# taz.de -- Berichterstattung über Erdbeben: Das eigene Versagen vertuschen | |
> In der Türkei beginnt die Deutung des Umgangs mit der Katastrophe. Die | |
> Regierung geht gegen KritikerInnen vor und sperrt kurzzeitig sogar | |
> Twitter. | |
Bild: Bilder, die dem türkischen Präsidenten schmeicheln. Hier in Kahramanmar… | |
Wer in der Türkei die Entwicklung im [1][Erdbebengebiet] über den | |
staatlichen TV-Sender TRT oder einen der vielen regierungsnahen | |
Fernsehsender verfolgt, muss den Eindruck haben, Gott habe zwar eine | |
schlimme Prüfung geschickt, doch der Präsident tue alles, um die Folgen | |
dieser Prüfung abzumildern. Permanent laufen Bilder von geretteten Menschen | |
über die Mattscheibe, am liebsten sind den ReporterInnen im | |
Katastrophengebiet gerettete Babys und kleine Kinder – gerade in den | |
letzten Tagen, mittlerweile über 130 Stunden nach dem Beben, ist vor allem | |
von wundersamen, geradezu von Allah gelenkten Rettungen die Rede. | |
Auch wer sich zu Beginn des Bebens gerade noch selbst aus seinem Haus | |
retten konnte, wird in den staatsnahen Medien warmherzig von der türkischen | |
Katastrophenschutzbehörde Afad empfangen. Es gibt Zelte und warmes Essen, | |
manchmal sogar noch ein Geschenk für die Kinder. Gott ist groß und [2][der | |
Präsident kümmert sich], so sieht Recep Tayyip Erdoğan das Bild nach der | |
Katastrophe am liebsten. Und rund 95 Prozent aller Fernsehanstalten in der | |
Türkei liefern ihm dieses Bild auch. | |
Wer an dieser Propaganda kratzt, bekommt es mit Polizei und Staatsanwalt zu | |
tun. Erdoğan hat bereits zwei Tage nach dem Beben den Ausnahmezustand für | |
alle zehn betroffenen Provinzen verhängt und außerdem gibt es seit November | |
des letzten Jahres das sogenannte [3][Gesetz gegen Desinformation]. Auf | |
Grundlage dieses Gesetzes können „Unruhestifter“, also alle, die der | |
offiziellen Propaganda widersprechen, verhaftet und bis zu drei Jahre ins | |
Gefängnis gesteckt werden. Von diesen Möglichkeiten hat die Regierung | |
Erdoğans in den letzten Tagen reichlich gebrauch gemacht. | |
Zuerst einmal wurde am vergangenen Mittwoch, also am dritten Tag nach dem | |
Beben, als endlich die ersten Bergungstrupps mit ihrer Arbeit begannen, | |
Twitter abgeschaltet. Betroffene in der Katastrophenregion waren darüber | |
besonders erbittert, weil über Twitter zu diesem Zeitpunkt noch Kontakt zu | |
Eingeschlossenen bestand und Hilfsmaßnahmen koordiniert wurden. | |
„Ist ein über Twitter versandter Standort einer Eingeschlossenen | |
Desinformation?“, beklagte sich einer der Betroffenen gegenüber einer | |
ausländischen Nachrichtenagentur. Die Proteste über die Twitter-Schließung | |
waren so heftig, dass die Regierung in der Nacht von Mittwoch auf | |
Donnerstag Twitter wieder zuließ. | |
## Medien rechnen mit Festnahmen | |
Dafür hielt man sich dann an die missliebigen Twitter-User. Bis zum | |
Wochenende wurden rund 40 Menschen festgenommen, denen ein Verstoß gegen | |
das Desinformationsgesetz vorgeworfen wird. Darunter auch völlig | |
unpolitische Menschen, die nur den Ernst der Lage vor Ort beklagten. Auch | |
die wenigen noch existierenden Oppositionsmedien wie die beiden Zeitungen | |
Cumhuriyet und Birgün müssen damit rechnen, dass entweder ihre | |
ReporterInnen vor Ort festgenommen werden oder die Polizei in ihren | |
Redaktionsräumen in Istanbul auftaucht. | |
Das Gleiche gilt für das oppositionelle Internetportal Diken. Sowohl Diken | |
wie auch Birgün hatten am Wochenende berichtet, dass insbesondere in der am | |
stärksten vom Beben betroffenen Region Hatay viele Menschen mittlerweile | |
wegen fehlender Hilfe und grenzenloser Trauer so wütend und frustriert | |
sind, dass sie aufeinander losgehen, syrische Flüchtlinge beschuldigen, | |
ihnen die wenigen Lebensmittel, die in die Region kommen, streitig zu | |
machen und dass wohl auch Plünderer unterwegs seien. | |
Als Reaktion darauf habe die „Jandarma“, wahllos auf Menschen | |
eingeschlagen, die sie für Plünderer hielt. Statt die Armee in großem Stil | |
für Rettungsmaßnahmen einzusetzen, patrouillieren laut Birgün nun | |
schwerbewaffnete Soldaten durch die zerstörten Straßen in der Provinz | |
Hatay. | |
## Zu viele Menschen warteten vergeblich auf die Rettung | |
Doch so sehr die Regierung ihr geschöntes Bild der Lage durchzusetzen | |
versucht, die Versäumnisse im Anschluss an das Beben und auch die | |
[4][Versäumnisse bei der Kontrolle von Bautätigkeiten] zuvor sind einfach | |
zu groß, um sie unter der Decke halten zu können. Zu viele Menschen haben | |
vergeblich auf Rettung gewartet, zu viele Obdachlose sitzen auch eine Woche | |
nach dem Beben noch ohne jede Notunterkunft in der Kälte, als dass man dem | |
Land erzählen könnte, alles laufe problemlos. | |
Auch die jetzt begonnene öffentliche Jagd auf kriminelle Bauunternehmer, | |
wird daran nichts ändern. Am Wochenende filmte das Staatsfernsehen | |
propagandistisch perfekt am Flughafen Istanbul die Festnahme eines | |
Bauunternehmers, der für ein kürzlich fertiggestelltes Luxushochhaus in der | |
zerstörten Stadt Antakya verantwortlich ist, das komplett umstürzte, obwohl | |
es angeblich erdbebensicher gebaut war. | |
Doch auch so wird sich die staatliche Verantwortung für die mangelnde | |
Kontrolle, die den Pfusch am Bau erst möglich gemacht hat, in der | |
Öffentlichkeit kaum noch verwischen lassen. Trotz der öffentlichen | |
Propaganda ist die Mehrheit der Menschen in der Türkei davon überzeugt, | |
[5][dass der AKP-Staat versagt hat]. | |
13 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Wolf Wittenfeld | |
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