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# taz.de -- Debattenkultur zum Nahostkonflikt: Die Glocke von Gaza
> Das aktuelle Staatsräson-Verständnis schadet unserem Land. Deutschland
> sollte bei der Bewältigung der israelisch-palästinensischen Misere ein
> Partner sein.
Bild: Große Teile des Gazastreifens sind zerstört
Demnächst erscheint die deutsche Übersetzung von „The Hundred Years' War
on Palestine“. Rashid Khalidi, US-palästinensischer Historiker, Zeitzeuge
und politischer Berater, erzählt darin die Geschichte Palästinas entlang
einer doppelten Tragik: der Unterdrückung wie der verfehlten Strategien von
Befreiung. Eminent kritisch gegenüber bisherigen und gegenwärtigen
palästinensischen Führungen lässt Khalidi keinen Zweifel: Alles muss auf
den Prüfstand, es braucht eine neue Vision der Gleichheit zweier Völker.
Die Glocke von Gaza, eine Totenglocke für so viele Menschen, läutet unter
dem schwarzen Schleier der Trauer auch einen Neubeginn ein: Nichts kann so
bleiben, wie es ist, wie es war. Das gilt für Israel, für die Besatzung,
für die sklerotische Autonomiebehörde, aber es gilt ebenfalls für
Deutschland, für ein Verständnis von Staatsräson, das unserem Land, unserem
internationalen Ansehen und unseren gesellschaftlichen Möglichkeiten
beträchtlichen Schaden zufügt.
Es ist an der Zeit, dies klar auszusprechen und es zu ändern – nicht
zuletzt, damit Deutschland bei der Bewältigung der
israelisch-palästinensischen Katastrophe ein konstruktiver, fairer Partner
sein kann.
Was ist geschehen? Deutschland ist auf die abschüssige Bahn eines falsch
verstandenen Exzeptionalismus geraten: Indem die Verantwortung für den
Holocaust und die daraus folgenden außergewöhnlichen Verpflichtungen
verengt wurden auf ein Bekenntnis zur israelischen Staatsverfasstheit und
Politik. Und indem wir anderen vorschreiben, wie sie zu Israel zu denken
haben, wenn sie deutschen Boden betreten.
So ist ein schwüles Gemisch entstanden, eine seltsam auftrumpfende
Weltabgewandtheit. Wir laden ein, um auszuladen. Und wir haben das Recht zu
beleidigen, denn wir sind als Ex-Böse die einzig wahren Guten.
Wobei Vorträge, Gastprofessuren oder Preisverleihungen meist nicht etwa
gecancelt werden, weil die Verantwortlichen überzeugt wären, in ihrem Haus
käme sonst Antisemitismus zu Wort. Sondern weil sie Angst haben, dies könne
ihnen vorgeworfen werden. Also waschen sie ihre Hände auf Kosten anderer in
Unschuld. Das Bekenntnis zu historischer deutscher Schuld ist zur
Versicherungspolice mutiert: Ich bezeuge meine Reinheit, indem ich andere
denunziere.
Dies ist traurig, ja – und noch trauriger vor der Kulisse realen Leids in
Gaza. Manches davon wirkt nur lächerlich, erratisch, armselig. Aber da ist
etwas Dunkles, Beunruhigendes; zu oft straft das herrische Gutsein
prominente jüdische Frauen ab.
## Deutschland macht sich dümmer, als es sein müsste
Ich sehe indes auch ein anderes Gesicht Deutschlands. Ähnlich wie die
Mehrheitsmeinung die Haltung der Regierung zum Gazakrieg bald nicht mehr
teilte, ist die versteinerte Auffassung von Staatsräson vor allem ein
Phänomen der politischen Eliten (sowie jener, die dazuzählen möchten).
Bereits in Gedenkstätten, um nur diese zu nennen, wird anders gedacht. In
Buchhandlungen und Bibliotheken ein Reichtum an Literatur zu
Israel/Palästina, doch auf öffentlichen Foren ein [1][schmaler Korridor
legitimer Ansichten]. Reich unsere Landschaft der Nahost-Wissenschaften,
doch die Listen von ExpertInnen, die in hiesigen Einrichtungen als
„[2][risikofrei einladbar]“ herumgereicht werden, sind erbärmlich kurz.
Statt von Zensur spreche ich deshalb lieber von einer autoritären
Bewirtschaftung des öffentlichen Worts – und von geistiger
Selbstamputation.
So macht sich Deutschland dümmer, als es sein müsste, während zugleich der
Bedarf wächst, sich in der neuen Komplexität der Verhältnisse
zurechtzufinden. Beispiel Rechtsextremismus in Israel: Bereits lange vor
dem 7. Oktober taten sich viele Deutsche schwer, dieses Phänomen kognitiv
und ethisch zu erfassen, dennoch wurden Verwirrung und Verunsicherung kaum
Gegenstand öffentlicher Erörterung. Als israelische Oppositionelle von
jüdischem Fundamentalismus, gar Faschismus sprachen, hielt sich die
deutsche Politik die Ohren zu.
## Machbare Utopien
Es ist an der Zeit wahrzunehmen, wie in den USA große Minderheiten junger
Juden:Jüdinnen [3][auf Distanz zur israelischen Politik gehen], die
Zustände in der Westbank umstandslos Apartheid nennen und sich radikaler
als je zuvor auf die Seite der Palästinenser stellen. Der Begriff
„ethnische Suprematie“, der die Kölner Universität veranlasste, der
Philosophin Nancy Fraser eine Gastprofessur zu entziehen, dient vielen zur
kritischen Beschreibung der Realität eines jüdischen Staats, der
[4][Nichtjuden Gleichheit verweigert].
Omri Boehm, hierzulande preisgekrönt, fordert gleichfalls die Überwindung
dieses Staatskonzepts. Und die interessanteste israelisch-palästinensische
Initiative für eine binationale Lösung („A Land for All“) basiert auf der
Anerkennung, dass beide Völker ein Heimatgefühl „from the river to the sea�…
haben. Warum denken wir das nicht aktiv mit?
Alles könnte so anders sein. Tausende in Deutschland verfügen über
jahrelange Erfahrungen in Israel/Palästina, durch kirchliche Initiativen,
NGOs, als menschenrechtliche Beobachter. Unter uns leben 200.000
PalästinenserInnen und geschätzt 30.000 Israelis. Welche Ressourcen! Und
welch spektakuläre Verschwendung, sie nicht zu nutzen.
Statt durch intoleranten Moralismus aufzufallen, könnte Deutschland der Ort
sein, den alle für offene, kreative, konstruktive Debatten aufsuchen.
Gelebte Diplomatie zu Israel/Palästina mit allen Beteiligten; eine machbare
Utopie. Und es entspricht einer inklusiv gedachten historischen
Verantwortung, Israel, Palästina und Deutschland als Dreieck zu verstehen.
## Da ist noch etwas:
Der Widerstand gegen gleiche Rechte für alle verbindet die AfD mit dem
Trump-Lager in den USA und dem Radikalzionismus in Israel. Wer zu dieser
Strömung gehören möchte, sollte es sagen und sich dann besser nicht auf
eine Lehre aus der Schoah berufen.
18 Apr 2024
## LINKS
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[4] /Situation-in-Gaza-im-Nahostkrieg/!6001319
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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