# taz.de -- Bilanz des arktischen Sommers: Gefahren aus der Kühltruhe der Welt | |
> Ohne Klimawandel hätte es eine solche Hitzewelle in der Arktis nicht | |
> gegeben. Der auftauende Permafrostboden setzt zudem bedrohliche Viren | |
> frei. | |
Bild: In Sibirien brannte es in diesem Jahr zehnmal häufiger als üblich | |
BERLIN taz | Dieser arktische Sommer war extrem: Wochenlang brannten die | |
Wälder nördlich des Polarkreises, Sibirien war besonders betroffen. Im | |
normalerweise kältesten bewohnten Ort der Welt, der Stadt Werchojansk 100 | |
Kilometer nördlich des Polarkreises, wurden im Juni 38 Grad gemessen. | |
Philip Lorenz vom Deutschen Wetterdienst spricht von einer Hitzeanomalie: | |
„Was sich in Sibirien gezeigt hat, ist ein außergewöhnliches Ereignis“, | |
sagte er der taz. In Werchojansk, wo die Erde permanent gefroren ist, wird | |
es sonst im Juni maximal 18 Grad warm. | |
Nicht nur in Sibirien, auch in Europa gab es einen arktischen | |
Temperaturrekord: Ende Juli wurden auf der [1][norwegischen Insel | |
Spitzbergen] 21,7 Grad gemessen. In Sibirien kam zur Hitze eine | |
ungewöhnliche Trockenheit, was die Waldbrände befeuerte. Auswertungen von | |
Daten des europäischen Erdbeobachtungsprogramms „Copernicus“ kommen zu dem | |
Schluss, dass durch sie bis Ende August [2][244 Millionen Tonnen | |
Kohlendioxid zusätzlich] in die Atmosphäre gelangten. | |
Zwar sind sibirische Feuer im Sommer nicht ungewöhnlich. Vor zehn Jahren | |
verursachten sie aber nur ein Zehntel so viele Treibhausgase, es brannte | |
also in diesem Jahr zehnmal mehr. Philip Lorenz hat gemeinsam mit anderen | |
Wissenschaftlern die [3][Wahrscheinlichkeit des diesjährigen Wetters in | |
Sibirien] untersucht. Sein Fazit: „Ohne den menschengemachten Klimawandel | |
wären die Feuerereignisse in Sibirien in diesem Jahr unmöglich.“ | |
Das Problem mit der permanent gefrorenen Erde, dem sogenannten Permafrost: | |
Ein Viertel der Landfläche der Nordhalbkugel taut nie auf. Wie eine riesige | |
Tiefkühltruhe hält dieser Frost in Alaska, in Nordkanada und weiten Teilen | |
Sibiriens gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste im Boden | |
verschlossen. Taut das Eis, werden diese durch Mikroben zersetzt. Dabei | |
werden Treibhausgase wie Lachgas, Methan oder Kohlendioxid frei. Das heizt | |
den Klimawandel weiter an. Ein sogenanntes Kippelement: Einmal in Gang | |
gesetzt, lässt sich der Prozess nicht mehr aufhalten. | |
## „1,5-Grad-Ziel wird bereits gerissen“ | |
„Im Vergleich zur vorindustriellen Zeit ist der Permafrost Richtung Nordpol | |
bereits um 100 Kilometer zurückgegangen“, sagt Guido Grosse, der am | |
Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung das Problem | |
erforscht. Ohne Klimaschutz werde allein das weitere Auftauen die globale | |
Temperatur um 0,27 Grad bis Ende des Jahrhunderts anheizen. | |
„Allerdings gehen die Modelle von einem kontinuierlichen Auftauprozess | |
aus“, sagt der Professor. Dabei würden schnelle Tauprozesse, die wesentlich | |
mehr Treibhausgase produzieren, zunehmen – etwa an Seen oder durch | |
Waldbrände. Grosse geht deshalb davon aus, „dass das 1,5-Grad-Ziel bereits | |
gerissen wird“. | |
## Sonne weckt tödliche Bakterien im Permafrost … | |
Doch nicht nur für die Erderhitzung birgt die sich öffnende Kühltruhe | |
gigantische Gefahren. „Sonne weckt tödliche Bakterien im Permafrost“, | |
titelten Zeitungen bereits im Sommer 2016. Auch damals war es im Nordwesten | |
Sibiriens ungewöhnlich warm, auf der Halbinsel Jamal bis zu 35 Grad. | |
Plötzlich erkrankten Menschen an Milzbrand, einer hochansteckenden | |
Krankheit, die seit 1941 in Sibirien als ausgerottet galt. | |
Russische Experten gingen davon aus, dass Sporen des Bacillus anthracis | |
jahrzehntelang gefroren in vergrabenen Kadavern überlebten und von den | |
ungewöhnlich hohen Temperaturen wieder zum Leben erweckt wurden. 2.300 | |
Rentiere und ein Mensch starben, eine Epidemie konnte damals nur verhindert | |
werden, weil die dünn besiedelte Region schnell abgeriegelt wurde und es so | |
gelang, den Übertragungsweg zu kappen. | |
## … und Viren | |
Mit dem Auftauen setzt der Permafrost weitere Erreger frei: [4][Belgische | |
Biologen fanden 2017 zwei Viren] in 700 Jahre altem Rentierkot, die sie im | |
Labor wiederbeleben konnten. Zwar handelte es sich um Erreger, die Pflanzen | |
und Insekten befallen, doch „bemerkenswerterweise waren diese Viren auch | |
nach 700 Jahren im Eis noch intakt und infektiös“, schrieben die Autoren. | |
2014 gruben französische Forscher sogar ein [5][Riesenvirus] aus, das zuvor | |
30.000 Jahre im Eis überdauert hatte. Pithovirus sibericum ist mit seinen | |
0,0015 Millimetern in etwa so groß wie ein Bakterium und gehört zu einer | |
bis dato unbekannten Familie. 2015 fanden die Wissenschaftler im Permafrost | |
das [6][Sibirische Weichvirus] Mollivirus sibericum: Auch dieser Erreger | |
war rund 30.000 Jahre alt und konnte im Labor wieder zum Leben erweckt | |
werden. Zwar glauben die Forscher, dass Riesenviren für den Menschen | |
ungefährlich sind. Besser ist aber offensichtlich, der Permafrost würde | |
solche Geheimnisse genauso verborgen halten wie die Treibhausgase. | |
28 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Klimawandel-in-der-Arktis/!5699910/ | |
[2] https://atmosphere.copernicus.eu/another-active-year-arctic-wildfires | |
[3] https://www.worldweatherattribution.org/siberian-heatwave-of-2020-almost-im… | |
[4] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/eva.12538 | |
[5] https://www.pnas.org/content/111/11/4274 | |
[6] https://www.pnas.org/content/112/38/E5327 | |
## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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