| # taz.de -- Deutsche Kliniken in der Krise: Die letzte Schicht | |
| > Die Mutter unserer Autorin arbeitete 32 Jahre lang als Pflegerin in | |
| > demselben Krankenhaus. Ende 2023 wurde es geschlossen. Und nun? | |
| Bild: Die Mutter unserer Autorin kann nicht glauben, dass „ihr“ Krankenhaus… | |
| Mama dreht den Zündschlüssel um, beugt sich nach vorn und schaut kurz durch | |
| die Scheibe. Regentropfen prasseln auf das Autodach. „Der Himmel weint | |
| auch“, sagt sie und stellt die Scheibenwischer auf die höchste Stufe. | |
| Im Wagen ist es still. Die Scheinwerfer der vorbeiziehenden Autos werfen | |
| Schatten auf Mamas Gesicht. Keine halbe Stunde dauert der Weg zur Arbeit | |
| nach Haan, das zwischen Wuppertal und Düsseldorf liegt. Im Rheinland | |
| drängen die Städte aneinander, nichts ist ein Dorf, alles mindestens | |
| Kleinstadt. Mehrere hunderttausend Menschen leben hier. Mama kennt die | |
| Strecke auswendig, seit Jahrzehnten fährt sie mit dem Auto zur Arbeit. Auch | |
| heute, auf dem Weg zu ihrer letzten Schicht. | |
| Auf einmal zeigt sie nach draußen. Wedelt mit der Hand vor der Scheibe her. | |
| „Wo sollen die kranken Leute hin? Und die kleinen Kinder, die stürzen?“, | |
| ruft sie und biegt von der Hauptstraße ab. Vor uns erscheint auf dem Hügel | |
| ihr Krankenhaus. | |
| ## 19.52 Uhr | |
| Durch den Hintereingang geht Mama ins Krankenhaus. In die überdachte | |
| Einfahrt fährt sonst der Rettungswagen, um auf kurzem Weg die | |
| Notfallpatient*innen bis zum Flur zu bringen. Mamas Schicht in der | |
| Notfallambulanz beginnt erst um viertel nach acht, sie ist wie immer zu | |
| früh dran. Schnell schließt sie den Lagerraum auf, quetscht sich zwischen | |
| die Metallregale und wechselt in ihre Arbeitskleidung. Allein in die | |
| Umkleide in das Kellergeschoss zu fahren, sei zu gruselig, sagt sie und | |
| zieht zum letzten Mal das kornblumenblaue Oberteil über den Kopf. | |
| Anfang Oktober rief sie mich weinend an. Ich verstand sie kaum, versuchte | |
| sie zu beruhigen. Für einen Moment war es still, sie atmete tief und sagt: | |
| „Anastasia, sie schließen mein Krankenhaus.“ | |
| Es ist natürlich nicht ihr Krankenhaus, es gehört einem katholischen | |
| Träger, doch nach 32 Jahren Arbeit, von der Ausbildung bis zur Kündigung, | |
| da gehört es zu ihrer Geschichte dazu. Als sie Mitte der 80er Jahre aus | |
| Polen nach Deutschland kam, hatte Mama eigentlich andere Pläne, als ihre | |
| Ausbildung zur Krankenschwester fortzuführen: Koffer auspacken, Sprachkurs | |
| absolvieren, schnell Geld verdienen. Doch Oma bestand auf die Ausbildung | |
| bei den Missionsschwestern im Haaner Krankenhaus. Von ihnen lernte Mama, | |
| Verbände anzulegen, Blutdruck zu messen und Medikamente zu spritzen. | |
| Bis heute hat sie nie in einem anderen Haus gearbeitet und ist damit keine | |
| Ausnahme. Die Liste der Schüler*innen, die blieben, ist lang. Viele der | |
| Schwestern, die nun in ihren 50ern und 60ern sind, begannen und beenden | |
| ihre Karriere in Haan. | |
| Im Sommer meldete der katholische Träger des Krankenhauses Insolvenz an. | |
| Mama hörte die ersten Gerüchte unter Kolleg*innen, die nicht an eine | |
| Erholung glaubten. Sie redeten über Zeitarbeitsfirmen, zu denen sie | |
| wechseln könnten. Die Ersten luden ihren Lebenslauf auf Jobportalen hoch. | |
| Mama rief immer häufiger bei mir an, schlief nachts nicht, schickte jeden | |
| Artikel aus der Lokalzeitung, doch an ein Ende der Haaner Klinik glaubte | |
| sie damals noch nicht. | |
| Drei Monate nach dem Insolvenzantrag erfuhr sie im Oktober vom | |
| tatsächlichen Aus. Mama ist eine von 400 Angestellten, die ihren Job in | |
| Haan verlieren. Auch ein weiteres Krankenhaus des Trägers im Nachbarort ist | |
| betroffen. | |
| Sie schließt den Lagerraum ab und führt mich in das Schwesternzimmer. Der | |
| Computer, die Tische und Küchenzeile glänzen in sterilem Grau-Weiß. „Was es | |
| ist und was es war, das wird uns erst beim Abschied klar“, steht auf einer | |
| kleinen Tafel über der Sitzecke. Zum Jahresende schließt das Krankenhaus, | |
| die verbliebenen Patient*innen werden auf andere Standorte verlagert. | |
| Mehr als 6.000 Patient*innen versorgte das Krankenhaus jährlich. Auch | |
| wenn es ein kleines Haus war, hatte es immer genug zu tun und die 200 | |
| Betten gut gefüllt, sagt Mama. Warum also schließen? | |
| [1][Das Geld fehlt.] Das Krankenhaus machte Verluste. Preis- und | |
| Gehaltssteigerungen, kostspielige Sanierungen und [2][ein offener Antrag | |
| auf finanzielle Förderung des Landes Nordrhein-Westfalen führten zu | |
| Finanzlücken]. Dazu kam, dass [3][profitable Abteilungen] in das städtische | |
| Krankenhaus im Nachbarort gingen. | |
| Gerade haben sie noch die OP-Räume saniert und jetzt machen sie zu, sagt | |
| Mama, reicht mir ein Desinfektionstuch. Sie wischt über die Oberflächen in | |
| den Räumen, fährt über Liegen, Ultraschallgeräte, das EKG. | |
| Bisher sind keine Patient*innen gekommen, und wenn ich schon mal da | |
| bin, kann ich auch putzen helfen, findet sie. Ganz fassen, dass das | |
| Krankenhaus schließt, kann sie nicht. Jahrelang lief sie nachts durch die | |
| Gänge des Hauses, fuhr nie einen anderen Weg zur Arbeit. Bevor ich 1999 auf | |
| die Welt kam, arbeitete sie noch Vollzeit in der Tagschicht, danach | |
| reduzierte sie und wechselte in die ruhigere Nachtschicht. | |
| ## 21.45 Uhr | |
| Das klobige schwarze Telefon klingelt. Der Rettungswagen kommt mit einem | |
| älteren Patienten, Verdacht auf Thrombose. Mama eilt zum Hintereingang, die | |
| Schiebetüren öffnen sich, eine Dampfwolke steigt ihr ins Gesicht, sie | |
| hustet. „Was eine Begrüßung“, sagt sie, während die junge | |
| Rettungssanitäterin einen weiteren tiefen Zug von ihrer E-Zigarette nimmt. | |
| Gemeinsam mit ihrem Kollegen schiebt Mama den Mann über den Flur in ein | |
| Behandlungszimmer. Sie läuft schnell vor und schaltet das Licht an. | |
| Zusammen heben sie den Mann auf eine Trage, dann verabschiedet sich der | |
| Kollege. Mama nimmt einen Arm in die Hand, desinfiziert die Armbeuge und | |
| sucht nach einer Vene, um Blut abzunehmen. | |
| Zugänge legen und Gipse anbringen. Davor hatte Mama am meisten Angst, als | |
| sie in die Notfallambulanz wechselte. 25 Jahre hatte sie auf einer Station | |
| für innere Erkrankungen gearbeitet und sich um Patient*innen mit Herz-, | |
| Lungen- oder Magen-Darm-Beschwerden gekümmert. Den Schritt zu gehen ist ihr | |
| schwergefallen. „Ein Jahr lang bin ich mit Bauchschmerzen zur Arbeit“, | |
| erinnert sie sich. | |
| Wochenlang gab es zu Hause kein anderes Gesprächsthema, alle wollten sie | |
| überzeugen zu wechseln. Denn auf der internistischen Station zu bleiben war | |
| keine Alternative. Besonders das Lagern der schwerkranken Patient*innen, | |
| damit sie sich nicht wund liegen, ist körperlich anstrengend und machte ihr | |
| immer mehr zu schaffen. | |
| Weil die chirurgische Ausbildung schon so lange her war, übte sie zu Hause | |
| an meinem Arm das Gipsen, legte nasse Wickel um meine Hand und verband sie. | |
| Oma musste damals mit ihren schlechten Venen für das Blutabnehmen | |
| herhalten.Jetzt liegen drei Röhrchen in Rot, Grün und Orange neben ihr auf | |
| einer Kommode. Die Venen des Mannes schimmern bläulich durch die dünne | |
| Haut. Sie setzt mit der Nadel an und trifft beim ersten Mal. | |
| ## 23.24 Uhr | |
| Mama setzt sich kurz in das Schwesternzimmer und reibt sich das Knie „Als | |
| würde ich einen Stein mit mir herumschleppen“, sagt sie. | |
| Im Herbst hatte sie sich operieren lassen. Meniskusriss. Seit Donnerstag | |
| arbeitet sie wieder, vier Nächte am Stück, dann ist es vorbei. Warum hat | |
| sie nicht auch die letzten Nachtschichten abgegeben? „Ich wollte mit Ehre | |
| gehen“, sagt sie. Arbeit gehe immer vor. | |
| Ich kann an zwei Händen abzählen, wie oft Mama krankgeschrieben war. | |
| Mittags saßen wir oft gemeinsam am Küchentisch, sie im grau-weiß | |
| gestreiften Bademantel mit zerzausten Haaren. Neben ihr ein Glas Wasser und | |
| die nächste Schmerztablette. „Pszczółka Maja“ nannte Oma sie | |
| kopfschüttelnd. Die Biene, als Symbol für Fleiß. Doch Biene Maja hätte sich | |
| schon längst krankschreiben lassen, denke ich. | |
| ## 0.10 Uhr | |
| Ein junger Mann betritt die Notfallambulanz, Anfang 30, lange braune Haare. | |
| Er sei im Treppenhaus gestürzt. Der Chirurg schickt ihn in den Röntgenraum. | |
| Mama legt ihm danach eine Schiene über die geprellte Schulter, um den Arm | |
| zu stabilisieren. | |
| „Wenn etwas sein sollte mit der Schiene, kommen Sie nicht zu uns“, scherzt | |
| sie. | |
| „Wie, warum nicht?“, fragt er. | |
| „Na, wir schließen nächste Woche. Dann gibt es kein Krankenhaus mehr in | |
| Haan.“ | |
| „Und dann? Wo soll ich hin?“ | |
| „Das ist eine gute Frage“ | |
| Wie die medizinische Notfallversorgung der 31.000 Einwohner*innen nach | |
| der Schließung aussehen soll, bleibt bis zum Ende unklar. Das Deutsche Rote | |
| Kreuz in Mettmann warnte ausdrücklich vor der Schließung. Mehr als 2.000 | |
| Mal fuhren Einsatzwagen das Haaner Krankenhaus im vergangenen Jahr an. Nun | |
| werden sich die Anfahrten verlängern. | |
| Um alle Notfallpatient*innen im Kreis versorgen zu können, wird es | |
| laut der Kreisfeuerwehr auch möglich sein müssen, Arztpraxen ansteuern zu | |
| können und stärker zu selektieren, wen der Rettungswagen mitnehme. | |
| ## 2.15 Uhr | |
| „Langsam kann die Nacht auch zu Ende gehen“, meint Mama und reibt sich die | |
| Augen. Schlafen darf sie nicht. Wenn sie müde ist, streift sie durch die | |
| Räume und sortiert Medikamente nach ihrem Verfallsdatum oder wischt ein | |
| weiteres Mal über alle Flächen. Neben ihr liegt stets das Telefon, bereit, | |
| sie aus ihren Gedanken zu reißen. Auch jetzt lässt es nicht lange auf sich | |
| warten. | |
| Eine ältere Italienerin, stark verschnupft, wird von Sanitäter*innen | |
| in den Flur geschoben. Ihre zwei Enkel sitzen im Behandlungsraum rechts und | |
| links von ihr, halten ihre Hände und übersetzen die Fragen des Arztes. Zur | |
| Überwachung bleibt die Frau in der Klinik. Etwas Schleimlösendes wäre | |
| alles, was sie brauche, meint Mama. Doch viele sind verunsichert und landen | |
| in der Notfallambulanz. | |
| ## 5.30 Uhr | |
| Langsam tropft der frisch gebrühte Kaffee in die Kanne, im Hintergrund | |
| läuft das Radio. Noch eine halbe Stunde, dann löst der Frühdienst Mama ab. | |
| Vor ihr liegen drei Schlüssel auf der geblümten Wachstischdecke. Die muss | |
| sie später abgeben. Was danach passiert, weiß sie noch nicht. Mama würde | |
| gern in der Nähe in einem anderen Krankenhaus arbeiten. In der Nacht, weil | |
| sie da Ruhe vor dem Tagesgeschäft hat. | |
| Viele der jüngeren Kolleg*innen wissen, wohin sie gehen. „Viele können | |
| sich besser verkaufen. Ich habe bis zum Ende abgewartet“, sagt Mama. Mitte | |
| November war ich ein Wochenende zu Hause, um ihr beim Schreiben von | |
| Bewerbungen zu helfen. „Medizinische Fachangestellte für HNO-Praxis | |
| gesucht“, las ich vor. „Nein, da muss ich bestimmt viel schreiben“, | |
| erwiderte sie. Manchmal verwechselt Mama beim Schreiben einen Artikel, | |
| vergisst ein Ü im Wort. Am liebsten würde sie einfach weiter laufen, | |
| pflegen, helfen und weniger Zeit vor dem Computer sitzen und Akten | |
| dokumentieren. | |
| ## 6.01 Uhr | |
| Die Nacht ist vorbei, der Stationsleiter ist zur Frühschicht gekommen. Kurz | |
| tauschen sie sich über die Fälle aus. Trotz fünf Patient*innen verlief | |
| alles ruhig. Mama packt unsere Gläser in die silbern-glänzende Spülmaschine | |
| und lacht kurz. „Ich dachte, dass sie uns retten werden, weil wir gerade | |
| erst eine neue Spülmaschine bekommen haben.“ Dann schaut sie den | |
| Stationsleiter an, sie nehmen sich zur Verabschiedung fest in den Arm. Mama | |
| wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. | |
| ## 6.20 Uhr | |
| Mama dreht den Zündschlüssel um, beugt sich nach vorn, schaut kurz durch | |
| die Scheibe. Es regnet immer noch. Wenige Autos sind auf der Straße | |
| unterwegs. Wie sie sich fühlt, frage ich. Sie habe eine gute Zeit gehabt, | |
| mit tollen Kolleg*innen, auch wenn es manchmal stressig war. Ganz | |
| begreifen, dass es vorbei ist, kann sie nicht. „Ich konnte mir nie | |
| vorstellen, dass ich nochmal neu anfangen muss. Irgendwann, dachte ich, | |
| falle ich dort einfach tot um und das war’s.“ | |
| Anfang des Jahres hat Mama ihren neuen Vertrag in einem Krankenhaus in der | |
| Nähe unterschrieben. Sie arbeitet auch dort als Nachtschwester in der | |
| Notfallambulanz. Ihr altes Haus vermisst sie weiterhin. | |
| 17 Mar 2024 | |
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