# taz.de -- Berlinale würdigt Isabelle Huppert: Die Undurchschaubare | |
> Schauspielerin Isabelle Huppert erhält bei der Berlinale den Ehrenbären | |
> für ihr Lebenswerk. Sie hat das introvertierte Spiel zu ihrer Marke | |
> gemacht. | |
Bild: Eine ganz besondere Kunst: Isabelle Huppert in „Die Klavierspielerin“ | |
Dass sie einmal in ihrem Beruf das werden würde, was man eine unbestrittene | |
Autorität nennt, war am Anfang nicht abzusehen. Ihre Figur in „Die | |
Spitzenklöpplerin“ von 1977, die Rolle, die sie erstmals außerhalb | |
Frankreichs berühmt machte – mit Preisen von Großbritannien bis Italien –, | |
verkörpert den Inbegriff einer schüchternen, verletzlichen, jungen Frau, so | |
zart, dass sie daran zerbricht, als ihr Studentenfreund mit ihr Schluss | |
macht, weil er denkt, sie sei ihm intellektuell nicht gewachsen. | |
Eines aber hatte diese Figur bereits gemein mit dem, was über die Länge | |
ihrer nun schon 50-jährigen Karriere eine typische Huppert-Rolle werden | |
sollte: die Undurchschaubarkeit. Man muss das genauer erklären: Die junge | |
Frau in „Spitzenklöpplerin“ glaubte ihre Gefühle verbergen zu müssen, und | |
diesen Akt der Zurückhaltung aus Unsicherheit, dieses doppelte Spiel aus | |
aufgesetzt kühler, distanzierter Fassade und reichem, stürmischen, | |
widersprüchlichem Innenleben – das darzustellen und für den Kinozuschauer | |
sichtbar zu machen, war von Anfang an die Stärke Isabelle Hupperts. So | |
sehr, dass es doch wieder fast zum Klischee wurde. | |
Die Rückschau auf ihre ersten Rollen lohnt bei einer zur Autorität, ja | |
quasi zur Institution aufgestiegenen Schauspielerin wie Isabelle Huppert | |
aber nicht nur, weil sich der Beginn einer Entwicklung entdecken lässt, | |
sondern auch um der Falle des Totlobens zu entkommen. Denn wie sonst | |
vielleicht nur noch Meryl Streep (mit der Huppert auch die | |
strukturell-biografische Ähnlichkeit einer unglamourös stabilen Ehe und | |
Familie mit in die eigenen Fußstapfen tretenden Kindern teilt) kann „La | |
Huppert“ auf einen selten konstanten, mit Preisen und höchster Anerkennung | |
gepflasterten Karriereweg zurückblicken, der nur wenig beeinträchtigt wurde | |
von dem, was Frauenkarrieren sonst so plagt. | |
Dass das Kino keine gewichtigen Rollen mehr für Frauen über 40 hätte – | |
Hupperts Filmografie liest sich wie der Gegenbeweis dieser doch wahren | |
These. Andersherum war aber auch schon mal die – stets anonym bleiben | |
wollende! – Klage zu hören, dass sie nicht in jedem Film spielen solle, in | |
dem es die Figur der komplizierten, „alterslosen“ Frau gibt. | |
Aber wie gesagt, am Anfang ihrer Karriere stand das Gegenteil, da musste | |
sie darum kämpfen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Exemplarisch dafür | |
steht die Geschichte, die Peter Biskind in seinem Buch über die Entstehung | |
des [1][Michael-Cimino-Films „Heaven's Gate“ (1980)] berichtete, einem der | |
berühmtesten Flops der Filmgeschichte. Weshalb die Urteile der Produzenten | |
zu Huppert im Nachhinein vielleicht gar nicht so erstaunlich wirken. | |
## Mädchen ohne Glamour | |
Verglich nicht jemand ihre Ausstrahlung mit der eines „Schluck Wassers“ | |
oder dachte, er hätte es mit einer Zwölfjährigen zu tun? Sogar ihre | |
Sommersprossen hätten blass gewirkt, heißt es. Das winzige, unscheinbare | |
Mädchen ohne Glamour oder sexuelle Ausstrahlung bekam den Part allein wegen | |
der Hartnäckigkeit des Regisseurs. Der Film fiel auf epische Weise durch | |
und ruinierte ein ganzes Studio – nur um danach in den Rang des Kultfilms | |
und schließlich doch noch des Kinomeisterwerks aufzusteigen. | |
Huppert spielt in „Heaven’s Gate“ die Prostituierte Ella Watson, eine | |
Außenseiterin unter Außenseitern, auf die Menschenjagd gemacht wird. Sie | |
verkörpert auf europäisch komplizierte Weise dabei genau die Fremdheit, die | |
auf das US-amerikanische Pionierumfeld so provokativ wirkt: ein | |
eigenartiges Zusammenspiel von Zurückhaltung und Freizügigkeit, | |
Intellektualität und Einfachheit, im Sinnlichen wie auch im Denken. | |
Und das alles ohne viele Worte oder die huldvolle Herablassung einer Diva, | |
die andere dadurch beglücken kann, sich ihre Koffer tragen zu lassen. | |
Kurzum: Sie erwies sich als zu schwierig für Amerika, wo sie bis zum | |
Triumph der Oscar-Nominierung für [2][Paul Verhoevens „Elle“] 2017 nur noch | |
einmal, in Hal Hartleys „Amateur“ (1994) einen kleinen Erfolg hatte, als | |
Ex-Nonne, die erfahrungshungrig im Café sitzt und Pornoromane in ihr Laptop | |
tippt. Eine Rolle, die im Übrigen eigens für sie geschrieben wurde, was vor | |
allem ein Licht darauf wirft, welche Fantasien sie auszulösen imstande ist. | |
## Stilles, tiefes Wasser | |
Die komplizierte Frau ist durch die Jahrzehnte hindurch Hupperts | |
Spezialität geblieben. Wobei sie vermeintliche Unscheinbarkeit und | |
Komplexität auf immer neue Weise interessant zusammenbringt. Nur selten | |
wurde sie als direktes Sexsymbol oder alles überstrahlende Schönheit in | |
Szene gesetzt; umso einprägsamer wirkt es, wenn ihre Figuren gleichsam | |
unauffällig beginnen. Allzu leicht kippt ein Gesicht wie das ihre in das | |
eine oder andere Extrem ab: Zu viel Schminke macht aus ihr einen Clown, zu | |
wenig bringt sie zum Verschwinden. | |
So standen am Anfang die Rollen als das klassische stille, tiefe Wasser wie | |
in „Die Spitzenklöpplerin“; in „Violette Noziere“, wofür sie 1978 den | |
Darstellerpreis in Cannes erhielt, durfte sie schon handgreiflicher und | |
kälter werden. In „Loulou“ aus dem Jahr 1980 sieht man sie noch mit | |
mädchenhaft rundem Gesicht, das unter einem zeitgemäßen Pony sich fast | |
schamhaft verbirgt und gleichzeitig trotzig der Festlegung entzieht. | |
Ernsthaftigkeit und Leichtsinn treiben miteinander Versteckspiel, und nach | |
außen tritt ein Ausdruck von Bewegungs- und Gefühllosigkeit, der gleichsam | |
durchsichtig ein intensives Inneres im Zaum hält. | |
Dieses introvertierte Spiel ist wie gesagt zu ihrer Marke geworden. Mit | |
allerdings immer neuen Facetten: In Raúl Ruiz’ „Comédie de l’innocence�… | |
(2000) spielt sie eine Mutter, die sich von ihrem eigenen neunjährigen Sohn | |
darüber in Verwirrung bringen lässt, ob sie seine wirkliche Mutter ist. | |
Zwar klärt sich am Ende alles auf, doch verrät die Bereitschaft, sich wider | |
besseres Wissens irritieren zu lassen, eine grundsätzliche Weltfremdheit, | |
die vielen ihrer Figuren eigen ist. | |
## Wenn sie lacht | |
An was es in ihrer Filmografie mangelt, sind Rollen, in denen man sie | |
glücklich sieht, wobei ein Lachen ihr Gesicht plötzlich völlig verändern | |
kann. Genau das machte ihre Darstellung der Jeanne in Claude Chabrols | |
„Biester“ (1995) – einer ihrer meistprämierten Auftritte – auf besonde… | |
Weise irritierend, weil sie da im Hass, in der Bösartigkeit so gelöst und | |
glücklich erscheint wie sonst eben nur sehr selten. | |
Diese Fähigkeit, die eigentümliche emotionale Gleichgültigkeit eines Täters | |
beziehungsweise einer Täterin zu ihrer Tat auszuleuchten, hinter der sich | |
ein ganz anderer Konflikt verbirgt, macht auch ihre Figur in Michael | |
Hanekes „Die Klavierspielerin“ so fesselnd. Man will sich mit dieser Frau, | |
die Glassplitter auslegt, um die Karriere einer talentierten Schülerin zu | |
zerstören, gar nicht identifizieren, man möchte kein Mitleid mit ihr, keine | |
Empathie für sie empfinden, aber Huppert gelingt es, sie einem auch ohne | |
das nahezubringen. Genau das, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auch | |
jenseits von Sympathien wachzuhalten, ist eine ganz besondere Kunst. | |
Der große Erfolg, den sie mit der „Klavierspielerin“ feierte, führte dazu, | |
dass sie in den letzten 20 Jahren zunehmend auf das Krisenmodell weiblicher | |
Sinnlichkeit festgelegt wurde, auf die in die Jahre gekommene Frau und ihre | |
Schwierigkeit, Sexualität auszuleben. In [3][Mia Hansen-Løves „L’aveni]r�… | |
immerhin wird sie als alternde Professorin auch intellektuell ernst | |
genommen. Aber ihre Figur in Paul Verhoevens „Elle“ erregte genau deshalb | |
so viel Aufsehen, weil sie ein Ausbruch daraus war: Selten hat man eine | |
Frauenfigur im Kino die Opferrolle derartig konsequent zurückweisen sehen | |
wie hier Michèle. | |
## Souverän und unverletzlich | |
Ihre Chefinnenrolle – sie leitet ein Computerspielunternehmen, das genau | |
das verkauft, was ihr widerfahren ist: sexualisierte Gewalt – trägt dazu | |
bei. Michèle behandelt alle von oben herab, dabei ist sie meist die | |
kleinste Person im Raum. So souverän und unverletzlich wirkt diese Frau, | |
dass man als Zuschauer die Vergewaltigung vom Anfang fast vergisst – oder, | |
noch irritierender, dass man bereit ist, sie anders zu interpretieren. | |
So etwas kann eigentlich nur ihr gelingen, der kleinen, großen, jung | |
gebliebenen, altersweisen Huppert, die eben alles spielen kann. Es sollte | |
nur mehr Rollen geben! | |
11 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Zum-Tod-von-Regisseur-Michael-Cimino/!5315456 | |
[2] /Spielfilm-Elle-von-Paul-Verhoeven/!5384791 | |
[3] /Mia-Hansen-Lves-Alles-was-kommt/!5331888 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Kino | |
Stars | |
Geschlechterrollen | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Neuer Deutscher Film | |
Spielfilm | |
Isabelle Huppert | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sexismus in der Filmbranche: „Sie infiltrieren das Bewusstsein“ | |
Regisseurin Nina Menkes erforscht systematischen Sexismus in der | |
Filmindustrie. Ihr Film „Brainwashed: Sex-Camera-Power“ läuft auf der | |
Berlinale. | |
Film „Alle reden übers Wetter“: Ein böser Mensch | |
In ihrem Spielfilmdebüt vermisst Annika Pinske die innerdeutsche Grenze am | |
Beispiel der Hochschule. Der Film läuft im Panorama der Berlinale. | |
Komödie mit Isabelle Huppert im Kino: Die Alte mit den Drogen | |
Die Komödie „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ zeigt Isabelle Huppert | |
als erfolgreiche Gelegenheitsdealerin. Den Rollentausch kann sie gut. | |
Spielfilm „Elle“ von Paul Verhoeven: Lob der komplizierten Frau | |
Zwischen Thriller, Horrorfilm und Farce: In „Elle“ spielt Isabelle Huppert | |
eine unberechenbare Frau. Sie ist dabei eine Offenbarung. | |
Porträt Isabelle Huppert: Jurypräsidentin mit Ausdruckskraft | |
Berühmt wurde Isabelle Huppert mit komplexen Frauendarstellungen. Im Mai | |
kann man die Schauspielerin in einer neuen Rolle bewundern: In Cannes wird | |
sie der Jury der Filmfestspiele vorsitzen. |