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# taz.de -- Nach dem Erdbeben in der Türkei: Gemeingefährliche Gebäude-Amnes…
> Die türkische Regierungspartei AKP legalisierte Häuser, die ohne
> Genehmigung gebaut wurden. Auch die Warnungen von Ingenieuren wurden
> wohl ignoriert.
Bild: Ein ganzes Haus, einfach umgekippt: Straßenbild in Golbasi, Türkei, am …
Berlin taz | Eine Amnestie für Gebäude ohne Genehmigungen hat wohl zu den
mittlerweile fast 32.000 Toten infolge des Erdbebens in der Südosttürkei
beigetragen. Im ebenfalls betroffenen Nordwesten Syriens starben über 3.500
Menschen.
294.000 Gebäude im türkischen Teil des Erdbebengebiets, die zuvor ohne
Genehmigung gebaut wurden, wurden im Rahmen einer Amnestie der regierenden
Partei AKP anerkannt – allein im Jahr 2018. Dies war damals die neunte
Amnestie, die die AKP in ihrer 20-jährigen Regierungszeit durchführte.
Gegen eine Geldsumme wurden dabei auch mangelhaft gebaute Gebäude für
bewohnbar erklärt. Wenn es das Erdbeben nicht gegeben hätte, würde jetzt
wohl eine zehnte Amnestie im Parlament diskutiert werden.
Die Sprecherin der türkischen Arbeiterpartei, Sera Kadıgil, klang müde und
wütend, als sie am Samstag auf einem Youtube-Kanal sagte: „Sie haben den
Menschen Gräber gebaut und sie lebendig begraben.“
## Die Verwerfungslinien waren der Politik bekannt
Dass etwa unter der [1][schwer getroffenen Stadt Kahramanmaraş] tödliche
Verwerfungslinien verlaufen, war bekannt. Vor zwei Jahren erstellte die
Kammer der Geologie-Ingenieure der Union der Türkischen Ingenieur- und
Architektenkammer einen detaillierten Bericht über die Gefahr unter
Kahramanmaraş. Der Bericht wurde an Mitglieder des Parlaments, Ministerien
und Präsident Recep Tayyip Erdoğan geschickt.
„Niemand antwortete“, sagte Hüseyin Alan, der Leiter der Kammer, einen Tag
nach dem Erdbeben der türkischen Tageszeitung Evrensel Daily. Als die
Kammer versuchte, dem AKP-Bürgermeister von Kahramanmaraş, Hayrettin
Güngör, zu erklären, dass die Verwerfungslinien in den Bauplänen der Stadt
berücksichtigt werden müssten, soll der Bürgermeister geantwortet haben,
dass er „nicht an diese Pläne glaube“.
Die Amnestie ist keine Erfindung des AKP-Regimes, sondern ist bereits seit
den 1960er Jahren Teil der Wahlversprechen verschiedener Parteien.
Doch nach dem letzten großen [2][Erdbeben von Marmara im Jahr 1999], bei
dem 18.000 Menschen starben, gab es den Wunsch nach Veränderung. Im Jahr
darauf wurde ein neues Gesetz erlassen, das die Inspektion von Gebäuden
vorschreibt. Im Jahr 2012, ein Jahr nach [3][dem Erdbeben in Van], bei dem
über 600 Menschen starben, wurde ein ambitioniertes Gesetz verabschiedet.
In der Theorie zielte es darauf ab, alle Gebäude, die nicht erdbebensicher
waren, zu beseitigen und neue zu bauen. Das Ministerium für Umwelt und
Städtebau legte dafür verschiedene Zonen fest, und die Gemeinden erteilten
Genehmigungen an Bauunternehmer.
## Gewinne über Menschenleben
Doch nahmen sich die Unternehmer nicht immer der gefährdeten Gebäude an,
sondern wohl solcher, bei denen sich durch die Baumaßnahmen gute Gewinne
erzielen ließen. Die Amnestien lösten dann das Problem der gefährdeten
Gebäude.
Der Stadtteil Kadiköy an der Südküste Istanbuls ist ein gutes Beispiel
dafür, wie das Gesetz missbraucht wurde. Es ist ein wohlhabendes Gebiet mit
wertvollen Grundstücken, die meisten Gebäude wurden in den 70er und 80er
Jahren während des letzten Baubooms errichtet. Obwohl eine Verwerfungslinie
unter dem Marmara-Meer verläuft, waren andere Stadtteile Istanbuls
wesentlich bedrohter. Aufgrund der hohen Grundstückswerte waren Kadiköy für
Bauunternehmer aber sehr attraktiv.
Das Prinzip: Ein Bauunternehmer reißt ein Gebäude ab und baut ein höheres,
mit mehr Etagen, und verkauft dann diese Wohnungen. Der Gewinn ist sicher.
Die Gebäude sollen jetzt erdbebensicherer sein. Zumindest hoffen das die
Bewohner.
Das jüngste Erdbeben hat gezeigt, dass auch viele Gebäude, die in den
letzten Jahren gebaut wurden, in sich zusammengefallen sind. Dazu könnte
beigetragen haben, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Gebäudeinspektionen
privaten Firmen überlassen wurden. Das Gesetz, das die Inspektionen
vorschreibt, wurde erst 2019 so verändert, dass diese Aufgabe nun Privaten
zufällt. Es besteht der Verdacht, dass auch hier Profit über Sicherheit
stand.
## Mehr als zwei Drittel der Türkei liegen auf Erdbebengebiet
Der Journalist Bahadır Özgür hat sich die Aktivitäten von Immobilienfirmen
in der Provinz Hatay genau angesehen. Öz Burak Construction ist eines der
Unternehmen, die er unter die Lupe nahm. Das Motto: „Wir kombinieren die
beste Technologie mit dem besten Material und bauen Häuser, in denen man
alt werden kann.“
Mindestens zehn Gebäude des Unternehmens liegen – in der Region mit der
höchsten Zahl an Todesopfern innerhalb der Türkei – in Trümmern. Sie wurden
alle nach 2010 gebaut. In einem Interview rühmt sich der
Selfmade-Unternehmer stolz: „Ich habe einen Grundschulabschluss. Ich habe
mehr als 1.500 Gebäude gebaut.“
Mehr als zwei Drittel der [4][Türkei liegen auf Erdbebengebiet]. Nach
Angaben des türkischen Umweltministeriums waren 6,7 Millionen der fast 20
Millionen Gebäude gefährdet.
Aus Angst vor starken Reaktionen macht die AKP nun Jagd auf die
Bauunternehmer, die die bei dem Erdbeben eingestürzten Gebäude errichtet
haben. Vizepräsident Fuat Oktay gab am Sonntag bekannt, dass „Haftbefehle
gegen 131 Verdächtige erlassen wurden, die für die zerstörten Gebäude
verantwortlich sein sollen“. Bilder von Geschäftsleuten, die beim Versuch,
ins Ausland zu fliehen, an der Grenze erwischt werden, sollen die
Bevölkerung beruhigen.
## Vor Erdoğans Gesetz sind nicht alle gleich
Dennoch sind in Erdoğans AKP vor dem Gesetz nicht alle gleich. Der
Vorsitzende des AKP-Bezirks Dulkadiroğlu in der Provinz Kahramanmaraş,
Şahin Avşaroğlu, ist der Eigentümer einer Firma, die ein massives Gebäude
gebaut hat, das zusammengestürzt ist. Bislang wurden keine rechtlichen
Schritte gegen ihn eingeleitet.
Präsident Erdoğan, der nach dem Marmara-Erdbeben 1999 zu den Ersten
gehörte, die den Bauunternehmern und der Regierung die Schuld gaben, hat
dieses Mal eine andere Ansicht: „Auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes kann
man nicht vorbereitet sein.“ Und wenn er eines versprechen könne, dann
dies: „Wir werden innerhalb eines Jahres alles wieder aufbauen.“
15 Feb 2023
## LINKS
[1] https://www.aljazeera.com/news/2023/2/13/in-turkey-kahramanmaras-the-stench…
[2] /Politik-Profit-und-Kartenhaeuser/!1274861/
[3] /Kurdenkonflikt-in-der-Tuerkei/!5109137
[4] /Nach-dem-Erdbeben-in-der-Tuerkei/!5912472
## AUTOREN
Ali Çelikkan
## TAGS
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