| # taz.de -- Nach dem Erdbeben in der Türkei: Tagelang alleingelassen | |
| > Das Erdbeben bringt den türkischen Präsidenten Erdoğan zunehmend in | |
| > Bedrängnis. Auch innerhalb seiner Regierung wird gestritten. | |
| Bild: Instabile Verhältnisse: ein Notlager in der vom Erdbeben betroffenen Sta… | |
| Istanbul/Antakya taz | Mehr als eine Woche nach den verheerenden Erdbeben | |
| werden die Ausmaße mit jedem Tag deutlicher: Die Türkei spricht von der | |
| „schlimmsten Naturkatastrophe“ seit Gründung der Republik vor genau | |
| einhundert Jahren. Laut der Weltgesundheitsorganisation stellen die Beben | |
| sogar europaweit alle Naturereignisse des vergangenen Jahrhunderts in den | |
| Schatten. | |
| Welche Kraft die Erdbeben hatten, zeigen jetzt auch Satellitenbilder aus | |
| dem All: Nach einer Auswertung des Deutschen Zentrums für Luft- und | |
| Raumfahrt hat sich die türkische Landoberfläche um bis zu sechs Meter | |
| verschoben. Die Türkei hat sich geografisch dem Westen genähert. Welche | |
| Langzeitfolgen das für Klima und Natur haben wird, ist noch nicht absehbar. | |
| In der Küstenstadt İskenderun sollen Absenkungen der Landmasse aber schon | |
| Tage nach den Beben zu Überschwemmungen geführt haben. Viele Hügel in der | |
| Gegend sollen zudem einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt sein. | |
| Zehntausende Menschen aus den betroffenen Gebieten haben die Erdbebenregion | |
| mittlerweile verlassen. Viele sagen, dass sie nie wieder zurückwollen. | |
| Manche aus Angst vor weiteren Katastrophen, andere aus [1][Wut auf die | |
| Behörden]: „Wir wurden tagelang alleingelassen!“, schimpft ein Mann aus der | |
| Stadt Antakya in der südwestlichen Provinz Hatay. Er steht vor einem | |
| Trümmerhaufen, der bis vor wenigen Tagen noch sein Zuhause war. Unter den | |
| Massen aus Beton und Ziegelsteinen sollen sich noch Verwandte befinden. | |
| „Hatay hat uns im Stich gelassen, also lassen wir jetzt Hatay im Stich.“ | |
| Manche Bewohner fürchten, dass die Gegend bald vor allem von syrischen | |
| Migranten bevölkert wird. Teile ihres Landes an ausländische | |
| Bevölkerungsgruppen zu verlieren ist eine historisch gewachsene Grundangst | |
| der sonst gastfreundlichen Türken. | |
| Aus Istanbul sind bereits Hooligans von Fußballvereinen ins Erdbebengebiet | |
| gefahren: „Wir werden unsere Flagge hissen und den Ort retten“, verspricht | |
| ein junger Anhänger der Gruppe Çarşı dem Chef der rechtsextremen | |
| Zafer-Partei in einem Videoclip, der durch die sozialen Medien geht. | |
| Hooligans stehen in der Türkei normalerweise dem linken bis linksextremen | |
| Spektrum nahe. Die Angst um ihr Land führt offenbar zum zumindest | |
| kurzfristig zum Schulterschluss mit Rechtsnationalisten. | |
| ## Wirtschaftliche Katastrophe | |
| Neben den Folgen für Natur und Demografie werden die Ausmaße der Beben die | |
| Türkei auch wirtschaftlich stark belasten. Das Land steckt ohnehin seit | |
| Monaten in einer tiefen Krise. Viele Menschen haben kaum noch Geld, um sich | |
| eine ausgewogene Ernährung leisten zu können. Nach ersten Prognosen wird | |
| der Wiederaufbau der betroffenen Regionen mehr kosten, als das Land hat. | |
| Allein für die Provinz Kahramanmaraş wurden bisher mehr als umgerechnet 84 | |
| Milliarden US-Dollar berechnet. All das kann die Wirtschaftskrise im Land | |
| mittelfristig enorm verschlechtern und damit die Wut auf die Regierung | |
| antreiben. | |
| In Ankara tobt dagegen längst ein politisches Beben. Hinter vorgehaltenen | |
| Händen ist von einer massiven Vertrauenskrise die Rede – auch innerhalb der | |
| Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Der stand auch vor dem | |
| Beben massiv unter Druck und hatte angekündigt, dass die Wahlen im Land | |
| bereits im Mai statt wie offiziell vorgesehen im Juni stattfinden sollen. | |
| ## Verfassungswidrig, die Wahlen zu verschieben | |
| Sein Parteikollege und ehemaliger Sprecher des türkischen Parlaments, | |
| Bülent Arınç, verkündete nun eine Kehrtwende: „Weder im Mai noch im Juni | |
| kann es Wahlen geben.“ Er schlug eine Zusammenlegung mit den Kommunalwahlen | |
| im März nächsten Jahres vor. Die Opposition, Juristen und Intellektuelle | |
| schlagen seither Alarm. Der Tenor: Es sei verfassungswidrig, die Wahlen | |
| wegen des Erdbebens zu verschieben. Tatsächlich erlaubt die Verfassung | |
| einen späteren Termin nur im Kriegsfall. Bisher ist die Türkei aber nicht | |
| im Krieg. Arınç ging auf die Kritik bereits ein: „Die Verfassung ist kein | |
| heiliger Text“, schrieb er in einem Statement. | |
| Würden die Wahlen nicht verschoben, dürfte die aktuelle Regierung kaum noch | |
| eine Chance haben. Die meisten der vom Erdbeben betroffenen Regionen waren | |
| bisher zwar Hochburgen von Erdoğans Partei, der islamisch-konservativen | |
| AKP. [2][Doch die Stimmung ist bei vielen Menschen gekippt]. Sie machen den | |
| Präsidenten verantwortlich, [3][nicht in Erdbebenvorsorge investiert] und | |
| die wichtige Hilfe des Militärs oder der Bergleute zu spät genehmigt zu | |
| haben. | |
| Die Nächte im türkischen Südosten sind bitterkalt. Die meisten Menschen | |
| dort haben alles verloren. In ihre Verzweiflung mischen sich Wut und Angst: | |
| vor weiteren Beben, sozialen Unruhen und der Zukunft. Vereinzelt fürchten | |
| sie sogar, dass ihr Land bald wirklich in einen Krieg zieht. „Es gibt ein | |
| Sprichwort“, sagt der Mann am Lagerfeuer: „In der Türkei ist zu jedem | |
| Zeitpunkt alles möglich.“ | |
| 15 Feb 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marion Sendker | |
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