| # taz.de -- Debütroman aus dem Weimarer Berlin: Gegen Dr. Popper | |
| > Lili Grüns Roman „Alles ist Jazz“ aus dem Jahr 1931 ist jetzt wieder zu | |
| > entdecken. Er zeigt Berlin während der Weimarer Republik. | |
| Bild: Im Berlin der Zwanziger gab es viele junge Frauen mit Träumen wie die Pr… | |
| Hundert Jahre kann man auf verschiedene Weise überspringen. Als der Wiener | |
| Zsolnay-Verlag im März 1933 diesen spritzigen Roman aus der Berliner Boheme | |
| veröffentlichte, trug er noch den Titel: „Herz über Bord“. Das schloss an | |
| die kecken, weiblich akzentuierten Romane von Irmgard Keun oder | |
| [1][Gabriele Tergit] an, führte aber doch auf eine falsche Fährte. Lili | |
| Grüns Roman ist nämlich nicht nur einfach unterhaltsam und atmosphärisch | |
| dicht, sondern wirft den Blick auch auf die prekären Lebensverhältnisse im | |
| Künstlermilieu, also auf Schattenseiten der Goldenen zwanziger Jahre. | |
| Die Hauptfigur Elli ist 21 Jahre alt und versucht, sich als Schauspielerin | |
| durchzuschlagen. In Berlin rechnet sie sich dabei mehr Chancen aus als in | |
| Wien, woher sie stammt. In der deutschen Hauptstadt gibt es allerdings | |
| viele, die ähnliche Träume haben wie Elli, das deckt sich verblüffend genau | |
| mit unseren Verhältnissen hundert Jahre später. | |
| Im Unterschied zu heute kommt hinzu, dass die finanzielle Situation von | |
| Anfang an desolat ist. Es gibt keinerlei Rückendeckung von den Eltern oder | |
| vom Staat, man lebt von der Hand in den Mund und ist regelmäßig dazu | |
| gezwungen, die monatlichen Mietzahlungen zu stunden – immer mit der Sorge, | |
| auf die Straße gesetzt zu werden. | |
| Elli lebt auf, als ein paar ihrer Freunde beschließen, aufs Geratewohl eine | |
| eigene Theater- und Kabarettgruppe zu gründen. Sie steht für den neuen, | |
| kindlich-ungezwungenen Frauentyp, der sich damals in Berlin entwickelte, | |
| mit einer nonchalanten Frechheit und Sehnsucht. Hullo, der Spiritus rector | |
| der Gruppe, steckt voller Ideen und ist unermüdlich aktiv, hat dabei aber | |
| auch etwas Ungelenkes und ist beileibe kein Frauentyp. | |
| Er spürt, dass etwas in der Luft liegt, und nennt die Gruppe einfach | |
| „Jazz“: „So wollen wir heißen, so wollen wir sein. Es ist der Rhythmus, … | |
| aus unseren Maschinen entstanden ist, der Rhythmus, in dem wir armen | |
| Hascherln schlecht und recht groß geworden sind und gehen gelernt haben.“ | |
| Das Wort „Jazz“ meint hier keineswegs nur die Musik, es markiert vor allem | |
| ein Lebensgefühl. | |
| ## Kneipenszenen, Feten und Avancen | |
| Was die Gruppe in einem billigen Nebenraum am Kurfürstendamm aufführt, hat | |
| zunächst großen Erfolg. Ellis Glanzstück ist ein Chanson, das Hullo für sie | |
| geschrieben hat und mit den Worten endet: „Doch wenn schon einer Schluss | |
| macht, / dann nur ich.“ Und irgendwo hat Hullo eine verlorene Sängerin | |
| beziehungsweise Diseuse namens Hedwig aufgetrieben, die eine suggestive | |
| Brecht’sche Ästhetik ausstrahlt: „Sie steht schlank und lässig auf der | |
| Bühne und spricht ihren sentimentalen Text nebensächlich wie immer.“ | |
| Kneipenszenen, Feten nach einem Erfolg, die Avancen reicher | |
| [2][George-Grosz-Figuren] wie „Dr. Popper“, aber auch tagelanger Hunger und | |
| zu wenig zum Anziehen: Das Bild, das hier von Berliner Bühnen einer | |
| Glanzzeit erscheint, ist alles andere als romantisch, es ist ein Realismus | |
| kurz vor dem Abgrund. Die Liebesgeschichte, die Elli mit dem gänzlich | |
| anders gearteten, bürgerlich-karrieristischen Studenten Robert eine Zeit | |
| lang hat, ist zwangsläufig vergeblich und steigert die Grundstimmung noch. | |
| Dass das „Jazz“-Kabarett nach einer Saison nicht mehr zu halten ist, liegt | |
| in der Natur der Dinge, und wenn Elli am Schluss in ein billiges | |
| Sommerengagement abtaucht, endet sie in einem verschwommenen Ungefähr, als | |
| ob das Jahr 1933 in seinen Dimensionen bereits zu ahnen wäre. | |
| ## Autobiografische Erfahrungen einer jungen Wiener Jüdin | |
| Die Herausgeberin Anke Heimberg hat Lili Grüns Roman den zugkräftigeren | |
| Titel „Alles ist Jazz“ gegeben. In der Neuausgabe finden sich biografische | |
| Informationen, die umso neugieriger auf diese Autorin machen. Ihr | |
| Debütroman beruht eindeutig auf autobiografischen Erfahrungen. | |
| Die junge Wiener Jüdin spielte im Frühjahr und Sommer 1931 im | |
| politisch-literarischen Kabarett-Kollektiv „Die Brücke“, als sich die | |
| eigentlich in dieser Spielstätte in der Bellevuestraße beheimatete | |
| „Katakombe“ auf Tournee befand. „Die Brücke“ positionierte sich politi… | |
| scharf links, beispielsweise gehörte der später in der DDR gefeierte | |
| Arbeitersänger Ernst Busch dazu, und zweifellos nutzte Lili Grün diese | |
| Erfahrungen für ihre „Jazz“-Gruppe. | |
| Vorher hatte die Autorin in Wien zum Kreis des [3][jüdischen Journalisten | |
| und Sexualaufklärers Hugo Bettauer] gehört, der 1925 ermordet und damit zu | |
| einem der ersten prominenten Opfer der österreichischen Nazis wurde. | |
| All diese Prägungen spürt man in ihrem Debütroman, dem noch zwei weitere | |
| folgen sollten. Ende 1933 versuchte Lili Grün verzweifelt, ins Exil nach | |
| Paris zu gehen, kehrte jedoch 1935 wegen chronischer Geldnot und ihres | |
| miserablen Gesundheitszustands nach Wien zurück. Im Mai 1942 wurde sie von | |
| dort deportiert und im Alter von 38 Jahren im KZ Maly Trostinec ermordet. | |
| Im Wissen um die zeitgeschichtlichen und biografischen Hintergründe spürt | |
| man, wie viel sich hinter den suggestiven Oberflächenreizen von „Alles ist | |
| Jazz“ verbirgt. | |
| 2 Jan 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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