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# taz.de -- Coronahilfen und Kulturschaffende: An der Lebenswirklichkeit vorbei
> Zwischenruf aus Sachsen: Die Coronahilfsprogramme erreichen
> selbstständige Künstler und Kreative nicht.
Bild: Bauzaun vor der Semperoper auf dem Theaterplatz in Dresden
Als die Bundesregierung mit dem neuerlichen Lockdown Anfang November die
sogenannten Novemberhilfen auflegte, empfahlen die sächsischen
Landeskulturverbände spontan noch deren Nutzung. Denn erstmals wurden in
dem vorwiegend an die Wirtschaft adressierten Programm auch
Kulturveranstalter und selbstständige Künstler berücksichtigt.
Bis heute lobt das von Monika Grütters (CDU) geführte
Bundeskulturministerium die mit dem zuständigen Wirtschaftsministerium
ausgehandelten Fortschritte. Es sei ein „Erfolg für den Kulturbereich“,
dass die November- und Dezemberhilfen nicht nur den direkten Opfern von
Schließungen wie etwa Veranstaltern, sondern auch den direkt und indirekt
über Dritte Betroffenen zugutekommen, antwortet ein Ministeriumssprecher.
Also jenen, die künstlerisch für Auftraggeber tätig sind. Außerdem müsse
für Anträge unter 5.000 Euro kein Steuerberater mehr engagiert werden.
Doch Beispiele aus Sachsen zeigen: Die Überbrückungshilfen I und II gelten
als Flop. „Für die Mehrheit der wirklich Bedürftigen kommen die Hilfen
nicht infrage“, stellt Torsten Tannenberg als Geschäftsführer des
Sächsischen Musikrates ernüchtert fest. Zumindest für den Musikbereich hat
dieser größte Landeskulturverband einen Internetworkshop durchgeführt und
eine Umfrage gestartet. 53 „Fälle“ von Enttäuschten sind dokumentiert.
Verglichen mit einem Landesförderprogramm für Musikpädagogen während der
ersten Coronawelle im Frühjahr 2020, wären nur noch 3 Prozent der damals
645 Geförderten bei den Novemberhilfen antragsberechtigt.
## Verwirrende Erfahrungen
Woran liegt das? Für Verwirrung sorgte schon das Antragsverfahren. Eine
Musikpädagogin des Dresdner Schütz-Konservatoriums erfuhr gemeinsam mit
ihrem Mann, dass man zunächst ein Zertifikat der Steuersoftware Elster
benötigt. Nach zwei Wochen trafen die beiden Briefumschläge vom Finanzamt
ein. Ihr um die Weihnachtstage herum eingereichter Antrag wurde zwar
umgehend online bestätigt, blieb aber bis heute ohne weitere Resonanz.
Wegen technischer Probleme beginne die Auszahlung erst jetzt, räumte das
Bundeswirtschaftsministerium ein. Für die Geldüberweisung sind die Länder
zuständig.
Eine völlig entgegengesetzte Erfahrung machte wie viele Musikerkollegen
auch der Jazztrompeter Sebastian Haas, Vertreter der Lehrbeauftragten an
der Dresdner Musikhochschule. Binnen Minuten wurde sein online gestellter
Antrag ohne Prüfung bestätigt. Nur zwei Tage später trafen
Abschlagszahlungen auf dem Konto ein.
Eine dritte [1][Kategorie unter den Kreativen und Künstlern bilden die
vorsichtigen Skeptiker]. Sie haben die Antragsbedingungen möglichst genau
gelesen und danach auf einen Antrag verzichtet wie die stellvertretende
Vorsitzende des Komponistenverbandes Sachsen, Agnes Ponizil. „Nicht in der
Euphorie einen Antrag stellen“, warnt sie.
Denn das entscheidende Kriterium für die Gewährung der Überbrückungshilfe
ist, dass die Umsatzausfälle ab November mindestens 80 Prozent des
Monatsumsatzes 2019 oder des durchschnittlichen Wochenumsatzes 2019
betragen. Das sei im Sinne einer Gleichstellung mit den unmittelbar
Betroffenen so festgelegt, sagt der Sprecher des Grütters-Ministeriums.
## Hybride Einkommen
Agnes Ponizil aber hat etwa die Hälfte ihrer Einkünfte durch digitalen
Fernunterricht und Chorproben aus ihrem Kreativstudio in der Dresdner
Neustadt heraus retten können. Auftritte und Kompositionsaufträge hingegen
fielen völlig weg.
Dieser Mix, die „hybriden Einkommen“, sind nicht nur für die freie
Tätigkeit in der Musikbranche typisch: Konzerte, sogenannte Muggen,
Privatunterricht oder Lehrtätigkeit an einer Musikschule, Unterricht im
Rahmen des Programms „Jedem Kind ein Instrument“ oder der Ganztagsangebote
an Schulen, bei Komponisten Einkünfte aus der Verwertungsgesellschaft GEMA.
Josephine Hage ist eine gefragte Beraterin am Sächsischen Zentrum für
Kultur- und Kreativwirtschaft in Leipzig. Sie schildert Beispiele aus den
darstellenden Künsten. Freie Schauspieler mit einer unterjährigen
Anstellung für ein Theater- oder Filmprojekt bekommen den Ausfall einer
befristeten Festanstellung infolge Bühnenschließung nicht ersetzt, wenn sie
trotzdem noch mehr als 20 Prozent ihres normalen Umsatzes freiberuflich
erzielen.
## Komplett – oder gar nichts
Allen gemeinsam ist, dass sie das 80-Prozent-Kriterium nicht erreichen,
weil ihnen in der Krise nicht alle Standbeine wegbrechen. An der Dresdner
Musikhochschule etwa war Unterricht noch bis Mitte Dezember möglich, und
einige Privatschüler halten auch noch durch. Jene Einkommensmischung, die
zuvor das Überleben am Existenzminimum sicherte, wird selbstständigen
Künstlern und Pädagogen also in der Krise zum Verhängnis.
Drastisch zugespitzt: Es muss einen schon komplett erwischen, sonst hat man
von den Überbrückungshilfen nichts. Auch Umsatzeinbußen von 75 Prozent
berechtigen nicht zur Inanspruchnahme. „Geringverdiener sind
überproportional benachteiligt“, schlussfolgert Josephine Hage vom
Kreativen Sachsen, weil ihnen keine lukrativen Standbeine verbleiben.
Erstattet werden die Verluste gegenüber dem Vorjahr zudem nur zu 75
Prozent.
Wer das zu spät bemerkte und schon einen Abschlag überwiesen bekam, legt
jetzt das Geld vorsichtshalber in den Sparstrumpf, weiß der Sächsische
Musikrat. Denn mit einer Rückforderung muss gerechnet werden, wenn in
einigen Monaten vielleicht ein Bescheid ergeht. Inzwischen aber muss die
Einnahme auf der Steuererklärung angegeben und versteuert werden.
Eine Konzertpianistin, der nur noch ein Teil ihrer Lehrtätigkeit verblieben
ist, versuchte in Panik, das Geld wieder loszuwerden, und zeigte sich
selbst beim Finanzamt an, um einem Verfahren wegen Subventionsbetrug zu
entgehen. Kein Einzelfall, wurde ihr dort gesagt.
## Vernichtende Urteile
Die Künstler-Urteile über die Bundeshilfen fallen deshalb vernichtend aus.
„Die Lebenswirklichkeit vieler Kulturschaffender wird nicht erfasst“,
kritisiert Trompeter Sebastian Haas. Der Deutsche Kulturrat und der
Deutsche Musikrat haben deshalb eine Absenkung der 80-Prozent-Grenze für
Umsatzverluste auf mindestens 50 Prozent gefordert.
Dem scheint die noch nicht zur Antragstellung freigegebene
Überbrückungshilfe III für dieses Jahr entgegenzukommen. Sie enthält auch
das seit August des Vorjahres geltende und mit einer Milliarde Euro
dotierte „Neustart“-Programm zur Stabilisierung des Kulturbetriebs.
Die Kulturselbstständigen haben von den 1.500 Stipendien allerdings nur
etwas, wenn sie klassische Musiker sind. Immerhin sollen [2][Künstler und
Kreative, die von der Hand in den Mund leben] und kaum Betriebskosten
nachweisen können, nun eine fiktive Betriebskostenpauschale von maximal
5.000 Euro geltend machen können, gestreckt allerdings bis zum Juni diesen
Jahres.
Für Josephine Hage, die auch Co-Sprecherin des bundesweiten Fördernetzwerks
Kultur- und Kreativwirtschaft ist, reicht das für den Lebensunterhalt nur
in Kombination mit der Grundsicherung nach Hartz IV.
Sie unterstellt [3][eine „Dogmatik“, die ignoriere, dass Kulturschaffende
auch Teil des Wirtschaftssystems sind] und also gleichberechtigte Hilfe
erwarten könnten. Dieser implizite Verweis auf die Grundsicherung führe zu
einer Abhängigkeit von Partnern in einer Bedarfsgemeinschaft.
Sie spricht auch von einem „Dschungel“ kommunaler und
Landesförderprogramme. Die sind allerdings weitestgehend ausgelaufen, wie
„Denkzeit“ in Sachsen oder „Kultur ans Netz“ in Sachsen-Anhalt. Warum s…
manchmal nicht voll ausgeschöpft wurden, steht auf einem anderen Blatt. „Es
gibt derzeit einfach keine praktikablen Hilfen“, resümiert der Dresdner
Jazztrompeter Sebastian Haas.
18 Jan 2021
## LINKS
[1] /Das-Coronajahr-im-Kulturleben/!5740587
[2] /Hilfen-fuer-die-Veranstaltungsbranche/!5724963
[3] /Kulturschaffende-in-Zeiten-von-Corona/!5678416
## AUTOREN
Michael Bartsch
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