| # taz.de -- Debütroman „Lawinengespür“ über Gen Z: Verlorene Geschwister… | |
| > Paula Schweers' Romandebüt beschreibt das Lebensgefühl einer Generation, | |
| > die in lauter Krisen aufwächst. „Lawinengespür“ widmet sich den Ratlose… | |
| Bild: Die Autorin Paula Schweers | |
| Eine Schneedecke von nur dreißig Zentimetern Dicke genügt, um einen | |
| Menschen lebendig zu begraben. Rollt eine Lawine über ihn hinweg, kann er | |
| sich selbstständig nicht befreien. Man muss zuvor die Zeichen erkennen, | |
| jene Stellen identifizieren, an denen eine unbedachte Bewegung die | |
| Katastrophe lostreten könnte. Oder man ist mit jenem Talent ausgestattet, | |
| das eine der zwei Hauptfiguren in Paula Schweers’ Roman besitzt. | |
| „Lawinengespür“ nennt sie es selbst, und nennt Schweers ihr Debüt. Schon … | |
| Kindheitstagen hat Nora eine besondere Sensibilität für das Unheil | |
| entwickelt. Sie weiß im Vorfeld, wann die Schneemassen in ihrem | |
| bayerischen Dorf niedergehen. | |
| Das Inferno, das ihrer Jugend jäh ein Ende setzte, konnte sie mit dieser | |
| Gabe aber nicht verhindern. Ihr Halbbruder Leo zündete eines Tages das | |
| Elternhaus an und verschwand spurlos. Unbeachtet von den Eltern, die viel | |
| zu sehr mit sich beschäftigt waren, hatten die Halbgeschwister sich eine | |
| Struktur, eine Art Alltag geschaffen. Nora kümmerte sich um den Haushalt | |
| und die depressive Mutter, während Leo Fensterscheiben einschlug, Graffiti | |
| sprühte, Drogen verkaufte und sie vor allem selbst nahm. Sein spektakulärer | |
| Abgang war auch ein Verrat an der Schwester, die allein zurückblieb. | |
| Zehn Jahre später hat Nora noch nicht recht ins Leben hineingefunden. Sie | |
| ist inzwischen in Berlin gelandet, hat ihr Geologiestudium abgeschlossen, | |
| und ihre Professorin bietet sich als eine Art Ersatzmutter an. Das könnten | |
| beste Aussichten auf eine akademische Karriere sein, aber gerade als sie | |
| erfährt, dass sie für ihre Abschlussarbeit einen Preis erhalten soll, | |
| geschieht ihr ein Unglück. Sie kann von einem auf den anderen Moment nicht | |
| mehr lesen. Zwar erkennt sie die Buchstaben, doch vermitteln sie ihr keine | |
| Bedeutungen mehr. | |
| Die Ärzte wissen nicht, was los ist, als Leser aber ahnt man es. Dieser | |
| junge Mensch, der sich so tapfer durch eine höllische Jugend gekämpft hat, | |
| durfte nie lernen, Sinn zu empfinden. Nora hat einfach durchgehalten, | |
| geschuftet, pflichtschuldig Beziehungen gepflegt, getan, was man eben tun | |
| muss. Bloß hat sie keine Freude gefunden, hat sich nicht selbstwirksam | |
| gefühlt, kam nie aus ihrer Ohnmacht heraus. | |
| ## Leergeräumte Seelen | |
| Man kann nicht sagen, dass Leo es besser getroffen hat, den man parallel | |
| auf einer Irrfahrt durch die Moskauer Unterwelt verfolgt, wohin es ihn zehn | |
| Jahre nach seiner Flucht verschlagen hat. Wie Nora findet dieser haltlose, | |
| verlorene junge Mann keinen Schwerpunkt in sich, nichts, was ihn | |
| stabilisieren könnte. Nur auf seine Lügen ist Verlass. | |
| Man wird nicht erfahren, warum er damals die Molotowcocktails geworfen hat, | |
| und nicht einmal, ob er es selbst weiß. Die beiden Halbgeschwister mögen | |
| sehr unterschiedlich sein, doch gleichen sie sich darin, dass ihre Seelen | |
| leergeräumt sind und dass sie strikt darauf achten, diese Blöße zu | |
| verbergen. | |
| Die Autorin Paula Schweers, geboren 1992 in Bremen, hat Literarisches | |
| Schreiben am Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte | |
| in Frankfurt (Oder) studiert. Mit ihrem Romandebüt verfolgt sie einen | |
| ehrgeizigen Plan. Ihr geht es nicht allein darum, die Folgen einer | |
| verlorenen Kindheit zu schildern, sondern zugleich abstrakter darum, das | |
| prekäre Lebensgefühl einer jungen Generation herauszuarbeiten, die in | |
| ständigen Ausnahmezuständen aufgewachsen ist, für die eine Krise nach der | |
| anderen kam, während beständig eine Katastrophe planetaren Ausmaßes auf sie | |
| zurollte. | |
| Der Klimawandel bildet den Hintergrund dieser Geschichte. Man darf die | |
| Hauptfiguren und ihre Versuche, sich durchzuschlagen, exemplarisch lesen. | |
| Die eine schottet sich emotional ab, um ihre Hilflosigkeit nicht zu spüren | |
| und bloß keine Hoffnung zuzulassen. Der andere giert nach Betäubung, flieht | |
| in Traumwelten, meidet den Kontakt zu einer Wirklichkeit, in der er nicht | |
| lebensfähig wäre. | |
| Jene [1][Panik, von der Greta Thunberg sprach], ist ein wenig in den | |
| Hintergrund gerückt, wenn man über die Generationen Y und Z nachdenkt. Mit | |
| Fridays for Future, mit Klima- und Politaktivisten oder den [2][Soldaten im | |
| Ukrainekrieg] sind vor allem solche jungen Menschen medial sehr präsent, | |
| die Wehrhaftigkeit aufbringen, die sich auflehnen und zu kämpfen bereit | |
| sind. Schweers erinnert an all die anderen, sie widmet sich jenen, die | |
| gelähmt sind und nicht wissen, was aus ihnen in dieser Welt werden soll. | |
| Man sollte sie nicht aus dem Blick verlieren. | |
| 24 Oct 2023 | |
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| Michael Wolf | |
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