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# taz.de -- Bildungssystem in Belarus: Bei Protest droht Exmatrikulation
> Das Bildungssystem in Belarus ist in weiten Teilen regimetreu. Dennoch
> gibt es auch an Schulen und Unis Protest gegen Machthaber Lukaschenko.
Bild: Siegessicher: Ein Unterstützer der belarussischen Opposition bei einer K…
Minsk taz | Am 29. Januar diesen Jahres kam Alexander Lukaschenko an die
Geografische Fakultät der Belarussischen Staatlichen Universität. Der
Pressedienst versicherte, dass die Studierenden ihn selbst eingeladen
hatten. Auch mit Vertreter*innen regionaler Hochschulen würde
Lukaschenko per Videoschalte reden, hieß es.
„Niemand verbietet euch, zu sprechen. Seine Meinung soll, ja, muss man
unbedingt aussprechen“, sagte Lukaschenko zu den jungen Menschen. „Aber die
Grenzen der Gesetze sollten dabei nicht überschritten werden. Universitäre
Räume sind keine Orte politischer Zusammenkünfte und Demonstrationen“, so
der Machthaber.
Alexander Lukaschenko erklärte den Studierenden, dass er sich für keine
seiner Handlungen vor ihnen schämen müsse. Anscheinend meinte er damit die
[1][Verhaftungen] und Entlassungen, die er selbst veranlasst hatte. „Ich
werde niemals glauben, dass wir eine Generation unabhängiger Belarussen
großgezogen haben, die davon träumen, dass ihre Zukunft von ausländischen
Politkern bestimmt wird“, sagte der „Vater der Nation“, der Russland und
Westeuropa permanent um Kredite bittet.
Der selbsternannte Präsident wird wissen, dass die Studierenden ihm wenig
Glauben schenken dürften. Wie in vielen revolutionären Unruhen der
Weltgeschichte fanden auch die Massenproteste in Belarus, die im Zuge der
manipulierten Präsidentschaftswahlen im August begannen, ihren Widerhall an
den Hochschulen. An den Universitäten von Minsk begannen die Studierenden
mit Protestaktionen auf den Stufen ihrer Alma Mater. Sie machten
Sitzstreiks, formierten sich zu Solidaritätsketten, verklebten sich die
Münder, sangen Volkslieder.
Mit Miliz gegen unliebsame Studierende
Auch in anderen Regionen des Landes gingen sie auf die Straße – etwa in
Brest, wo ein Hochschulrektor wegen des massiven Protests seiner
Studierenden entlassen wurde. Wie viele Studierende sich an den
Demonstrationen beteiligten, ist unklar, weil sie während der Pausen und
nach dem Unterricht stattfinden.
Erwiesen ist jedoch, dass man die jungen Menschen für ihren Widerstand mit
ausgedachten Vorwürfen verfolgt. Am 27. Oktober 2020 etwa wurden 54
Studierende der Nationalen Technischen Universität zwangsexmatrikuliert –
„wegen systematischer Nichtbefolgung studentischer Verantwortlichkeiten“.
Ein Vorwurf, den auch Rektoren anderer Hochschulen zur Exmatrikulation
ihrer Studierenden nutzten. Stellvertretende Rektoren einiger Hochschulen
schrieben zudem Briefe an die Miliz. Darin baten sie das Staatsorgan darum,
die administrative Verantwortung für Studierende zu übernehmen, die sich an
unzulässigen Massenveranstaltungen und Demonstrationen beteiligten.
An der Nationalen Technischen Universität erfuhr die Unidirektion eine
besondere Unterstützung des Regimes: Dort, wo die Studierenden zuvor noch
zu Protestaktionen zusammengekommen waren, wurden die jungen Männer nun zur
Armee einberufen. Eine studentische Initiative dokumentierte 418 Fälle von
inhaftierten Studierenden und 135 Fälle von Zwangsexmatrikulation im ganzen
Land.
An jeder Uni couragierte Dozierende
Doch an jeder Uni gab es auch Dozierende, die zum Streik aufriefen oder
Appelle an die akademische Gemeinschaft schrieben, in denen sie Gewalt
verurteilten und Studierende wie Kolleg*innen unterstützten, die unter
Repressionen zu leiden hatten. Denn die Mehrzahl der gefeuerten
Studierenden wurde ohne gesetzliche Grundlage aus den Hochschulen
exmatrikuliert, als politisch motivierte Aktion und aus Rache für eine von
der Universitätsverwaltung unerwünschte politische Haltung. Zwölf
Studierende und ein Dozent sind offiziell als politische Gefangene
anerkannt.
Zu ihnen gehört Jan Solonowitsch, Student der Informatik und
Radioelektronik an der Belarussischen Staatlichen Universität. Der junge
Mann wurde am 1. November wegen seiner Teilnahme an einer Protestaktion
festgenommen. Bei seiner ersten Verurteilung erhielt er zwölf Tage Haft,
jedoch folgten acht weitere Verurteilungen, 85 Tage war Solonowitsch
insgesamt hinter Gittern. Seine Mutter Olga Solonowitsch vermutet, dass
diese Maßnahmen in Verbindung mit der Arbeit ihres Sohnes im
wissenschaftlich-technischen Zentrum des belarussischen Geheimdienstes KGB
stehen.
Im Dezember letzten Jahres wurden die Eltern Solonowitschs in die
Universität geladen, wo sie im Namen ihres Sohnes einen Antrag auf
Exmatrikulation auf eigenen Wunsch unterschreiben sollten. Sie lehnten ab.
Doch am 25. Januar folgte ein Brief der Universität. Darin hieß es, dass
Solonowitsch aufgrund der Nichteinhaltung von Verpflichtungen in neun
Fächern von der Universität suspendiert sei. Am selben Tag wurde
Solonowitsch ohne Angabe von Gründen aus der Haft entlassen. Er verließ
sofort das Land. Ein Ausweg, den viele junge Menschen zu ergreifen
versuchen.
Begabte Studierende emigrieren etwa nach Tschechien und Polen, wo man ihnen
verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten anbietet. An elf tschechischen
Universitäten können belarussische Studierende sogar Stipendien erhalten.
Dennoch nutzen nur wenige die Möglichkeit. Für viele sind die
Lebenshaltungskosten in Prag oder Warschau zu hoch, als dass sie sich den
Aufenthalt leisten könnten.
Lehrkräfte als Wahlfälscher*innen
Auch Wissenschaftler*innen verlassen das Land. Allein die Europäische
Geisteswissenschaftliche Exiluniversität in Vilnius, die 1992 in Minsk als
private Hochschule gegründet und 2004 aus politischen Gründen geschlossen
wurde, hat bereits zwölf Lehrkräfte eingestellt. Sie waren zuvor von der
Belarussischen Staatlichen Kunstakademie, der Akademie des
Innenministeriums und dem Historischen Institut der Belarussischen Akademie
der Wissenschaften aus politischer Motivation entlassen worden.
Die Emigration mag für herausragende Studierende und
Wissenschaftler*innen eine Option sein. Schüler*innen und ihren
Eltern steht sie für gewöhnlich nicht offen. Sie müssen andere Wege finden,
ihre Kinder dem ideologischen Zugriff des Regimes zu entziehen. Denn in
einem Land, wo Bildung vor allem dazu dient, ideologisch „richtige“,
systemtreue Bürger*innen heranzuziehen, sind Schulen keine neutralen
Orte.
Im Sommer 2020 wurde der Großteil der Wahllokale in Schulgebäuden
eingerichtet. Die Lehrkräfte, die dort arbeiteten, zwang man, sich an der
Stimmenauszählung zu beteiligen – und Stimmen zu fälschen. Sollten sie dem
Befehl nicht Folge leisten, würden sie entlassen, so die Drohung. Viele
Eltern verurteilen dieses Verhalten; sie wollten nicht, dass solche – seien
es prinzipienlose, oder auch abhängige Lehrer*innen – weiter ihre Kinder
unterrichten. Viele unterrichten ihre Kinder jetzt zu Hause.
Aber es gab auch mutige Schulleiter wie Sergej Stretschko aus Polozk. Im
August bat er Lehrkräfte per Videobotschaft, sich kollektiv an die
Staatsanwaltschaft zu wenden, um diejenigen zur Verantwortung zu ziehen,
die gezwungen worden waren, Wählerstimmen zu manipulieren. Er rief auch
dazu auf, sich für Neuwahlen einzusetzen. Stretschko wurde unter Druck
gesetzt und Anfang 2021 entlassen.
Opposition will Demokratisierung des Bildungssystems
In Belarus ist Schulbildung grundsätzlich kostenlos. Theoretisch erhalten
Schulkinder aus dem Staatsbudget alles, was sie für den Unterricht
brauchen. Dennoch wird in Eltern-Chatgruppen ständig Geld gesammelt: für
die Renovierung der Klassenräume, für ein Fernsehgerät und ähnliche Dinge.
Zu Beginn des neuen Schuljahrs im September 2020 forderten viele Eltern von
den Lehrkräften, sich für die Beschaffung dieser Dinge, die für die
schulische Bildung notwendig sind, direkt an die jeweiligen
Bezirksverwaltungen zu wenden: „Wenn Sie dem Befehl bestimmter Personen
gefolgt sind, diese zu wählen, dann bitten Sie dort jetzt auch um
finanzielle Unterstützung!“, so ihr Credo. Es zeigt, wie zerrüttet das
Vertrauen zwischen Lehrer*innen und Eltern ist.
Der Koordinierungsrat der belarussischen Opposition unter [2][Swetlana
Tichanowskaja] arbeitet derweil daran, eine Reform des Bildungssystems für
die Zeit nach Lukaschenko zu entwerfen. Das derzeitige Bildungssystem
stammt noch aus der Sowjetunion, alle Prozesse sind zentral gesteuert und
durchideologisiert. Die promovierte Philosophin Olga Shparaga, die im
Koordinierungsrat für den Bildungssektor zuständig ist, will das ändern.
Sie strebt eine Demokratisierung der Universitäten an, bei dem sich
Studierende und Lehrende auf Augenhöhe begegnen sollen, ohne Unterdrückung
und Demütigung und basierend auf der Gleichheit von Frauen und Männern.
Statt Loyalität von der Hochschule bis zum Kindergarten zu propagieren,
soll es im neuen Bildungssystem möglich sein, kreativ zu sein, ohne Druck
von Regulierungsbehörden.
„Die Ideologie sollte nicht von oben nach unten weitergegeben werden, sie
entsteht, wenn unterschiedliche Werte und Meinungen aufeinandertreffen,
wenn die Gesellschaft durch Diskussion zu einem Konsens findet“, davon ist
Shparaga überzeugt. Und Diskussion solle es ständig geben, an den
Hochschulen, in Medien und Kultur. Doch wie die Reformen letztendlich
aussehen – das müssten die Bürger*innen entscheiden.
Aus dem Russischen von [3][Gaby Coldewey]. Wegen der aktuellen Lage
erscheint Belarus’ Text unter Pseudonym.
10 Mar 2021
## LINKS
[1] /Politische-Willkuer-in-Belarus/!5748145
[2] /Opposition-in-Belarus/!5756199
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Janka Belarus
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