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# taz.de -- Bildungskatastrophe in Deutschland: Schaltet die Gerichte ein!
> Wo bleibt die Klage einer Tochter der dritten Einwanderergeneration?
> Opfer der Bildungspolitik könnten vom Klimakrisen-Widerstand lernen.
Bild: Kinder auf dem Weg in die Schule
Ach, das ZDF. Dass es seinen politischen Bildungsauftrag immer erst gegen
Mitternacht erfüllt. So neulich wieder mal Markus Lanz. Zuerst die
schlimmen Zahlen: 40.000 Lehrer fehlen. Und die neueste Untersuchung zeigt:
[1][Wieder erreicht ein Drittel der Schüler nicht die Mindeststandards in
Lesen und Mathematik]. Dazu die schlimmen Bilder von morschen
Klassenzimmerfenstern; der Sanierungsstau beträgt insgesamt 45 Milliarden
Euro.
Dann wird die arme, arme Bundesbildungsministerin vernommen. Knapp vor
ihrer Ernennung schrieb sie noch, [2][der Bildungsföderalismus gehöre
abgeschafft]; im Frühjahr noch stöhnte sie: Was nottäte, wäre eigentlich
ein Fridays for Education, wofür sie von einigen Kultusministern scharf
gerügt wurde. Bei Lanz stellt sie nun stolz ein „Start-Chancen“-Programm
vor, eine Milliarde, na ja, vielleicht auch zwei, für die 4.000 schlimmsten
Schulen, eine Viertelmillion also für jede. Davon können die dann die Klos
renovieren oder vier Lehrer einstellen – aber erst ab 2024, bis dahin muss
das erst noch geplant und vor allem mit den Ländern abgestimmt werden.
Ach, heiliger [3][Erhard Eppler, ehemaliger
Bundesentwicklungshilfeminister], du Schutzheiliger aller, die demonstrativ
zurücktreten, weil sie ihre Aufgabe nicht erledigen dürfen, die plakativ
scheitern und damit für Klarheit sorgen. Es wäre ja schon mal ein schöner
Zug, sagt Sascha Lobo, der Zweite in der Runde, wenn Ministerin
Stark-Watzinger mal im Bundestag kräftig auf den Putz hauen würde.
Dann verteidigt er die Eltern, deren Lobbykraft nicht für einen Aufstand
reicht, weil der ADAC mehr Mitglieder hat als alle Erziehungsberechtigten,
die ohnehin überfordert seien mit dem Kleinklein des Alltags. Nein, für
gute Schulen zu sorgen, sei die Aufgabe des Staates.
Warum der das nicht tut, [4][bringt der Bildungsforscher Aladin
El-Mafaalani auf den Punkt]: Während Experten den Bremsweg diskutieren,
stehen die Praktiker schon kurz vor der Wand. Warum nichts passiere?
Pädagogisch wissen fast alle, was zu tun ist, aber anders als beim Klima
sei die Bildungskatastrophe noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
getreten. Es braucht einen Wumms, eine Ansage von ungefähr 100 Milliarden
Euro, damit die Bedeutung des Problems, die Dramatik und die Notwendigkeit
langfristiger Geldausgaben in die Diskussion kommt.
Denn nur durch viel Geld zeigen Politiker, und verstehen die Bürger, dass
etwas wirklich ernst genommen wird. Einen Doppelwumms dürfte es aber
kosten, wenn auch nur das jüngste Grundschul-Gutachten der
Kultusministerkonferenz ernst genommen würde, und 20 Jahre dürfte es
dauern. Zurück in die mitternächtliche talk-Runde. Das Geld zu beschaffen,
wäre trotz Schuldenbremse kein Problem, man bräuchte nicht einmal die
Kaschierung über Sondervermögen, trug die kluge Ökonomin in der Runde,
Philippa Sigl-Glöckner, bei.
Klingt plausibel, kann ich aber hier in Kürze nicht erklären. Schwieriger
wird es bei der Frage, woher die Lehrer kommen sollen, wo doch jetzt schon
die Hälfte der Lehramtsstudenten spätestens dann, wenn sie mal in einer
Schule waren, das Studium abbrechen. Offenbar brauchen wir eben nicht nur
eine pekuniäre, sondern auch eine pädagogische Revolution. Auch dafür
erinnere ich mich an mehr als genug gute Ideen.
## Einschränkung von Lebenschancen
Resümee: Alle wissen, was zu tun ist, aber keiner tut es. Die Parallele zur
Klimakatastrophe ist schlagend. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir in
zehn Jahren eine schlimme Lage erzeugt haben: Unterqualifikation,
Wachstumsschwund, Steuerausfall – und Millionen Kinder nicht für ein
halbwegs erträgliches und selbstbestimmtes Leben ausgestattet. Die
Einschränkung von Lebenschancen aber ist eine Einschränkung von Freiheit –
so die Argumentation, mit der das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren
das unzulängliche Klimagesetz der Regierung kippte und das Recht auf
„intertemporale Freiheitssicherung“ in die Runde warf.
Möglich wurde das, weil Sophie Backsen von der Insel Pellworm gegen die
Regierung geklagt hat: die Unterlassungen in der Klimakrise von heute
beschädigten ihre Freiheitsräume in ferner Zukunft. Und sie hat Recht
bekommen.
Kürzlich hat das Gericht ein Recht auf den „unverzichtbaren Mindeststandard
von Bildungsangeboten“ proklamiert, auf „gleichen Zugang zu
Bildungschancen“, welche die „Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu
Persönlichkeiten ermöglichen, die ihre Fähigkeiten und Begabungen entfalten
und selbstbestimmt an der Gesellschaft teilhaben können“. Das ist zum einen
eine Aufforderung an Lehrer und Bildungsforscher, mal zu definieren, was
für humanistische Exportweltmeister „unverzichtbar“ ist. Das kann dauern.
Aber da mit jedem Jahr Bildungschancen zerstört werden: Wo bleibt die Klage
einer aufgeweckten 13-jährigen Tochter der dritten Einwanderergeneration
aus Essen-Altenessen oder des dreijährigen Sohns einer alleinerziehenden
Mutter aus München-Milbertshofen: für eine Schule, [5][die in Ausstattung,
Standards und Lehrer-Schüler-Quote der besten Schulen des Landes nicht
nachsteht]? Wenn die parlamentarischen Prozesse im Parallelogramm der
gelähmten Kräfte verharren – vielleicht hilft ja die Besinnung auf ein paar
Werkzeuge der politischen Aufklärung: die Gewaltenteilung und das
Verfassungsrecht.
## Bildung statt Rosenheim-Cops
Wegen der Bildungshoheit der Länder müssten 16 solcher Klagen oder auch ein
paar mehr in koordinierter Weise bei allen Landesverfassungsgerichten
eingereicht werden. Am besten von höchstqualifizierten
Verfassungsrechtlern, die von den Elternverbänden, den Gewerkschaften, dem
BDI und dem BDA finanziert werden.
Und wenn das nichts nützt, sehen wir weiter. Und das ZDF? Ach ja, das
könnte solche Umbauprozesse doch mal zur besten Sendezeit verfolgen. Jeden
Dienstagabend, statt „Rosenheim-Cops“ oder „Inga Lindström“: die
intertemporale Freiheitssicherung im Programm. Markus Lanz, können Sie
nicht mal übernehmen?
13 Dec 2022
## LINKS
[1] /Schule-und-jede-Menge-Fragen/!5887426
[2] /Chancengleichheit-in-der-Bildung/!5896848
[3] /Nachruf-auf-den-SPD-Politiker-Eppler/!5634658
[4] https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-16-november-202…
[5] /Autorin-ueber-Schulreform/!5737885
## AUTOREN
Mathias Greffrath
## TAGS
Bildungschancen
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