# taz.de -- Bremer Linke besucht Flüchtlingslager: „Ein Friedhof der Mensche… | |
> Sofia Leonidakis war im Lager Moria II auf Lesbos. Ein Gespräch über | |
> katastrophale Bedingungen, hilflose Bundesländer und Politik der | |
> Abschreckung. | |
Bild: Über 6.000 Menschen leben im Lager Kara Tepe auf Lesbos dicht zusammenge… | |
taz: Frau Leonidakis, Sie waren gerade auf der Delegationsreise der | |
Linkspartei in einem Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland und sagen | |
nun: „Wir kommen nicht als die Gleichen zurück“. Warum? | |
Sofia Leonidakis: Die Gespräche, die wir vor Ort mit Geflüchteten, aber | |
auch mit zahlreichen NGOs geführt haben, haben uns nachhaltig beeindruckt | |
und verändert. | |
Waren Sie überrascht? [1][Dass das Leben dort die Hölle ist], ist ja allen | |
klar. | |
Ja, ganz Europa weiß das. Es ist aber doch auch für mich etwas ganz | |
anderes, das Lager selbst zu sehen und selbst mit den Betroffenen zu reden, | |
die schon seit Jahren in dieser unmenschlichen Situation ausharren müssen. | |
Wie sind gegenwärtig die Lebensbedingungen in dem „Moria II“ genannten | |
Lager Kara Tepe ganz konkret? | |
Die sind in jeder Hinsicht vollständig katastrophal. Es gibt acht Duschen | |
für über 6.000 Menschen, im Winter stürmt es und es ist kalt, jetzt | |
herrscht bei 30 Grad unerträgliche Hitze, denn es gibt keinerlei Schatten – | |
und es wird noch heißer. Es würde mich nicht wundern, wenn da im Sommer | |
Menschen vor Hitze kollabieren. Im Essen wurde Ungeziefer gefunden, die | |
medizinische Versorgung ist weniger als rudimentär – die Geflüchteten | |
berichten, dass sie für alles Paracetamol bekommen. Traumatisierte | |
Geflüchtete bekommen keine Therapie und die Bedingungen sind für diese | |
Menschen weiterhin traumatisierend, denn sie bieten keinerlei Schutz. Die | |
Geflüchteten dürfen seit über einem Jahr nur einmal die Woche raus, und nur | |
dann können Sie überhaupt externe Hilfsangebote wahrnehmen. Den Rest der | |
Zeit sind sie im Lager eingeschlossen. | |
Dort leben auch viele Kinder. Wir geht es denen? | |
Die UN-Kinderrechtskonvention wird gebrochen, die Kinder bekommen keine | |
Bildung – ich habe mit einer Minderjährigen gesprochen, die seit vier | |
Jahren keine Schule von innen gesehen hat. Uns wurde [2][von Kindern | |
berichtet], die sich die Haare ausreißen und nicht mehr sprechen. | |
Ärzt:innen ohne Grenzen spricht von 49 dokumentierten Suizidversuchen | |
unter Kindern in dem Lager alleine in diesem Jahr. Das alles ist eine | |
humanitäre Katastrophe. | |
Das ist ja aber sowohl von Griechenland als auch von Seiten der EU | |
politisch gewollt, oder? | |
Die EU hat dieses System, das es ja auch auf vier anderen griechischen | |
Ägäis-Inseln gibt, durch den Deal mit der Türkei ja genauso etabliert. Das | |
sind große Freiluft-Gefängnisse, in denen die Geflüchteten über Monate und | |
Jahre interniert sind; sie kommen dort weder vor, noch zurück und haben | |
keinerlei Perspektive oder Teilhabe. Das Lager ist ein Friedhof der | |
Menschenrechte. | |
Wie ist die Corona-Situation dort? | |
Es gibt eine Quarantäne-Station [3][in Kara Tepe], dort sind rund 100 | |
Personen untergebracht. Uns wurde aber berichtet, dass man da eher nicht | |
rein möchte, weil es dort noch schlimmer ist. Die Geflüchteten tragen | |
Masken und es gibt ein paar Handwasch-Stationen, es wird aber nicht | |
wirklich getestet und auch nicht geimpft. Faktisch ist es unmöglich, in dem | |
Lager Corona-Infektionen zu verhindern, zumal die Menschen sehr dicht | |
zusammenleben müssen. | |
Nach dem Brand in Moria im September hat die ganze Welt nach Lesbos | |
geschaut, Verbesserungen wurden versprochen. Was ist davon angekommen? | |
Die zuständige EU-Kommissarin hat damals gesagt: „No more Morias“. Aber die | |
Geflüchteten, die Moria entkommen sind und jetzt in Kara Tepe leben, haben | |
uns alle gesagt: Die Situation ist noch schlechter geworden. Das nimmt den | |
Leuten jede Hoffnung. Und die EU plant zusammen mit der griechischen | |
Regierung und den örtlichen Behörden weitere Verschlechterungen: Es soll | |
ein Camp direkt neben einer Müllkippe in der Einöde auf Lesbos gebaut | |
werden – dort soll die Isolation dann perfektioniert werden. Von dort wird | |
kein Entkommen sein. Und die EU hat dafür 120 Millionen Euro | |
bereitgestellt. | |
Sehen Sie in der EU relevante politische Kräfte, die an der Situation etwas | |
ändern wollen? | |
Auf der Seite der Herrschenden nicht, und auch nicht in der | |
Bundesregierung, die ja eine treibende Kraft ist und auch den | |
EU-Türkei-Deal ausgehandelt hat. Und die Bundesregierung verweigert auch | |
seit Jahrzehnten eine Änderung des Dublin-Systems, das die Verantwortung | |
für Asylverfahren auf die Ersteinreise-Staaten abwälzt und sie dann alleine | |
lässt. Zudem hat Griechenland die stärkste Wirtschaftskrise aller | |
europäischen Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen. Hoffnung | |
macht aber, dass es viel Engagement von Freiwilligen vor Ort und aus der | |
Zivilgesellschaft gibt. | |
Sie sagen: „Die Lager gehören sofort evakuiert!“ Wohin? | |
Lesbos hat 80.000 Einwohner:innen und 20.000 Geflüchtete aufgenommen | |
und Europa hat 500 Millionen Einwohner:innen. Wir haben in Deutschland die | |
Ressourcen und den Platz, Geflüchtete aufzunehmen. Wir würden das gar nicht | |
weiter merken, selbst wenn wir alle Geflüchteten aus Lesbos aufnehmen | |
würden. Über 250 Kommunen und drei Bundesländer wollen Menschen sofort | |
aufnehmen. Es scheitert allein an Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). | |
Fühlen Sie sich als Flüchtlingspolitikerin einer Landesregierung, an der | |
Die Linke beteiligt ist, hilflos? | |
Wir haben alles gemacht, was wir konnten. Aber bei Seehofer, bei dieser | |
Bundesregierung, beißt man da auf Granit. Politisch wäre das Problem ja | |
leicht zu lösen – und das macht hilflos und verzweifelt. Wir werden aber | |
weiter Druck machen. Das, was dort in den Lagern passiert, geschieht in | |
unser aller Namen – es sind meiner Ansicht nach Verbrechen an der | |
Menschlichkeit. | |
Trotzdem bleibt auch Ihnen nur der Appell. | |
Das Aufenthaltsgesetz erfordert bisher das [4][Einvernehmen mit dem | |
Bundesinnenministerium], obwohl die Unterbringung, Versorgung und | |
Beschulung von Geflüchteten Sache ja der Länder und Kommunen ist. Derzeit | |
läuft eine Bundesratsinitiative, die versucht, das zu ändern, damit die | |
Aufnahme von 100 Geflüchteten in Bremen nicht mehr länger vom | |
Bundesinnenminister abhängt. | |
Die EU-Politik ist ja eine der Abschreckung. Funktioniert das? | |
Nein, die von den Herrschenden beabsichtige Abschreckung hält seit Jahren | |
Menschen nicht von der Flucht ab. Sie flüchten ja nicht, weil sie sich hier | |
ein echt gutes Leben erhoffen, sondern weil der Druck in den | |
Herkunftsstaaten so groß ist. Wir haben in dem Lager viele Menschen aus | |
Afghanistan oder Somalia getroffen, wo Terror herrscht. Und ich habe mit | |
Folteropfern und Opfern von Menschenhandel gesprochen. Die Abschreckung | |
kann noch so groß sein – es ist für viele trotzdem noch die bessere Wahl. | |
Die Bedingungen in den Lagern sind reine Schikane. | |
1 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Fluechtlingslager-Moria-in-Griechenland/!5733705 | |
[2] /Unbegleitete-Fluechtlinge-in-Europa/!5766912 | |
[3] /Arzt-ueber-das-Lager-Kara-Tepe-auf-Lesbos/!5760664 | |
[4] /Deutsche-Fluechtlingspolitik/!5767355 | |
## AUTOREN | |
Jan Zier | |
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