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# taz.de -- Arte-Doku „Berlin 1933“: Der Anfang vom Ende
> „Letzte schöne Tage vor dem Winter: In „Berlin 1933 – Tagebuch einer
> Großstadt“ lässt Volker Heise Zeitgenossen von der Machtübernahme der
> Nazis erzählen.
Bild: Die nationalsozialistische Propaganda zeigt 1933 ihre volle Wirkung
Großstadtgewusel Unter den Linden, [1][am Alexanderplatz und Kottbusser
Tor]. Hektisches Treiben von Menschen, Autos und Straßenbahnen – alles in
Schwarz-Weiß gehalten. Dieser Filmanfang erinnert an Robert Siodmaks und
Edgar G. Ulmers „Menschen am Sonntag“ (1930).
„[2][Berlin, Herbst 1932]“, tönt es aus dem Off: „Letzte schöne Tage vor
dem Winter. Die Menschen stehen auf, gehen zur Arbeit, flanieren durch die
Straßen, sitzen in Cafés, gehen ins Kino oder ins Varieté.“ Zu dem
Stichwort schwingen Varieté-Tänzerinnen ihre Beine. Paul Dorn singt zum
Foxtrott: „Hast du schon Berlin bei Nacht geseh’n? Mensch, Berlin bei Nacht
ist wunderschön.“ So schön könnte es weitergehen. Doch wir wissen heute,
dass der Herbst des Jahres 1932 auch der Herbst der [3][Weimarer Republik]
war.
Weiter im Off-Text: „In Berlin nehmen die Straßenkämpfe zu. Die Risse
werden tiefer. Das neue Jahr muss die Entscheidung bringen. Ein Jahr, von
dem Tagebücher und Briefe Auskunft geben, Fotos und Filme.“
Der Film ist nicht historisch, sondern der neueste Streich von Volker
Heise, bei dem es sich um den Dokumentarfilmer mit dem weltweit meisten
Sitzfleisch handeln dürfte. Für „24h Berlin – Ein Tag im Leben“ (2009),
auch der Film war schon unverkennbar angelehnt an Vorbilder wie Walter
Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927), hatte er von 80
Kamerateams gedrehte 750 Stunden Filmmaterial sichten müssen. Der fertige,
immer noch 1.440 Minuten lange Film erforderte dann auch von den Zuschauern
Sitzfleisch.
Aber Heise ist ein begnadeter Monteur. Zuletzt (2022) kam seine
Netflix-Doku „Gladbeck: Das Geiseldrama“ ganz ohne die sonst üblichen
Talking-Head-Expertenbesserwisser und Reenactment-Peinlichkeiten aus. Sie
waren reine Collage aus historischem Filmmaterial. So wie zuvor (2020)
schon der Zweiteiler „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“. Darauf fo…
jetzt „Berlin 1933“ – Nach dem Ende also der Anfang vom Ende.
## Bekannte und unbekannte Menschen von damals
Der Film erzählt von den Menschen von damals. Von bekannten (wie Carl von
Ossietzky und Harry Graf Kessler), weniger bekannten (wie mehreren
Botschaftern in Berlin) und gänzlich unbekannten wie dem jungen Arzt Willi
Lindenborn, den seine Frauengeschichten umtreiben. „Um acht traf ich Lili.
[…] Sie wollte Zigaretten haben, aß eine Bockwurst, trank Bier. Alles
natürlich auf meine Kosten.“
Der Film erzählt auch von Joseph Goebbels („Gauleiter, NSDAP“): „Um zwei
Uhr trifft Hitler ein. Unsere SA marschiert vor dem Karl-Liebknecht-Haus.
Eine tolle Sache! Furchtbarer Prestigeverlust für die KPD!“ Der
amerikanischer Gewerkschafter Abraham Plotkin notiert dazu: „Es war reines
Glück, dass der Tag nicht in einem Blutbad endete.“ Arzt Lindenborn trifft
sich indessen weiter mit seiner Lili: „Unser Gespräch war sehr eintönig.
Sie ärgerte sich sehr darüber, dass ich für sie nicht bezahlte. Wir
trennten uns sehr kühl.“ Goebbels geht „mit Hitler essen. Politisiert.
Hitler wie immer fabelhaft. Mit ihm noch mal,Rebell'-Film. Aufs Neue
erschüttert. Welch ein Wurf!“
An dieser Stelle kann Volker Heise auf die Bilder des Luis-Trenker-Films
zurückgreifen. „Der Rebell“ spielt zur Zeit des Tiroler Volksaufstands
1809. Der britische Reporter Alexander Werth hat ihn sich ebenfalls im Kino
angesehen: „Ein Teil des Publikums jubelte wild, als die Franzosen
massakriert wurden.“
Auch die Tagebucheinträge seiner unbekannten Protagonisten bebildert Heise
geschickt mit passenden Sequenzen aus zeitgenössischen Spielfilmen. Die
„Machtergreifung“ als Flow. Innerhalb weniger Monate dringen die Nazis in
alle Lebensbereiche ein: „Heute wird vor allen Dingen nach der politischen
Gesinnung gefragt“, konstatiert der knickerige Schwerenöter Lindenborn: „Am
Abend spielten wir Doppelkopf. Wahrscheinlich werde ich mich in den
nächsten Tagen als SA-Arzt melden. Ich würde es brennend gerne werden.“
Am Ende des ersten Teils von „Berlin 1933“ berichtet Lindenborn, noch etwas
befremdet, von einer Tour mit zwei seiner neuen SA-Kumpanen, bei der diese
ein jüdisches Mädchen vergewaltigen. „Berlin bei Nacht“ – ist nicht lä…
wunderschön.
23 Jan 2023
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## AUTOREN
Jens Müller
## TAGS
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