# taz.de -- Das Coronajahr im Kulturleben: „Das Publikum wird internationaler… | |
> Was hat das Coronajahr für Kulturschaffende bedeutet? Drei Berichte von | |
> Künstler:innen aus den USA, Rio de Janeiro und Athen. | |
Bild: Der Schriftsteller Helon Habila | |
In der Kultur stand weltweit vieles still im Pandemie 2020. Wie ist es | |
Künstlerinnen und Künstlern ergangen in dieser Zeit? Astrid Kaminski hat | |
nachgeforscht und ihre Stimmen protokolliert. | |
## Der Moment der Erleichterung | |
[1][Helon Habila], Autor, Virginia, USA | |
Wo anfangen? Am besten da, wo ich seit mehr als neun Monaten bin: in meinem | |
Haus. Ich habe in diesem Jahr meine Familie besser kennengelernt. Nie zuvor | |
haben wir so viel Zeit miteinander verbracht. Die ganze Zeit waren wir | |
zusammen eingesperrt. Wir machen alles von hier aus – online. Die drei | |
Kinder die Schule, ich das Unterrichten an der Universität. Einzig meine | |
Frau hat einen „relevanten“ Beruf und geht raus. Wir wohnen hier nur 20 | |
Minuten vom Weißen Haus entfernt, aber das spielt, trotz dieses politischen | |
Jahres, keine Rolle. Ich habe alles online verfolgt. | |
Als Autor ist es nichts Außergewöhnliches, sich einzusperren. Das ist die | |
Bedingung meines Arbeitens. In Bezug auf Covid-19 aber fühlt es sich anders | |
an: Ich bin in der Falle. Ich komme nicht raus. Psychologisch hat das einen | |
großen Effekt. Wenn ich schreibe, freue ich mich normalerweise auf den | |
Moment der Entlassung aus meinem Gefängnis – wieder nach draußen zu können, | |
zu entspannen. Auch die Literaturfestivals fehlen mir sehr. Das | |
Auge-in-Auge-Treffen mit den Leserinnen und Lesern ist wichtig für mein | |
Schreiben. Wichtiger noch ist das Treffen mit den Autoren und Autorinnen. | |
Ein Festival ist wie eine Business-Konferenz für uns. Wir netzwerken, wir | |
tauschen unsere Ideen aus, wir schließen künstlerische Freundschaften. | |
Vor allem den Besuch des Aké-Festivals in meinem Heimatland Nigeria | |
vermisse ich. Aber auch die vielen anderen. Ich wäre dieses Jahr eigentlich | |
in Neuseeland, Europa, Afrika und einigen US-amerikanischen Staaten | |
unterwegs gewesen. Die gute Seite ist natürlich, dass man jetzt alle | |
Festivals online machen kann. Ich kann zwei Festivals auf zwei | |
unterschiedlichen Kontinenten am selben Tag von meinem Wohnzimmer aus | |
besuchen. Und die Leserinnen und Leser haben diese Gelegenheit auch, sogar | |
jene, die ansonsten keinen Zugang zu solchen Orten haben. Ich habe nun ein | |
internationaleres Publikum als zuvor, ich lerne andere Menschen kennen. | |
Was darüber hinaus ein kaum verkraftbarer Verlust ist, sind die Reisen zu | |
meiner Herkunftsfamilie. Das Zusammensein, das Essen … Meine Eltern sowie | |
alle Geschwister leben in Nigeria. Zum Glück geht es ihnen gut. Sie | |
bekommen von Covid-19 bislang nicht viel mit. Manche Leute in Nigeria haben | |
noch kaum davon gehört. Ich hoffe, die Situation dort bleibt so, ansonsten | |
würde es mich nervös machen. | |
Ich glaube, ich habe eine relativ niedrige Risikotoleranz. Ich wäre gerne | |
mit meinen Kindern zu den Black-Lives-Matter-Demonstrationen gegangen, aber | |
das habe ich nicht gewagt. Ich bin sehr vorsichtig. Nur einmal ging ich in | |
die Menge. Das war zum Wählen. In diesem Jahr erhielt ich die | |
US-amerikanische Staatsbürgerschaft, und es war mir ein großes Anliegen, | |
meine Stimme physisch abzugeben und für Biden zu stimmen. Gegen Rassismus, | |
gegen die täglichen Lügen. Auch wenn ich deshalb an Covid-19 erkrankt wäre, | |
hätte ich es nicht bereut. | |
Zuletzt erschienen: Helon Habila: „Reisen“. Verlag Das Wunderhorn, | |
Heidelberg 2020 | |
## | |
## Politisches Desaster auf allen Ebenen | |
[2][Lia Rodrigues], Choreografin, Gründerin eines Kunstzentrums in Rio de | |
Janeiro | |
Ich freue mich riesig: Zum ersten Mal in diesem Jahr kann ich mich eine | |
Woche lang nur dem künstlerischen Prozess widmen. Ich bin beim | |
Kunstenfestivaldesarts in Brüssel in Residenz. Die letzten Monate habe ich | |
mich nur um die Verwaltung, Absagenmanagement und das Überleben meiner | |
Compagnie gekümmert. Dabei hätte dieses Jahr für mich eigentlich ein sehr | |
besonderes sein sollen. Die Compagnie feiert 30-jähriges Jubiläum! Wir | |
wurden so viel gebucht wie nie zuvor. Wir waren gerade in Frankreich | |
unterwegs – da kam Corona. Die Compagnie-Mitglieder flogen zurück nach | |
Brasilien zu ihren Familien. Ich selbst blieb in Europa. Hier habe ich | |
meinen Partner; aber meine Kinder, Familie und Arbeitszusammenhänge sind in | |
Brasilien. Auch meine sehr, sehr alte Mutter, die zurzeit überhaupt keine | |
sozialen Kontakte hat. | |
Jedoch kann ich von hier aus momentan mehr für meine Compagnie und unser | |
Kunstzentrum in der Maré in Rio de Janeiro tun. Wir bekommen keinen | |
einzigen Cent Fördergeld in Brasilien. Ohne Unterstützung aus Europa geht | |
es nicht. Als Künstlerin bin ich derzeit assoziiert an das Théâtre national | |
de Chaillot sowie das Kunstzentrum Le104 in Paris, viele andere Theater und | |
Festivals unterstützen uns als Compagnie. Für unsere Nachwuchsarbeit in der | |
Maré werden wir außerdem gefördert von der Fondation d’entreprise Hermès | |
sowie vom niederländischen Prince Claus Fonds. Für die ersten Monate 2021 | |
plant auch das Berliner HAU – Hebbel am Ufer ein Onlineprojekt, um unsere | |
Aktivitäten zu unterstützen. | |
Diese aktuelle geschichtliche Situation zeigt uns umso mehr, wie alles | |
zusammenhängt und wie wichtig die internationale Zusammenarbeit ist. Ein | |
entscheidender Moment! In Brasilien haben wir – alle wissen das – ein | |
komplettes politisches Desaster auf allen Ebenen. | |
Aufrufe europäischer Künstler, nicht mehr zu fliegen, kann ich übrigens | |
nicht verstehen. Das ist eine sehr engstirnige Sicht auf „Fußabdrücke“. | |
Wenn Kunstschaffende wie wir nicht mehr touren können, dann bedeutet es für | |
uns das Ende. Die letzten Monate konnten die Compagnie-Mitglieder und ihre | |
Familien überleben, weil wir das Geld, das wir für die Kreation im Jahr | |
2021 aufgespart hatten, ausbezahlt haben. Aber Proben konnten wir nicht. | |
Die Covid-19-Fallzahlen sind viel zu hoch. | |
Dafür aber hat die NGO Redes da Maré unser Kunstzentrum als Hauptquartier | |
für die Lagerung von Lebensmitteln, die 17.000 Familien für drei Monate | |
versorgten, benutzen können. Nun gibt es ein neues Problem: Das Dach fällt | |
runter. Die ganze Solaranlage etc. hängen daran – unentbehrlich in einer | |
Favela! Daher sind wir derzeit mitten in einer Crowdfunding-Kampagne. Ich | |
hoffe, wir schaffen es. Mehr als 100 Leute arbeiten für die Kampagne, und | |
ich bewundere sie sehr. Wissen Sie, man stellt sich Favelas immer nur als | |
Orte von Armut und Gewalt vor. Aber es sind Orte des Lebens. Die Politik | |
sagt jeden Tag Nein zu den Menschen dort, sie aber sagen trotzdem Ja zum | |
Leben! Sie wissen, was Widerstand heißt. | |
Neues Onlineprojekt Anfang 2021: HAU – Hebbel am Ufer | |
## Der Modus Operandi gilt nicht mehr | |
Olga Hatzidaki, Gründerin des Tavros Project Space, Athen | |
Wenn wir Lebensmittel einkaufen gehen, zur medizinischen Versorgung oder | |
zum Outdoorsport, müssen wir per SMS um Erlaubnis fragen. Wir machen also | |
alles online zurzeit. Alles. Auch die Kinder sind zu Hause. Man hört sie | |
wahrscheinlich durchs Telefon? | |
Im Allgemeinen befinden wir uns, wenn ich hier kollektiv sprechen darf, in | |
einem Zustand der Erschöpfung. Da wir schon von März bis Mai einen harten | |
Lockdown hatten, wurde im Kulturbereich vieles in den Herbst verschoben. Im | |
Juli und August ist es zu heiß in Athen, in diesen Monaten kann nur wenig | |
stattfinden. Wir lebten also auf Sparflamme sowie hier und dort von | |
öffentlichen Fördergeldern wie Researchstipendien und einer einmaligen | |
Notfallunterstützung – und setzten vor allem auf den Herbst. Nun stellt | |
sich für Künstler:innen und künstlerische Orte, die ihr staatliches | |
Fördergeld bis Ende des Jahres aufgespart haben, das Problem: Sie müssen es | |
für Projekte ausgeben. Dies ist, während des zweiten Lockdowns, fast | |
unmöglich. | |
Ein anderes Problem, das uns nach dem zweiten Lockdown noch intensiver | |
beschäftigen wird, deutete sich in den Zwischenmonaten September und | |
Oktober an: Obwohl wir Kunstschaffenden voller Energie waren, mussten wir | |
feststellen, dass unser Publikum kollabiert war. Die Leute haben sich so an | |
das Online-Sein gewöhnt, dass sie kaum mehr rausgehen. Außerdem spielen | |
natürlich gesundheitliche Ängste und die allgemeine Erschöpfung eine große | |
Rolle. Live irgendwohin zu gehen, ist zu einem psychologischen Luxus | |
geworden. Der Modus Operandi des künstlerischen Ereignisses gilt nicht | |
mehr. Wenn wir nun also wieder aufmachen, müssen wir uns fragen: Wen können | |
wir erwarten und warum? | |
Meine Kollegin Maria-Thalia Carras und ich haben uns entschieden, unsere | |
Veranstaltungen nicht auf online umzustellen. Wir arbeiten mit dem Raum, | |
darum haben wir den Tavros Project Space gegründet, für uns ist das | |
physische Momentum wichtig. Unsere Arbeit macht online nicht viel mehr Sinn | |
als eine medizinische Operation. Daher haben wir uns nun entschieden, | |
unseren Raum als Arbeitsplatz zu öffnen. In einem Open Call haben wir ihn | |
umsonst angeboten. Das Feedback war überwältigend. | |
Derzeit arbeiten Tänzer:innen bei uns sowie der Künstler Thodoris | |
Prodromidis, der ein gesellschaftspolitisches Konzept der Teilhabe für | |
Geflüchtete und Migrant:innen entwickelt. Ah, und ein anderes Projekt gibt | |
es noch, was wir retten konnten, weil es sehr covidfreundlich ist: eine | |
Zeitung über Brot, initiiert von der Künstlerin Paky Vlassopoulou. | |
Wir befinden uns also irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung, aber | |
tendenziell wird alles mehr und mehr zur Qual. Es geht ja nicht nur um die | |
Pandemie. Es geht um den Zustand der Gesellschaft. Ich hoffe, ich klinge | |
nicht zu negativ? Es gibt jedoch auch gute Nachrichten: Initiativen wie die | |
Cultural Workers Alliance, Support Greek Artists. Dafür war die hohe | |
Frequentierung sozialer Medien ein wichtiger Faktor. Diese Initiativen sind | |
wichtig, um von der Regierung wahrgenommen zu werden. | |
29 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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