# taz.de -- Das Coronajahr im Kulturleben: „Theater und Oper sterben“ | |
> Was hat das Coronajahr für Kulturschaffende bedeutet? Drei Berichte von | |
> Kulturschaffenden aus Italien, Berlin und Bangkok. | |
Bild: Der Regisseur Romeo Castelluci hat sich in die Berge zurückgezogen | |
In der Kultur stand weltweit vieles still im Pandemie 2020. Wie ist es | |
Künstlerinnen und Künstlern ergangen in dieser Zeit? Astrid Kaminski hat | |
nachgeforscht und ihre Stimmen protokolliert. | |
## „Es gibt keinen Schutz für Künstlerinnen und Künstler“ | |
[1][Romeo Castellucci], Theater- und Opernregisseur, Norditalien | |
Im Moment bin ich auf dem Gipfel eines Berges in den Apenninen. Etwas | |
weiter unten habe ich ein kleines Häuschen, wo es aber keinen | |
Telefonempfang gibt. Ich akzeptiere die soziale Distanz, bin jedoch nicht | |
aus Angst vor dem Virus hier, sondern weil ich nun die Gelegenheit habe, | |
mehr Zeit mit Bäumen zu verbringen. | |
Ich tausche die derzeit schmerzliche Stille gegen eine andere, eine | |
kontemplative Stille ein. Ich wohne zusammen mit einer Eiche, die etwa 400 | |
Jahre alt ist. Ihretwegen habe ich das Haus, das damals eine Ruine war, vor | |
zwanzig Jahren gekauft. Bäume sind für mich ein Grund, warum es sich lohnt | |
geboren zu sein. | |
So um die 50 meiner Projekte wurden gestrichen in diesem Jahr, die | |
Salzburger Festspiele etc etc. Tabula rasa. Theater über das Internet war | |
jedoch keine Alternative für mich. [2][Unser Minister schlug ein | |
„Theater-Netflix“ vor.] Was nur eines zeigt: wie wenig er davon versteht. | |
Das Internet kann Theater zwar dokumentieren, aber es kann kein Theater | |
sein. Theater ist ein Akt der Präsenz. | |
In diesem Sinn habe ich weitergearbeitet und „BROS“ vorbereitet, ein Stück | |
über die Polizei. Ich habe es direkt zur Anfangszeit der Pandemie | |
konzipiert, vor dem schrecklichen Mord an George Floyd in Minneapolis. Es | |
soll aber kein Kommentar oder eine Kritik der Polizei sein. Das wäre zu | |
einfach. Es geht vielmehr um die Polizei als sowohl anthropologische wie | |
obskure Kraft, um die Durchdringung und die Ambivalenz von Verborgenem und | |
Notwendigem. Aber auch um das Prinzip einer Art gesellschaftlicher Haut, | |
was sich wiederum auch auf die Epidemie übertragen lässt: einem | |
Gespanntsein zwischen Gesetz und Reglementierung des Körpers, Gewalt und | |
Kontrolle, Unordnung und Ordnung – all das sind sehr alte Prinzipien. Es | |
wird ein Stück für etwa 50 Laien in Uniform werden. | |
Natürlich ist meine Situation, die Möglichkeit mich zurückzuziehen und | |
gleichzeitig auf das Zeitgeschehen antworten zu können, ein großes | |
Privileg. Die Kunstszene in Italien durchleidet dagegen eine sehr schwere | |
Zeit. Die Künstler und Künstlerinnen, vor allem die jungen, wurden von der | |
Politik aufgegeben, es gibt überhaupt keinen Schutz für sie. Es ist zudem | |
beinahe unmöglich, einen Generationswechsel in den Institutionen zu | |
vollziehen. Die Hürden für die Jüngeren sind viel zu hoch. Eine Förderung | |
zu bekommen ist so gut wie unmöglich. Es gibt in der Politik – sowohl der | |
rechten wie der linken Parteien – kein Bewusstsein für die Kunst des | |
Theaters. Sie ist ein Tauschwert. Direktionsposten werden als politische | |
Geste vergeben, nicht aufgrund künstlerischer Expertise. Das Theater und | |
die Oper in Italien sterben. Und das in einem Land, in dem es in jedem Dorf | |
ein Operntheater gab! Die Scala wird überleben, das war’s. Dieser Prozess | |
war schon im Gange, Corona hat ihn beschleunigt. Wir erleben einen | |
künstlerischen Exodus. | |
Ästhetisch gesehen bin ich dagegen weniger pessimistisch. Wenn wir es | |
schaffen, die Stille auszuhalten, werden wir danach die Kraft des Blicks, | |
der Präsenz, der Gemeinschaft neu erleben. Es gibt das Potenzial, neu sehen | |
zu lernen. Der Blick wird Feuer fangen. | |
## „Die Chance der Heilung schwindet“ | |
[3][Martha Hincapié Charry],Choreografin und Kuratorin, Berlin | |
Ich hatte in diesem Jahr eine Recherche für mein neues Stück über die | |
Zukunft Amazoniens geplant. Also flog ich Anfang März von Berlin nach | |
Bogotá und dann weiter in den Süden zum Stamm der Tikuna. Nach zwei Wochen | |
musste ich jedoch wieder abreisen. Kolumbien stand ein harter Lockdown | |
bevor und die Indigenen beschlossen, alle Fremden in dieser Zeit | |
auszuweisen, um sich auf ihre eigenen Bedürfnisse und Rituale zu | |
konzentrieren. | |
Einen Tag vor dem landesweiten Lockdown kam ich wieder in Bogotá an, wo er | |
bereits zwei Tage zuvor verhängt worden war. Ich wusste daher nicht, wohin. | |
Meine Schwester, die als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet, konnte mich, | |
weil es ihre Berufsausübung gefährdet hätte, nicht aufnehmen. Freund:innen, | |
die ich kontaktierte, hatten Angst, dass ich Viren mitbringen könnte. | |
Schließlich meldeten sich, auf einen Facebookpost hin, Freunde aus Santa | |
Marta in der Sierra Nevada. In ihrer Gemeinschaft hatte ich im letzten Jahr | |
im Rahmen eines Pina-Bausch-Fellowships gelebt. Mit dem letzten Flug aus | |
Bogotá flog ich nun erneut hin. | |
Die Gemeinschaft betreibt ein künstlerisches Zentrum, das über | |
Hoteleinnahmen finanziert wird. Die Situation war dramatisch. Die Ökonomie | |
der ganzen, komplett auf den Tourismus angewiesenen Gegend brach zusammen. | |
Alle wurden arbeitslos. Staatliche Hilfen gab es nicht. Um die Zukunft zu | |
sichern, haben wir Obst und Gemüse angebaut. Schnell wachsende Sorten wie | |
Melonen, Kürbis, Zucchini. Aber auch Avocado, Bananen und Kakao. Ab 16 Uhr | |
herrschte Ausgangssperre, verhängt von den paramilitärischen Gruppen, von | |
denen die Gegend kontrolliert wird. | |
Nach drei Monaten gelang es mir schließlich, einen Flug nach Deutschland zu | |
finden, obwohl eigentlich alle Flughäfen bis Anfang September geschlossen | |
waren. Der Hinweis auf den Flug kam von einem befreundeten Deutschen aus | |
Bogotá. Er wusste, dass Kolumbien Ende Juni eine Maschine nach Europa | |
senden und das deutsche Auswärtige Amt den Flug nutzen würde, um Menschen | |
nach Deutschland auszufliegen. Ich kontaktierte daher erneut die deutsche | |
Botschaft. Dort sagte man mir sehr direkt, dass der Flug nur für Deutsche | |
bestimmt sei. Und außerdem: „Bitte melde dich nicht mehr, wir wissen schon | |
von dir.“ | |
Ich lebe mit einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis seit zwanzig | |
Jahren in Deutschland und war ziemlich geschockt, das zu hören. Schließlich | |
gelang es mir, über die Fluggesellschaft ein Ticket zu buchen. Die | |
15-stündige Fahrt mit Sondergenehmigung über die geschlossene Autobahn | |
kostete noch einmal so viel wie der Flug. | |
Dann war ich wieder in Deutschland – vollkommen erschöpft. Aber die Theater | |
haben hier im August kurzzeitig wieder aufgemacht, und die [4][Premiere | |
meines Stücks „Amazonia 2040“ fand statt]. Leider ist durch das Coronachaos | |
die Situation in Amazonien – die Abholzung, die Anhäufung von Plastik und | |
Müll und die Vergiftung von Wasser und Boden durch Rohstoffabbau – noch | |
schlimmer geworden. Die Chance einer Heilung der Erde durch die Natur | |
schwindet umso mehr. | |
## „Das Visa-Ding wird uns umbringen“ | |
Abhijan Toto, Kurator, Mitbegründer von [5][The Forest Curriculum], Bangkok | |
Normalerweise lebe und arbeite ich zwischen Bangkok, Seoul und Berlin. Das | |
klingt nach einer anderen Zeit, oder? Einer Zeit, in der wir mit relativer | |
Zufriedenheit unsere Existenz auf transnationalen Arbeitsrealitäten | |
aufbauen konnten. | |
Gerade lief in Bangkok mein Festival „A House in many Parts“, inspiriert | |
von der aktuellen politischen Bewegung hier. Sie ist derart inklusiv und | |
intersektional! Ob es um Stimmen der LGBTIQ*-Community, Sexarbeiter:innen, | |
Migrant:innen oder Bauern geht: Kein Anliegen ist wichtiger als das andere. | |
Es gibt ein großes Bewusstsein für Veränderungen. Wir hätten nie zu träumen | |
gewagt, dass diese Themen heute die Schlagzeilen der Zeitungen bestimmen! | |
Allerdings musste ich in diesem Jahr mein Visum für Thailand erneuern. Zur | |
Beantragung reiste ich in mein Herkunftsland Indien. Die Geschichte endete | |
damit, dass ich mit Corona infiziert wurde und sechs Monate festsaß. Wie | |
ich das Virus bekam, bleibt ein ziemliches Rätsel. Ich habe, gerade auch, | |
weil ich bei meinen Eltern in Kalkutta wohnte, extrem aufgepasst und mich | |
nur ein einziges Mal mit einer Freundin – draußen, mit Maske und | |
Mindestabstand – getroffen. Der einzige geschlossene Ort, an den ich ging, | |
war die thailändische Botschaft. Ich habe ja schon immer gesagt, dass | |
dieses Visa-Ding uns eines Tages umbringen wird... | |
Atemwegsbeeinträchtigungen habe ich nicht wahrgenommen, dafür aber | |
Erschöpfung und Müdigkeit. Als immerwährend leidender, masochistischer | |
Kunstarbeiter dachte ich zunächst: Das wird schon, mache ich halt online | |
weiter. Als ich dann eine Lecture auf Zoom, ironischerweise zum Thema | |
„Kunst in Zeiten der Pandemie“, gab, wurde es ernst. Plötzlich wusste ich | |
nicht mehr, was mein nächster Satz sein würde. Weg! Also sagte ich: „Leute, | |
ich glaube, ich kann jetzt nicht weiter über die Pandemie sprechen, ich bin | |
mittendrin.“ | |
Schon davor hatte ich eine drastische Begegnung mit dem Virus. Mit unserer | |
interdisziplinären Plattform The Forest Curriculum war eine Ausstellung für | |
die Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea in Bergamo geplant. Gerade zu | |
der Zeit, als die Stadt zum Corona-Hotspot wurde. Ich machte also alles | |
über Zoom. Während in der Stadt die Särge für die Toten ausgegangen waren, | |
sprachen wir darüber, wie die Projektoren platziert werden. Die Ausstellung | |
wurde sogar eröffnet, nur das eigentlich geplante Researchtreffen der | |
Künstler:innen – ein wesentlicher Teil davon – musste ausfallen. | |
Wie wichtig das körperliche Zusammentreffen ist, hat ein Projekt in Seoul, | |
das Kunstschaffende aus Südostasien rund um die Frage nach queerer | |
Geborgenheit zusammenbrachte, verdeutlicht. Kurz zuvor war die Nachricht | |
vom Infektionscluster in einem schwulen Nachtclub im Itaewon-Viertel um die | |
Welt gegangen und hatte zu starken homophoben Anschuldigungen geführt. | |
Unser Projekt konnte, unter Auflagen, trotzdem stattfinden. Es gab einen | |
riesigen Zuspruch – unter anderem von jeder Menge K-Pop-Stars. So hat uns | |
das Event das Paradox der Wichtigkeit der Versammlung in Zeiten | |
körperlicher Unsicherheit und unsere Verantwortung als queere | |
Kulturarbeiter:innen sehr krass vor Augen geführt. | |
29 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.salzburgerfestspiele.at/a/romeo-castellucci | |
[2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/italien-setzt-eine-kulturplat… | |
[3] http://martha-hincapie-charry.com/ | |
[4] https://www.tanzforumberlin.de/produktion/amazonia-2040/ | |
[5] http://theforestcurriculum.com/ | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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