# taz.de -- Debatte Italiens neue Regierung: Ciao, Establishment | |
> Viele in Europa fürchten die neue populistische Regierung in Rom. Was die | |
> Allianz aus Fünf Sternen und Lega beabsichtigt, ist noch offen. | |
Bild: Noch ist völlig unklar, wie radikal die Wende der neuen Regierung ausfä… | |
War’s das jetzt? Wenn man einem großen deutschen Nachrichtenmagazin glauben | |
darf, hängt die Zukunft Europas zwar nicht an einem seidenen Faden – wohl | |
aber an einer Spaghetti, geknotet zum Henkerstrick. Damit auch wirklich | |
jeder begreift, was droht, heißt es unter der kunstvoll gerollten Nudel | |
[1][auf dem Titelblatt] des Spiegel: „Ciao Amore! Italien zerstört sich | |
selbst – und reißt Europa mit.“ | |
Wahr ist, dass die EU und Italien vor einem Novum stehen. In Rom [2][hat | |
sich eine Regierung gebildet], die ganz ohne Parteien aus den | |
traditionellen europäischen Familien, den Sozial-, den Christdemokraten, | |
den Liberalen auskommt. Selbst bei Silvio Berlusconis Wahlsieg 1994 war das | |
anders. Er nämlich hatte eine kleine christdemokratische Partei mit im Boot | |
und trat mit seiner Forza Italia dann selbst, gesponsert von Helmut Kohl, | |
der Europäischen Volkspartei bei. | |
In Rom dagegen ist jetzt eine lupenreine Anti-Establishment-Regierung am | |
Ruder, getragen von der Protestbewegung der Fünf Sterne und der radikal | |
rechten, fremden- und EU-feindlichen Lega, die in den letzten Jahren einen | |
U-Turn vom Sezessionismus der reichen Nordregionen zum souveränistischen | |
„Italien zuerst!“ hingelegt hat. | |
Gewonnen haben diese beiden Parteien – sie vereinten bei den Wahlen vom 4. | |
März insgesamt 51 Prozent der Stimmen auf sich – mit dem Versprechen, alles | |
werde sich ändern, und nicht umsonst haben sie jetzt ihre Koalition | |
„Regierung der Wende“ getauft. Doch noch ist völlig offen, wie radikal | |
diese Wende ausfällt. | |
## Die Agenda der neuen Regierung | |
Vorneweg allerdings ist festzuhalten, dass Fragen der EU und des Euro im | |
letzten Wahlkampf so gut wie keine Rolle spielten, dass die Italiener | |
mitnichten „gegen Europa“ votiert haben, sondern gegen ihre traditionellen | |
Parteien, gegen die Misere des Landes, für die Heilsversprechen des | |
Movimento 5 Stelle (M5S) unter Luigi Di Maio und der Lega unter Matteo | |
Salvini. Und wenigstens die Berufung des eingefleischten Proeuropäers Enzo | |
Moavero Milanesi zum Außenminister – der Technokrat diente schon in den | |
Regierungen unter Mario Monti und Enrico Letta (2011 bis 2014) als | |
Europaminister – macht deutlich, dass die M5S-Lega-Regierung den | |
Frontalzusammenstoß mit der EU vorerst nicht auf der Agenda hat. | |
Fürchterlich schiefgehen kann die Sache dennoch, gleichsam als ökonomischer | |
und politischer Selbstläufer. Die letzte Woche lieferte einen Vorgeschmack: | |
[3][Das Veto des Staatspräsidenten Sergio Mattarella] gegen den zum | |
Schatzminister ausersehenen, in den letzten Jahren mit eurokritischen Tönen | |
aufgefallenen Paolo Savona und damit die Aussicht auf schnelle Neuwahlen | |
reichte, um das Zinsgefälle zwischen italienischen und deutschen | |
Staatsanleihen auf über 3 Prozent hochschießen zu lassen. | |
Und die Agenda der neuen Regierung hat das Zeug, in Zukunft weitere Vetos | |
zu provozieren: Vetos des Präsidenten, der Gesetze nicht unterzeichnet, | |
weil er deren finanzielle Deckung nicht gegeben sieht, Vetos der | |
EU-Kommission, die die Einhaltung der europäischen Defizitziele vermisst, | |
Vetos schließlich der Finanzmärkte, die unsolide Schuldenpolitik abstrafen. | |
Die im Regierungsprogramm aufgelisteten Maßnahmen addieren sich auf etwa | |
120 Milliarden Euro jährlich, allein die Umsetzung der drei Kernversprechen | |
– einer Flattax, einer Grundsicherung für Arbeitslose, einer Korrektur der | |
Rentenreform von 2011 – würde gut 80 Milliarden kosten. | |
Ginge Italien daran, auch nur einen Teil der versprochenen Reformen | |
umzusetzen, dann wäre der Casus Belli wohl schnell da. Und zur alles | |
entscheidenden Frage würde dann, wie dieser Konflikt von Brüssel, Berlin | |
oder Paris gespielt würde – und ob es gelingen kann, eine destruktive | |
Dynamik zu verhindern. Die würde sofort eingeleitet, wenn Europa zu einer | |
„griechischen Lösung“ greifen sollte: Dort wurde die Regierung Syrizas | |
unter Alexis Tsipras gedemütigt und zur völligen Kapitulation gezwungen. | |
Ein solches Exempel lässt sich am kleinen Griechenland statuieren, nicht | |
aber an Italien. | |
## Die ökonomische und soziale Spaltung | |
Denn in diesem Frontalzusammenstoß kann keine Seite gewinnen. Deutschland | |
nicht: Es hält im EZB-System Forderungen von über 800 Milliarden Euro, die | |
es bei einem Crash des Euro wohl zu einem guten Teil abschreiben könnte. | |
Auf der anderen Seite steht Italien mit Verbindlichkeiten von gut 400 | |
Milliarden in der Kreide. Die wäre es los, doch zugleich würde das Land | |
seine Kreditwürdigkeit einbüßen, mit verheerenden Folgen für seine Banken, | |
deren Bücher randvoll sind mit dann auf Ramschstatus abgesunkenen | |
italienischen Staatsanleihen. | |
Doch vorerst spricht nichts dafür, dass dieser GAU eintreten muss. Es gäbe | |
einen Weg, ihn zu verhindern: ernsthafte Verhandlungen mit Italien, auch | |
wenn es von einer „Populistenregierung“ geführt wird, Verhandlungen, die | |
sich nicht darauf reduzieren dürfen, stur auf die Einhaltung der | |
Schuldenparameter des Stabilitäts- und des Fiskalpakts zu pochen. Es ist ja | |
gerade der erdrutschartige Wahlsieg der „Populisten“ in Italien, der | |
deutlich macht, woran der Euro vorneweg zu scheitern droht: nicht an einer | |
[4][Krise der Finanzmärkte], sondern an einer Krise des Konsenses der | |
europäischen Bevölkerungen, der Wähler, die in Italien zwar nicht den Euro, | |
sehr wohl aber jene politischen Kräfte abgewählt haben, die zu Hause für | |
die Umsetzung der Vorgaben aus Brüssel standen. | |
Denn der tiefe Riss, der mittlerweile durch die Eurozone geht, wurde ja | |
nicht durch die Populisten und Souveränisten in die Welt gebracht. Sie | |
beschränken sich darauf, jenen Riss, der in der wachsenden ökonomischen und | |
sozialen Spaltung der Eurozone wurzelt, politisch zu kapitalisieren. Mit | |
der Beschimpfung der italienischen Wähler als [5][„Schnorrer“ (Jan | |
Fleischhauer)], mit einem trotzigen „Weiter so!“ aus Brüssel oder Berlin | |
wird man diese Spaltung gewiss nicht überwinden, sondern weiter vertiefen. | |
Und dann könnte die Spaghetti durchaus zum Henkerstrick mutieren. | |
4 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2018-23.html | |
[2] /!5505314 | |
[3] /!5509516 | |
[4] /!5506760 | |
[5] http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-die-schnorrer-von-rom-kolumne… | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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