# taz.de -- Der Hausbesuch: Er ergründet die wahre Begegnung | |
> Es sind die großen Fragen, die den Heidelberger Buchhändler Clemens | |
> Bellut interessieren. Er läuft lieber gegen Wände, als sein Leben zu | |
> planen. | |
Bild: Bücher, darin: Überlegungen, Gedanken, Philosophie – das macht Clemen… | |
Sich treu zu bleiben ist schon eine herausfordernde Aufgabe. Clemens Bellut | |
stellt sich ihr, und am Ende macht sie ihn demütig. | |
Draußen: Wer die Alte Brücke in Heidelberg stadteinwärts überquert, hat | |
einen grandiosen Blick auf das Schloss. Anschließend ist es nicht weit zum | |
Kornmarkt. Dort gibt es einen Buchladen, der heißt „Artes Liberales“. Im | |
Schaufenster liegen vor allem philosophische Bücher. | |
Drinnen: Im Haus seines Buchladens wohnt Clemens Bellut auch. Schon im Flur | |
steigt einem Pfeifengeruch in die Nase. In der Wohnung im ersten Stock | |
stehen hohe Regale mit Büchern, auf einem Beistelltisch ein Glas Wein. Die | |
Wände sind kahl, als lebte der 65-Jährige nur vorübergehend hier und habe | |
sich dann aus Versehen eingerichtet. „Ich dachte, das wird nur ein teurer | |
Urlaub hier“, sagt er. | |
Das Wesentliche: Was ihn ausmacht? „Menschen, Bücher, Überlegungen, | |
Gedanken, Philosophie, Politik. Im weitesten Sinne, alles was mit Kunst zu | |
tun hat. Ungefähr in dieser Reihenfolge“, sagt er. Er hatte mal vor, Musik | |
zu studieren. Entschied sich dann aber dagegen. Obwohl für Musik Platz in | |
seinem Lebenslauf ist. | |
Das Heeresmusikkorps: Nach dem Abitur geht Clemens Bellut zur Bundeswehr. | |
Er macht „Wehrdienst an der Querflöte“, beim Heeresmusikkorps, spielt bei | |
Staatsempfängen. „Da waren schon kuriose Begegnungen dabei“, sagt er. Er | |
spielt für den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat, der 1981 ermordet | |
wurde, und für Leonid Breschnew, der vielen vom „sozialistischen | |
Bruderkuss“ mit Erich Honecker bekannt ist. Davor, in der Schule, sei | |
Bellut „ziemlich schlecht“ gewesen. Seine Lehrer rieten ihm vom Studieren | |
ab. „Ich weiß heute noch die Stelle in Bonn, wo mir der Gedanke kam: Was | |
geht mich das saudumme Geschwätz meiner Lehrer an?“ | |
Philosophie: Schon als Jugendlichen interessierten Bellut mehr die großen | |
Fragen, wie: „Was hält die Welt im Inneren zusammen?“ Heute kann er Stunden | |
über Philosophie reden. Über Adorno, die Frankfurter Schule, Marx, Kant, | |
you name it. Jemand erklärte Bellut mal, dass ihm die intellektuellen | |
Fähigkeiten für Gedanken dieser Flughöhen fehlen. Er lächelt, sagt: | |
„Angeber.“ Wobei es da mal so eine Zeit gegeben habe, als er „so im | |
spätpubertären Gestus“ viel Marx gelesen hatte. Da dachte er, er hätte „… | |
Weisheit mit Löffeln gefressen“, da dachte er, er könne alles auf eine | |
bestimmte Art und Weise analysieren und verstehen. Es hatte einen Anflug | |
von Größenwahn. | |
Studium: Bellut studiert Philosophie, Literatur und Ethnologie, zieht dafür | |
aus seiner Geburtstadt Erkelenz bei Mönchengladbach nach Bonn und wechselt | |
später nach Tübingen. Es läuft auf eine Promotion hinaus. „Mir war immer | |
wichtig, dass ich die Doktorarbeit nicht des Prestiges wegen schreibe.“ Den | |
Genitiv benutzt er, ohne darüber nachzudenken. Bellut recherchiert die | |
„Frage nach dem Ursprung in der deutschen Romantik“. Wobei nicht ganz klar | |
ist, ob er Romantik oder romantische Vorstellungen meint. Die hatte er | |
zumindest vom Studium: „Man sitzt in einer Bibliothek, an einem alten Tisch | |
mit schwerem Holz und großen schwarzen Schirmlampen, und im Lichtkegel | |
liegen Bücher, die man nur mit zwei Händen umblättern kann.“ Bellut ist mit | |
der Doktorarbeit fast fertig, da geht ihm das Geld aus. | |
Die Annonce: Als weit und breit keine Mark mehr aufzutreiben ist, steckt | |
Clemens Bellut sein letztes Geld in ein Stellengesuch in der Zeit. „Eher | |
ungewöhnliches Profil für eher ungewöhnliche Aufgaben“, lautet die Annonce. | |
„Anstellung an Universitäten, Bildungseinrichtungen und Unternehmen wäre | |
denkbar.“ Es meldet sich jemand von der Frankfurter Messegesellschaft. „Ich | |
habe das für ’nen Treppenwitz der Weltgeschichte gehalten“, sagt Bellut, | |
zündet seine Pfeife an und schenkt sich ein Glas Wein ein. Er hat nur an | |
Buchmessen gedacht, nicht an Autos oder Mode. Beim Vorstellungsgespräch | |
schwätzt er mit dem Manager der Messegesellschaft stundenlang, über Gott | |
und die Welt, aber nicht über einen Job. Nach ein paar Stunden vertröstet | |
der Manager Bellut, da er noch mit dem italienischen Botschafter zum | |
Fußballgucken verabredet ist. | |
Der Job: Ein paar Monate später meldet sich der Manager von der | |
Messegesellschaft doch und fragt, ob Bellut anfangen möchte, um ein Konzept | |
zur Unternehmensphilosophie und zum Zeitgeschehen zu erarbeiten. Bellut | |
wiederum bittet um ein bisschen Zeit, um seine Doktorarbeit fertig zu | |
machen. Jetzt oder nie, lautet sinngemäß die Antwort. So bleibt die | |
Promotion liegen. „Die kann ich auch noch machen, wenn ich alt bin, habe | |
ich mir gesagt.“ | |
Insignien: Nach vier Jahren kommt ein neuer Chef. Der ist nicht auf der | |
gleichen Wellenlänge, bietet Bellut aber an, die Schulungsabteilung zu | |
leiten, mit 60-köpfigem Mitarbeiterstab und Firmenwagen. „Der hat nicht | |
verstanden, dass es nicht mein Anliegen ist, mich mit solchen Insignien zu | |
versehen.“ Bellut schaut sich die neuen Umstände ein halbes Jahr an und | |
kündigt dann. | |
Jobs: Anschließend arbeitet Bellut unter anderem als Lehrer für Deutsch als | |
Fremdsprache, konfiguriert Internetanschlüsse und verdient sich Geld mit | |
oberflächlichen Wohnungsrenovierungen, bis ein Designer, „der Ruedi Baur“, | |
ihm erklärt, dass er ihn gern als Dozent an einem neu gegründeten Institut | |
in der Schweiz hätte. „Ich hab noch meine Zahnbürste eingepackt und bin | |
nach Zürich gefahren.“ Von 2006 bis 2012 ist er dort. Dann strandet er in | |
Heidelberg. | |
Neustart: In Heidelberg fehlt Clemens Bellut noch eine Buchhandlung, wie er | |
sie aus anderen Städten kennt, aus Leipzig oder Berlin, wo er sich auch oft | |
aufgehalten hat. Der Zufall sorgt dafür, dass unter seiner Wohnung ein | |
winziges Ladenlokal frei wird. Als er seinem Vermieter die Idee | |
unterbreitet, ist der überhaupt nicht begeistert. Das Logo des Buchladens | |
entwirft schließlich Ruedi Baur aus Zürich für Bellut. | |
Freie Künste: Einige Preise hat Belluts Laden erhalten, aber in Zeiten von | |
Amazon und dem Internet [1][steht kleinen Buchhandlungen das Wasser bis zum | |
Hals]. Vom wirtschaftlichen Misserfolg eingeholt, entscheidet er sich, noch | |
ein kleines Institut zu gründen. „Wir haben keine Chance, nutzen wir sie“, | |
sagt er. Im „Institut Artes Liberales Universitas“ gibt es Vortragsreihen | |
von Verlegern und Raum für Studenten, die diskutieren, bis die Fetzen | |
fliegen. Die finanzielle Verantwortung lässt Bellut zwar nachts schlecht | |
schlafen, aber zur Gründung des Instituts hat er sich mit Freunden | |
zusammengetan, die ihm seelisch und moralisch zur Seite stehen. „Mein | |
Freund, der Florian“, habe in einem der vielen Gespräche gesagt: „Clemens, | |
alles andere ist Broterwerb. Das hier ist es doch, worum es geht.“ | |
Begegnung: „Was wünscht man sich mehr als eine wahre Begegnung?“, fragt | |
Bellut. Ob es jetzt eine Begegnung mit einem Bild in der Kirche Santa Croce | |
in Florenz sei oder mit Hegels Phänomenologie des Geistes, einem Menschen | |
oder einem Wald. Eine Begegnung ist für ihn „wie ein wirkliches Gespräch, | |
wo man sich die Köpfe einschlägt, nach Hause geht und die halbe Nacht noch | |
das Rad im Kopf umgeht. Aus den Gedanken kommt man nicht mehr raus, und | |
schlussendlich weiß man: Von heute an sieht die Welt anders aus.“ | |
Chaos: Es gebe Menschen, die planen ihr Leben und versuchen nichts dem | |
Zufall zu überlassen. Mit 24 das Master-Studium beendet, mit 28 promoviert, | |
mit 40 habilitiert, mit 65 emeritiert. Gegen diese Art der Vorkalkulation | |
hat Clemens Bellut eine tiefe Abneigung. „Lieber laufe ich permanent gegen | |
Wände oder auf Abgründe zu.“ Die Wände, die Abgründe sind real. In seinem | |
Fall sind die Abgründe das Sehen. | |
Die Augen: Bellut schreibt noch. Mal einen Aufsatz für die philosophische | |
Lektüre, mal für sich selber. „Ich würde gerne erheblich mehr schreiben.“ | |
Doch der Buchladen hindere ihn daran. Außerdem gibt es ein anderes Problem. | |
Es heißt „Makuladegeneration“. Er hat mit erheblichen Beeinträchtigungen | |
des Augenlichts zu kämpfen, Lesen ist mit großer Mühe verbunden. Es gibt | |
noch die Möglichkeit, eine neue Brille zu bekommen, doch tendenziell könne | |
das zu einer sogenannten Leseblindheit führen. „Das macht mich …“, er | |
bricht den Satz ab. „Da will ich gar nicht drüber nachdenken.“ | |
11 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Clemens Sarholz | |
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