# taz.de -- Nachruf auf den SPD-Politiker Eppler: Erhard ist im Garten | |
> Erhard Eppler brauchte kein Amt, um zu wirken. Der SPD gegenüber, war er | |
> loyal, immer. Nachruf auf einen der letzten Parteiintellekuellen. | |
Bild: Klüger als die meisten seiner Partei-Genossen: Erhard Eppler | |
In der Geschichte der Bundesrepublik sind nur drei MinisterInnen | |
zurückgetreten, weil sie die Politik der Regierung nicht mehr vertreten | |
wollten. Gustav Heinemann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger – und 1974 | |
Erhard Eppler, damals Entwicklungshilfeminister. Helmut Schmidt war gerade | |
Kanzler geworden und hielt Entwicklungshilfe für einen Nebenweg deutscher | |
Interessenpolitik, die nicht viel kosten durfte. | |
Eppler war 1968 eher widerwillig Entwicklungshilfeminister geworden. Weil | |
er genau hinschaute und über einen scharfen analytischen Verstand verfügte, | |
begriff er, dass die Idee, die Dritte Welt in die Erste zu verwandeln, | |
scheitern musste. Und dass die Vision, den gesamten Globus nach westlichem | |
Vorbild zu industrialisieren, zum ökologischen Kollaps führen musste. Er | |
führte 1971 als Entwicklungshilfeminister Umverträglichkeitsprüfungen ein | |
und schrieb, dass der Ökonomismus, wenn es so weitergeht, „das Raumschiff | |
Erde unbewohnbar machen wird“. | |
Das klingt heute banal. Doch 1971 glaubten fast alle an den Fortschritt, | |
und die Sozialdemokraten ganz besonders innig. Eppler, der in den 1960er | |
Jahren als Bundestagsabgeordneter ein ehrgeiziger, unauffälliger Technokrat | |
gewesen war, galt Anfang der 1970er in der Partei als Sonderling. Als er | |
1974 zurücktrat und freiwillig auf Macht und Amt verzichtete, war das Bild | |
des Moralisten endgültig ausgehärtet. Das Image wurde er nie wieder los. Es | |
störte ihn. Es war unscharf, eigentlich falsch. | |
Jene bei Linken anzutreffenden Form von Moral, die Verwirrungen der | |
Wirklichkeit zu meiden und sich im Rechthaben einzurichten, war Erhard | |
Eppler fremd. Kritik ohne Verbindlichkeit, Gesinnung ohne Verantwortung | |
interessierte ihn nicht. Eppler war ein Parteiintellektueller – im Zweifel | |
mit Betonung auf der den ersten beiden Silben. Kein Moralist, eher ein | |
Realist mit moralischem Koordinatensystem. | |
## Spannung zwischen Intellekt und Partei | |
Er war die Gegenfigur zu Helmut Schmidt, dem Macher, der Zweifel für | |
Schwäche, Fortschritt für selbstverständlich und Ökologie für einen Spleen | |
gelangweilter Mittelschichtsgattinnen hielt. Eppler, der grüne | |
Sozialdemokrat, der gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke war, verlor die | |
meisten machtpolitischen Auseinandersetzungen in der SPD. Eigentlich alle. | |
Er scheiterte als SPD-Landeschef in Baden-Württemberg. Die stumpfsinnige | |
Filbinger-CDU höhnte, dass er sich „in Uganda besser auskennt als in | |
Hohenlohe“. Wenn Eppler im Bierzelt Reden hielt, mahnte er auch mal, nicht | |
so laut mit dem Geschirr zu scheppern. Seinen zahlreichen Gegnern galt er | |
als Symbol lebensfernen Protestantismus. Als „Pietcong“ hatte ihn Herbert | |
Wehner mal verhöhnt. Er sammelte Wahlniederlagen. Anfang der 1980er verlor | |
Eppler seinen Posten im SPD-Präsidium, weil er offen gegen Helmut Schmidt | |
rebellierte. | |
So kann man es erzählen – aber auch ganz anders. Eppler siegte von | |
Niederlage zu Niederlage. Sein Projekt war seit 1971 die Verwandlung des | |
Traditionsvereins SPD, der an Technik und Tonnenideologie glaubte, in eine | |
offene Ökopax-Partei. Ostpolitik, Sozialstaat, der Aufstieg der Arbeiter | |
zum Eigenheimbesitzer schien ihm viel zu wenig – es ging doch um globale | |
Gerechtigkeit, radikale Abrüstung, Ökologie. Sein Einfluss bemaß sich nicht | |
in Ämtern, aus denen er oft als Störenfried wieder herausgedrängt wurde. | |
Seine Macht war, wie bei Pastoren und Intellektuellen, diskursiver Art. Er | |
wirkte durch Ideen, die präzise, stets in verbindlichem Ton vorgetragene | |
Überzeugung. | |
Eppler wurde damals etwas oberflächlich als Parteilinker etikettiert. Dabei | |
traf es wertkonserativ viel besser. Und die Zeit arbeitet für ihn. Die | |
postmaterielle Gesellschaft, in der Selbstverwirklichung ins Zentrum | |
rückte, war empfänglich für Bedrohungen, Ängste und zusehends kritisch | |
gegenüber dem Machbaren, das politisch immer zu wenig war, technisch zu | |
gefährlich. Nach dem Unfall in Harrisburg 1979 kam die | |
Anti-Atomkraft-Bewegung in Schwung. Die von Helmut Schmidt konzipierte | |
Nachrüstung der Nato mit Pershing-Raketen mobilisierte Hunderttausende | |
gegen die sozialliberale Regierung. Im Oktober 1981 redete Eppler in Bonn | |
vor 300.000 Demonstranten, die gegen die Nachrüstung protestierten. Einfach | |
immer mehr Raketen zu stationieren erschien ihm als Ausdruck jener | |
technokratischen Hybris, die pragmatisch, vernünftig, sachlich die eigene | |
Vernichtung riskierte. Schmidt hielt die Friedensbewegung hingegen schlicht | |
für die Fünfte Kolonne Moskaus. Es soll sogar Überlegungen gegeben haben, | |
Eppler aus der SPD auszuschließen. | |
Eppler und Schmidt blieben persönlich unversöhnt. Das lag nicht an dem | |
Schwaben. Eppler redete nie herablassend über den ehemaligen Kanzler, was | |
andersherum wohl nicht so war. Schmidt fand Eppler überflüssig, Eppler | |
wusste, dass Schmidt etwas konnte, was ihm fehlte: Machtpolitik. Schmidt | |
hingegen war unfähig zu begreifen, dass Eppler etwas konnte, was ihm fehlte | |
– ahnen, was kommt. | |
## Epplers Loyalität zur SPD war unerschütterlich | |
Nach 1982 schwenkte die SPD langsam auf Epplers Linie um – Abrüstung, | |
ökologische Industriepolitik, raus aus der Atomkraft. Eppler demonstrierte | |
1983 in Mutlangen gegen die Stationierung der Pershings, forderte ein | |
„radikales Umdenken“ und träumte davon, dass SPD und soziale Bewegungen | |
enger zusammenrücken würden. Es war zu spät. In den 1980er Jahren hatte die | |
Sozialdemokratie eine halbe Generation an die Grünen verloren, eine anfangs | |
seltsame, chaotische Fusion von 68er-Linken und Wertkonservativen. Wer | |
weiß, ob den Grünen damals ihr Aufstieg gelungen wäre, wenn die SPD nicht | |
so lange vasallentreu Helmut Schmidt gefolgt und früher mit Eppler grün | |
geworden wäre. „Ich hatte eine Nase dafür, was kommt. Dafür war ich ein | |
schlechter Taktiker“ sagte Eppler später. | |
Zu den Grünen zu wechseln, war für ihn nie eine Möglichkeit. Die Loyalität | |
zur SPD war unerschütterlich. Sie resultierte scheinbar paradoxerweise | |
daraus, dass er als Fremder in den 1950er Jahren in die SPD gekommen war. | |
Die war damals noch eine proletarisch-kleinbürgerliche Milieupartei, die | |
nach Schweiß, Schloten und Frühschoppen roch. Eppler, Kirchenmann und | |
liberaler Sohn eines Oberstudiendirektors, sagte im Rückblick: „Ich roch | |
etwas nach Sakristei.“ Die Figur Eppler ist nur aus der produktiven | |
Spannung zwischen dem bürgerlichem Intellektuellen und der Partei zu | |
begreifen. Der Intellektuelle und die Masse, das ist eine Erzählung aus dem | |
20. Jahrhundert, bevor sich die kollektiven Wir-Gesellschaften auflösten | |
und in individualisierte Ich-Gesellschaften verwandelten. | |
Eppler war oft klüger als seine Partei – vor allem früher. Er witterte | |
1971, dass Ökologie das Leitthema der kommenden Jahrzehnte werden würde. Er | |
ahnte früh das Ende der DDR und des Realsozialismus. Mitte der 1980er Jahre | |
hatte Eppler das SED-SPD-Papier mitverfasst, das Konservative als Gipfel | |
des „Wandel durch Anbiederung“ (Volker Rühe) hassten, ein Symbol für die | |
angebliche Nähe von SPD und SED. Am 17. Juni 1989 hielt der SPD-Linke | |
Eppler, gegen den entschiedenen Widerstand der Union, die offizielle Rede | |
zum Tag der Deutschen Einheit. Sie war eine Sensation an realistischer | |
Klarsicht. Eppler skizzierte präzise die desolate Lage in der DDR. Die | |
Frage sei nicht mehr ob, nur noch wann das SED-Regime zusammenbricht. Ohne | |
Mauer aber werde die Frage der deutschen Einheit auf die Tagesordnung | |
kommen. | |
Selten sind im Bundestag so prophetische Worte gesprochen worden. Eppler | |
verfügte nicht nur über gute Kontakte in die SED, deren ausweglose Krise er | |
früh erkannte, sondern auch zur Kirche, in der sich die Protestbewegung zu | |
versammeln begann. Er sah kühl die Logik der Lage: Falls die | |
DDR-Bevölkerung die Einheit wolle, könne der Westen diese nicht verweigern. | |
Dabei war [1][die deutsche Einheit] im Sommer 1989 in der SPD und der | |
undogmatischen westdeutschen Linken so beliebt wie Kopfschmerzen. | |
## Schröder gerettet, sinnstiftende Erzählung der SPD zerstört | |
Eppler war mal wieder früh klug – doch das Sagen in der SPD hatten andere | |
wie Oskar Lafontaine, der die Einheit skeptisch sah. Nach der Rede am 17. | |
Juni waren Grüne und SPD-Linke empört, dass ausgerechnet Eppler scheinbar | |
die Seite gewechselt habe. | |
Die Generation von Lafontaine und Joschka Fischer, die sich im | |
Postnationalismus eingerichtet hatte, versagte 1989 komplett. Der | |
westdeutsche Linken fiel zur DDR nichts ein. Eppler, der Ältere, der mit | |
Gustav Heinemann in den 1950ern die erfolglose Gesamtdeutsche Volkspartei | |
gegründet hatte, sah das wie Willy Brandt: als Chance. Später kritisierte | |
Eppler, wie immer gescheit und maßvoll, das historische Desaster der | |
jüngeren Linken nach dem Mauerfall: Den Mangel „an nationalem Schwung“ | |
nehme er ihnen nicht übel, „blamabel“ aber sei gewesen, dass sie das | |
demokratische Recht der Ostdeutschen auf Selbstbestimmung nicht akzeptieren | |
wollten. Ob Kohl alle Wahlen gewonnen hätte, wenn die SPD mehr auf die | |
Eppler und Brandt als auf den kalten westdeutschen Narzissmus von | |
Lafontaine gesetzt hätte? | |
Im Jahr 2003 hat Eppler für die Agenda 2010 votiert. Dass der Moralist den | |
Schmidt-Nachfolger Schröder stützte, war auf dem SPD-Parteitag wichtig, | |
vielleicht hat es Rot-Grün damals sogar gerettet. Schröder zerstörte mit | |
der Agenda 2010 die sinnstiftende Erzählung der SPD als Schutzmacht der | |
kleinen Leute, ohne eine neue zu erfinden. Doch dass diese Agenda ein | |
einschneidender Fehler war, mochte Eppler auch später nicht erkennen. Die | |
Loyalität zur SPD war größer. Eppler meldete energischen, fundamentalen | |
Dissens nur an, wenn es um Existentielles wie Atomkrieg, das ökologische | |
Desaster oder eine Zeitenwende wie 1989 ging – nicht bei Sozialpolitik. | |
Wenn die taz ihn zu Hause in Schwäbisch Hall anrief, [2][wegen eines | |
Interviews] oder um zu hören, was er meinte, war immer seine Frau am | |
Telefon. Erhard ist im Garten, sagte sie meist. Dann musste man ein paar | |
Minuten warten, ehe er am Telefon nüchtern und in einer Sprache ohne jede | |
technokratische Floskel das Faktische in größere Bögen einordnete. | |
Vor ein paar Jahren habe ich ihn in Schwäbisch Hall besucht. Er war im | |
Garten und glücklich, dort mit 86 Jahren noch arbeiten zu können. Zu Mittag | |
gab es Suppe aus selbst angebautem Gemüse. Wir redeten über die SPD, in die | |
er 1956 eingetreten war, die so viel Vergangenheit hatte und so wenig | |
Zukunft zu haben schien. Er sah das anders. Wenn es die SPD nicht gäbe, | |
sagt er zum Abschied, man müsste sie heute gründen. | |
Am 19. Oktober ist Erhard Eppler in Schwäbisch Hall verstorben. | |
20 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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