| # taz.de -- Bidens Reise nach Europa: Am kürzeren Hebel | |
| > Die Europäer sind Juniorpartner im transatlantischen Bündnis. Bidens | |
| > Amtszeit ist eine Chance für Europa, die strategische Autonomie zu | |
| > stärken. | |
| Bild: US Präsident Joe Biden bei seiner Ankunft in Cornwall am Mittwoch | |
| Kein Zweifel: der [1][Machtwechsel von Donald Trump zu Joseph Biden] hat | |
| das Verhältnis zwischen den USA und den EU-Staaten deutlich entspannt. Die | |
| wiederholt gestellte Frage, ob die Nato eine zweite Präsidentschaft Trumps | |
| wohl überstanden hätte, muss darum offen bleiben – auch, weil in den USA | |
| der Konflikt zwischen denen, die der Parole [2][„America first“] anhängen, | |
| und jenen, die ihre Verbündeten als einen unverzichtbaren Verstärker der | |
| amerikanischen Macht ansehen und deshalb einen freundlichen Umgangston mit | |
| ihnen pflegen, nicht endgültig entschieden ist. | |
| Schließlich ist nicht ausgeschlossen, dass ein Republikaner Trump’scher | |
| Prägung die nächste US-Präsidentschaftswahl gewinnt. An der | |
| Grundkonstellation im amerikanisch-europäischen Verhältnis hat sich durch | |
| die Wahl Bidens ohnehin nichts geändert: Über die Qualität der Beziehungen | |
| wird wesentlich in Washington und nicht in Brüssel, Paris oder Berlin | |
| entschieden. Dabei spielt die „Chemie“ zwischen den Politikern auf beiden | |
| Seiten sicherlich eine gewisse Rolle. | |
| Angesichts der zentralen Relevanz geopolitischer Festlegungen sollte man | |
| sie aber auch nicht überschätzen. Gegenseitiges Vertrauen kann viel | |
| erleichtern; interessenbasierte Ausgangsvoraussetzungen verändern kann es | |
| nicht. Aus US-Sicht betrachtet lief die Vorgeschichte des Zweiten | |
| Weltkriegs auf ein Scheitern des Isolationismus als Direktive der | |
| amerikanischen Politik hinaus. | |
| Die sicherheitspolitische Doktrin der USA nach 1945 sah in der Konsequenz | |
| die Kontrolle der jeweiligen Gegenküsten vor: die Europas vom nördlichen | |
| Norwegen bis Gibraltar und unter Einschluss des Mittelmeers sowie die | |
| Ostasiens nach dem Sieg Maos wesentlich über die vorgelagerten Inseln von | |
| Japan über Taiwan und die Philippinen bis nach Indonesien und Australien | |
| mit einigen Festlandsankern, wie Korea und (bis in die der 1970er Jahre) | |
| Vietnam – notfalls auch unter Einsatz von Mitteln, die mit einem | |
| demokratischen Selbstverständnis nicht zu vereinbaren waren. | |
| Das amerikanische Interesse an Westeuropa war eine verlässliche Garantie | |
| der US-Sicherheitszusagen, die nuklearen Schutzschirme eingeschlossen. Das | |
| wurde noch flankiert durch die Abhängigkeit einer US-dominierten | |
| Weltwirtschaft von Erdöllieferungen aus dem Nahen Osten, dessen | |
| politisch-militärische Kontrolle ohne die westeuropäische „Rückendeckung“ | |
| nicht möglich war. | |
| ## Der Blick der USA richtet sich nach Westen | |
| Das hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend verändert: | |
| erstens, weil die USA nicht mehr Russland, sondern [3][China als den | |
| größten Herausforderer] ihrer globalen Position ansehen, was sich unter | |
| anderem in ihrer überaus zurückhaltenden Reaktion auf die russische | |
| Annexion der Krim und den hybriden Krieg zeigt, den Putin in der Ostukraine | |
| am Schwelen hält. | |
| Zweitens, weil die USA durch das [4][Fracking-Verfahren] zu einem Exporteur | |
| von Erdöl und Erdgas geworden sind, womit der Nahe Osten für sie deutlich | |
| an Bedeutung verloren hat. Das hat sich in ihrer Reaktion auf den syrischen | |
| Bürgerkrieg gezeigt: Es ging ihnen wesentlich um die Zerschlagung des IS; | |
| dass sie damit [5][Baschar al-Assad] und [6][Wladimir Putin] zum Sieg | |
| verhalfen, haben sie dabei in Kauf genommen. | |
| Und schließlich hat, drittens, mit Obamas geostrategischer Hinwendung zum | |
| [7][„Asian pivot“] der Nordatlantik als Verbindungsraum zwischen den USA | |
| und Europa erheblich an Bedeutung verloren. Der US-Blick ist nicht mehr | |
| nach Osten, sondern nach Westen gerichtet. | |
| Dagegen steht die unter der Biden-Administration wieder in den Vordergrund | |
| gerückte Vorstellung, dass die globale Machtstellung der USA und ihre | |
| Position in der Weltwirtschaft von zuverlässigen Verbündeten abhängt, und | |
| das ist ein Argument, das für die Europäer spricht. Aber es ist auch klar, | |
| dass mit den veränderten geopolitischen Konstellationen das Adjektiv | |
| „zuverlässig“ erheblich an Gewicht gewonnen hat: | |
| Was die Europäer für die USA wert sind, hängt von ihrer Zuverlässigkeit ab. | |
| Die Zuverlässigkeit der USA gegenüber den Europäern hat hingegen geringeres | |
| Gewicht, auch wenn das unter Biden wieder anders kommuniziert wird als | |
| unter Trump. Es ist eine strukturell asymmetrische Beziehung, die Europa | |
| mit den USA verbindet. Die Europäer sitzen am kürzeren Hebel, wenn sie denn | |
| überhaupt einen Hebel haben. | |
| Das ist auch der Grund, warum die Vorstellung falsch ist, mit der Abwahl | |
| von Trump sei alles wieder so wie früher. Das ist es keineswegs, und das | |
| wiederum hat Folgen für eine europäische, auch eine deutsche | |
| Sicherheitspolitik. Die geopolitischen (und geoökonomischen) Veränderungen | |
| haben die europäische Position geschwächt. | |
| ## Biden ist für Europäer ein Zugewinn, keine Rettung | |
| Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: die eine läuft auf eine | |
| erhebliche Nachgiebigkeit gegenüber amerikanischen Erwartungen und | |
| Forderungen hinaus, was heißt, die Rolle des Juniorpartners im Bündnis, der | |
| die Europäer nun einmal sind, wird als eine der Folgebereitschaft | |
| verstanden. Die andere Konsequenz lautet, dass die Europäer die Amtszeit | |
| von Biden als Chance nutzen müssen, um an ihrer strategischen Autonomie zu | |
| arbeiten und die sicherheitspolitischen Abhängigkeiten zu verringern. | |
| Das wird auf eine verstärkte Kooperation zwischen Frankreich und | |
| Deutschland unter Einbezug von Italien und Spanien hinauslaufen. Ob Polen | |
| dabei als weitere Macht, sozusagen als Vertreter Mittelosteuropas, ins | |
| Spiel kommt, wird von der Politik Warschaus abhängen, letzten Endes von der | |
| Frage, ob die Polen wesentlich auf die amerikanische oder auf die | |
| europäische Karte setzen. | |
| Politisch klug wäre es für die Europäer sicherlich, die beiden | |
| Konsequenzen, eine gewisse Folgebereitschaft und Entwicklung strategischer | |
| Autonomie, nicht als sich ausschließende Alternativen zu begreifen, sondern | |
| zweigleisig zu fahren, um so perspektivisch die eigenen politischen | |
| Optionen zu vergrößern. Das aber heißt: Biden ist für die Europäer nicht | |
| die Rettung, sondern ein Zeitgewinn, der, wenn die Europäer ihn nutzen, | |
| beiden zugutekommen kann: ihnen selbst, aber auch den USA. | |
| 10 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Machtwechsel-in-Washington/!5743805 | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=dIaoZqMrbCo | |
| [3] /US-Umgang-mit-China/!5759444 | |
| [4] /Umweltdesaster-in-USA/!5702587 | |
| [5] /Baschar-al-Assad/!t5010795 | |
| [6] /Wladimir-Putin/!t5008686 | |
| [7] /Kommentar-Obamas-Asien-Politik/!5304722 | |
| ## AUTOREN | |
| Herfried Münkler | |
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