Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Demokratie zum Mitmachen: Das große Gesellschaftsspiel
> Eine Ausstellung im Bürgerzentrum Bremen-Vahr erinnert daran, worauf es
> ankommt bei der Demokratie: Sich selbst zu erkennen und einzubringen.
Bild: Blick in die Ausstellung: Selber am Rad drehen können ist Demokratie
BREMEN taz | Sensationell. Das, was da gerade wächst, oder genau genommen
nicht wächst, sondern schweißtreibend aufgebaut wird, um am Donnerstag im
Bürgerzentrum Vahr eröffnet zu werden, ist zweifellos die Ausstellung des
Jahres in Bremen. Und nein, dass die Stadt derzeit mit einem [1][dufte
musealen Kooperationsprojekt] bespielt wird, haben wir nicht vergessen.
Alles achtbar, ja, ja, große Kunst, toll, toll.
Aber die 350 Quadratmeter von „Step by Step – Demokratieträume“ sprengen
tatsächlich den Rahmen von dem, was du gemeinhin als Ausstellung verstehst:
Was hier entwickelt wurde, lässt sich eher als ein Labor oder ein
transportables Science-Center beschreiben.
Wobei Demokratie, [2][um die es hier geht], selbstredend weder Kunstwerk
noch Wissenschaft ist, sondern ein ewiger Prozess, an dem möglichst alle
teilnehmen. Und so können die aus Pressspanplatten gearbeiteten
Bestandteile der Ausstellung zwar architektonisch korrekt als Aufsteller
bezeichnet werden.
In Wirklichkeit jedoch handelt es sich um komplexe Lern- und
Interaktions-Stationen, die zusammen ein großes Gesellschaftsspiel ergeben.
Mit filigran in die Fläche getischlerten memoryartigen Kipp-Elementen, mit
eingelassenen Touchscreens, mit Täfelchen, die dank Sublimationsdruck nur
nach Handauflegen lesbar werden.
## Ein Fenster zur weiten Welt der Diskriminierung
Oder auch mit aufklappbarem Fenster, ganz im Wortsinn ein Fenster zur Welt,
wie Saher Khanaqa-Kükelhahn jetzt gleich beweisen wird, sobald sie das
Klebeband abgeknibbelt hat, das zur Transportsicherung die Flügel
verschließt.
Et voilà. Jetzt kann sie die gemalte Zeitung aufschlagen, deren Headlines
alle von freier Liebe und von Zärtlichkeit handeln. Dadurch verwandelt sie
sich in eine Weltkarte: Farben indizieren, wo das Recht auf sexuelle
Selbstbestimmung ausgeprägt und wo es gefährdet ist.
Textkästen, auf jedem bewohnten Kontinent einer oder zwei, schildern
besonders markante Beispiele: [3][Todesstrafe für Homosexualität dort],
maskulinistisches Scheidungsrecht dort. Das verschärfte Abtreibungsverbot
von Polen hat Eingang in die Übersicht gefunden. Starker Schutz für queere
und trans* Personen, dafür musst du wohl nach Skandinavien schauen.
Saher Khanaqa-Kükelhahn prüft in der Zwischenzeit kritisch den Zustand des
Exponats, völlig aus dem Häuschen vor Begeisterung und doch zugleich
akribisch, fast schon überkritisch, was die Gesellschaft für Gestaltung da
hingebungsvoll und technisch perfekt gefräst, gemalt und bedruckt hat und
jetzt anliefert.
Und au weia!, da entdeckt sie doch wirklich einen Fleck! „Das ist doch
ärgerlich“, sagt sie, schaut noch einmal streng nach links unten, aber dann
Erleichterung: Der Fleck hat seine geografische Berechtigung. Es handelt
sich um die [4][Galapagos-Inseln].
Khanaqa-Kükelhahn ist Psychologin, darin hat sie ein Diplom, aber richtiger
wäre die Berufsbezeichnung Integrations- oder Inklusionsarbeiterin. Seit
Jahrzehnten macht sie Projekte mit Menschen, die neu angekommen sind in
Bremen: Sie koordiniert „Face to Face“, das „Beschäftigungsprogramm für
Migrant*innen und Geflüchtete ab 18 Jahren“ in der Vahr, mit Tanz-, Näh-
und klassischen Sprachkursen.
Daraus hervorgegangen ist ein Upcycling-Atelier mit neuerdings eigenem Shop
im Einkaufszentrum Berliner Freiheit. Und seit 2009 hat sie auch das
Theaterensemble „Next Generation“ unter ihren Fittichen, mit Jugendlichen
von überall her und mit ganz unterschiedlichen Sprachen.
Ihr jetziges Team, sagt sie, „die waren alle vor ein paar Jahren in Kursen
bei uns“, frisch im kalten Deutschland gestrandet, „jetzt sind sie
Mitarbeiter“. Mitarbeitende im Step-by-Step-Projekt, das sechs Module
umfasst, vom Familienworkshop zur Demokratielots*innenausbildung. Die
Ausstellung ist nur eines davon, wenn auch ein besonders glanzvolles.
Mit dem Team hat sie das Konzept und jedes Element der Ausstellung
erarbeitet, jeden i-Tüpfel eines jeden Objekts, in Videokonferenzen, in
ausufernden Chats und ewigen Mailwechseln. „Manchmal ging ein Bild fünfmal
hin und her“, sagt sie, „dann habe ich am Ende einfach entschieden“.
Speziell aber ist, dass der Ansatz von Menschen entwickelt wurde, „die
nicht hier in dieser Demokratie aufgewachsen sind“, Menschen mit Kriegs-
und Diktaturerfahrungen: wie sie selbst. Mehrere von ihnen führen durch die
Ausstellung als eigens ausgebildete Demokratie-Lots*innen. Sie sind im
Wortsinn Demokratie-Expert*innen.
## Mit trotziger Sicherheit
Khanaqa-Kükelhahn ist in den Kurden-Gebieten des Irak aufgewachsen, als
dort noch Saddam Hussein herrschte. Als sie hierherkam sei sie ohne
Rücksicht auf Verluste in die Schule gesteckt worden, ohne Deutschkurs,
ohne Orientierungshilfen. Programme wie die, in denen sie jetzt arbeitet:
Fehlanzeige.
Die fast trotzige Sicherheit, Teil dieser Gesellschaft zu sein, hat das
nicht beeinträchtigt. „Meine deutschen Freunde“, sagt sie, „fragen mich
oft, warum ich mich so einsetze, warum ich nicht still und zufrieden in
meiner Praxis bleibe“, aber dieser Impuls, mitzumachen, sei ja genau das
Entscheidende: „Wir alle zusammen sind die Gesellschaft. Wir haben alle die
gleiche Verantwortung für die Demokratie“, sagt sie mit Verve. „Und
natürlich regt es mich wie jeden anderen auf, wenn es mehr rechtsradikale
Schläger gibt, oder wenn die islamistischen Extremisten stärker werden.“
Die Idee der Schau, die später nach Hannover, nach Kiel, nach München,
Berlin, in fast jede größere deutsche Stadt touren wird, ist letztlich,
diesen Impuls, der Demokratie leben lässt, zu wecken und weiterzutragen.
„Wir wollen doppelt so ansteckend sein wie eine Delta-Variante“, sagt
Khanaqa-Kükelhahn.
Also verzichtet sie darauf, über die Geschichte der Staatsform oder das
machtmechanische Zusammenspiel der Verfassungsorgane zu belehren.
Stattdessen organisiert die Ausstellung Begegnungen: Am Ende wird man – das
ist die äußere Demokratie, da erprobt sie sich und ihre impliziten Werte
als Herrschaftsform – mit anderen Besucher*innen an einem Tisch sitzen
und soll eine Koalition schmieden: Kompromisse finden, gemeinsame Ziele
erkennen, anhand der aktuellen, aber anonymisierten Wahlprogramme.
Ganz am Anfang aber treffen ihre Besucher*innen auf sich selbst, im
Spiegel. „Das ist das wichtigste“, darauf besteht Khanaqa-Kükelhahn, „al…
muss vom Ich ausgehen“. Denn „für die Gesellschaft etwas zu tun“ sei nur…
der Lage, wer sich widerspiegele, sich einschätze, den Blick der Anderen
auf sich selbst erprobe: Das wäre dann die innere Wahrheit des Systems.
Hier lässt sich erlernen, wie lustvoll es ist, daran teilzuhaben.
24 Jul 2021
## LINKS
[1] /Kunst-uebers-Riechen/!5779633
[2] https://demokratie-step-by-step.de/
[3] https://www.lsvd.de/de/ct/1245-LGBT-Rechte-weltweit-Wo-droht-Todesstrafe-od…
[4] https://www.google.com/maps/place/Galapagosinseln/@-2.4947131,-114.0573155,…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Krise der Demokratie
Demokratie
Bremen
Schwerpunkt Stadtland
CDU Bremen
Schwerpunkt Klimawandel
Rechtsextremismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Bremer Integrationswoche: Die Kraft des Vorurteils
In der Show „Bremens Super-Gastarbeiter:innen“ geht es um Klischees. Toll,
wie da der Schwachsinn, den man so denkt, rausgekitzelt wird.
Streit um Banner an Bremer Jugendhaus: Senat lässt CDU abblitzen
Wegen eines antifaschistischen Banners an der „Buchte“ stellt die CDU ihre
Förderung infrage. Die Naturfreundejugend findet das diskreditierend.
Professorin über Radverkehr: „Öffentlichen Raum neu aufteilen“
Sichere Radwege brauchen laut Deutschlands erster Radprofessorin Jana Kühl
Platz. Die Situation der Autofahrenden müsse sich ändern.
Studie über rechtsextreme Einstellungen: Die Mitte wankt
Die Neuauflage der „Mitte-Studie“ konstatiert eine hohe Zustimmung zur
Demokratie – in Detailfragen aber sind viele Deutsche für Ressentiments
offen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.