Glück für die Linke, | |
| dass es derzeit im Bundestag keine Mehrheit mit SPD und Grünen gibt. | |
| In André Hahns Büro klingelt das Telefon. Die SPD ist dran. Für den Abend | |
| ist eine Sitzung des Kreistags auf dem Pirnaer Schlossberg angekündigt. | |
| Zusammen mit SPD und Grünen hat man einen Antrag aufgesetzt, um Kürzungen | |
| im Jugendhilfebereich abzuschmettern. Doch am Telefon erfährt Hahn, dass | |
| sich die SPD zurückzieht. Sie schließt sich stattdessen einem | |
| Kompromissvorschlag der Landkreisverwaltung an. Hahn legt auf und reagiert | |
| sauer: „Da brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn immer weniger Menschen | |
| sie wählen.“ | |
| ## „Weg von der Stammtischmentalität“ | |
| Grundsätzlich stehe er mit vielen SPD-Kollegen in engem Austausch, sagt | |
| Hahn. Mit dem sächsischen SPD-Vorsitzenden ist er befreundet. „Wenn wir | |
| gemeinsam mit SPD und Grünen etwas verändern wollen, muss sich jeder ein | |
| Stückchen auf den anderen zubewegen“, sagt Hahn. | |
| Mit der SPD verbinde ihn derzeit gar nichts, meint dagegen Brandt, und die | |
| baden-württembergischen Grünen würde er am liebsten gründlich | |
| durchschütteln. Zu einem Treffen mit Abgeordneten von SPD und Grünen, wie | |
| sie in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag stattfanden, würde er | |
| nicht gehen. „Da treffe ich mich lieber mit Sea-Watch.“ | |
| Die Basis scheint ihm recht zu geben. Aktuell ist Karlsruhe der am | |
| schnellsten wachsende Kreisverband der Partei in Baden-Württemberg – 80 | |
| Mitglieder kamen allein im vergangenen Jahr dazu. Als Michel Brandt 2013 | |
| die Geschäftsstelle betrat, war alles noch ein wenig verschlafen. Alle zwei | |
| Monate traf man sich in einer Kneipe, erzählt er. Oder es waren offizielle | |
| Treffen, Kreisparteitage etwa. „Wir haben dann angefangen, Filmabende zu | |
| machen, politische Stadtrundgänge und Fahrradtouren. Wir wollten weg von | |
| dieser Stammtischmentalität und versuchen, das breiter aufzustellen.“ Man | |
| sei jetzt so eine Mitgliedermitmachpartei, sagt der Schatzmeister, der | |
| schon PDS-Mitglied war. „Die Jungen, die können sich ja nicht oft genug | |
| treffen.“ Er lacht. „Sollen sie machen, ich zieh mich da ein bisschen | |
| zurück.“ 64 Jahre ist er alt. | |
| Die Linke im Westen erlebt gerade einen Generationenwechsel. Die | |
| gewerkschaftsnahen WASGler, die K-Gruppen-Veteranen und Ex-DKPler, die im | |
| Westen lange die Basis bildeten, treten in den Hintergrund, die Neuen | |
| bringen andere Biografien und Themen mit. Die Linke ist offener geworden. | |
| Sie rückt näher an soziale Bewegungen. | |
| ## Das „Team Sahra“ | |
| Zum Vortrag über „Bedingungsloses Grundeinkommen“ kommen an diesem | |
| Mittwochabend im Spätherbst etwa 30 Menschen in die Karlsruher | |
| Linken-Zentrale. Viele sind gerade erst in die Partei eingetreten. Da ist | |
| der Schüler mit lila Iro, der die Linke mit Ihrer Haltung zum | |
| Freihandelsabkommen viel glaubwürdiger findet als die Grünen. Da ist die | |
| Lehramtsanwärterin mit sorgfältig lackierten Fingernägeln und | |
| Pelzkragenkapuze, die einfach das Gefühl hatte, „was tun zu müssen“. Da i… | |
| der türkischstämmige Zimmermann aus einer SPD-Familie, der sagt: „Hartz IV | |
| müssen wir weit hinter uns lassen.“ | |
| Die Stimmung in der Karlsruher Geschäftsstelle ist freundlich, fast brav. | |
| Diszipliniert lauschen die Genoss_innen dem eineinhalbstündigen Vortrag und | |
| stellen Fragen. Anschließend macht sich ein Grüppchen noch auf in eine Bar. | |
| Ein Parteikollege Brandts, ein Pädagoge, erzählt von seiner Arbeit mit | |
| Flüchtlingskindern. | |
| Wie er denn die Äußerungen der Fraktionschefin Wagenknecht finde, die | |
| neulich erst in einem Interview sagte, wirtschaftlich motivierte | |
| Migration müsse verhindert werden? | |
| Er winkt ab. Ach, das interessiere ihn nicht, er kümmere sich lieber um die | |
| Sachen vor Ort. Sein Nachbar mischt sich ein: Da würde ja auch viel aus dem | |
| Zusammenhang gerissen von den Medien. Michel Brandt kann nicht mehr an sich | |
| halten. Sein Kopf ruckt nach rechts, er spricht leise: „Das Team Sahra | |
| postet gezielt solche Botschaften.“ „Team Sahra“ ist der Newsletter von | |
| Sahra Wagenknecht. „Das sind immer wieder kleine Attacken auf unser | |
| Parteiprogramm.“ Schweigen macht sich breit. | |
| ## Glückwunschkarten statt Blumensträuße | |
| Die Partei hat bisher keinen Weg gefunden, wie sie mit der unberechenbaren | |
| und populären Fraktionschefin umgehen soll. Ignorieren? Kleinreden? | |
| Parteiprogramm ändern? Wir geben unsere Position zur Flüchtlingspolitik | |
| nicht auf, sagen sie im Westen. | |
| Er sehe keine Veranlassung zu größeren Änderungen, sagt auch André Hahn in | |
| Pirna. Allerdings dürfe man auch die Schwierigkeiten nicht verschweigen, | |
| bei der Integration und bei der finanziellen Überlastung vieler Kommunen, | |
| die von Bund und Ländern unzureichend unterstützt werden. Tatsache ist: | |
| Auch Teile der Wähler und Mitglieder der Linken konnten sich nie so recht | |
| mit der per Parteiprogramm verordneten Flüchtlingspolitik identifizieren. | |
| Von den 13.000 sächsischen Mitgliedern im Jahr 2007 sind derzeit noch knapp | |
| 8.000 am Leben. Die jungen Leute, die vor allem in den Großstädten neu zur | |
| Linken stoßen, mildern den Schwund nur ab. In mancher Kleinstadt gibt es | |
| gerade noch eine Handvoll Genossen, in manchem Dorf nur noch einen Aktiven. | |
| Lutz Richter kann davon erzählen. Er ist Kreisverbandsvorsitzender der | |
| Linken Sächsische Schweiz Osterzgebirge und sagt: „Wir haben in den letzten | |
| Jahren nur noch gespart.“ Für die Mitglieder gibt es seit zwei Jahren zu | |
| runden Geburtstagen keine Blumensträuße mehr, sondern nur noch | |
| Glückwunschkarten. | |
| Jugendliche, die sich in Dippoldiswalde, Altenburg, Pirna oder Freital bei | |
| der Linken engagieren wollen, weist die Partei auf den solid-Jugendverband | |
| hin. Als kürzlich mal wieder ein junger Mann zum Treffen des Ortsverbands | |
| Dippoldiswalde gekommen sei, hätten hinterher alle Genossen gefragt: Wieso | |
| läuft der mit lackierten Fingernägeln rum? | |
| ## Immer das gleiche Schema | |
| In Ostsachsen trifft man sich zur weihnachtlichen Brecht-Lesung im Gasthof, | |
| begrüßt russische Gäste zum Tag der Befreiung oder fährt im Januar | |
| gemeinsam zur Liebknecht-Luxemburg-Demo zum Friedhof der Sozialisten in | |
| Berlin. | |
| Knapp 600 Kilometer liegen zwischen Karlsruhe und Ostsachsen. Kulturell | |
| scheinen bisweilen Welten dazwischen zu liegen. Die altgedienten Genossen | |
| im Osten, vor allem auf dem Land, sind kleinbürgerlich geprägt, sie denken | |
| konservativ. Sozialismus – ja, aber ohne dieses „Yeah, yeah, yeah“. | |
| André Hahn, der viel im Westen unterwegs ist, hat es noch nie nach | |
| Karlsruhe geschafft. Er freue sich natürlich, dass es so viele | |
| Neumitglieder gebe. Aber, ja, es werde schwieriger, Ostinteressen in der | |
| Fraktion durchzusetzen. „Die Diskussion, ob man die DDR als einen | |
| Unrechtsstaat bezeichnen soll, interessiert viele Westler überhaupt nicht.“ | |
| Aber die meisten Mitglieder im Osten sähen mit einer solchen Zuschreibung | |
| ihre Biografie entwertet. | |
| Michael Brandt war bisher einmal im Osten, in Leipzig. Mit den Ostverbänden | |
| habe er kaum zu tun, sagt er, das sei so weit weg. | |
| In André Hahns Pirnaer Büro steht der Besucher mit der gefalteten Zeitung | |
| auf. Er sagt Hahn zum Abschied, er finde die Linke prinzipiell gut. „Dass | |
| sie die Reichen besteuern und für mehr Gerechtigkeit sorgen will – das | |
| gefällt mir ja.“ Kurze Pause. „Aber wählen würde ich sie jetzt nicht.“ | |
| Wegen der Flüchtlinge. | |
| Hahn nickt. Er kennt solche Gespräche. Sie verlaufen immer nach dem | |
| gleichen Schema. Und das wird sich so schnell nicht ändern. | |
| 13 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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