| # taz.de -- Bedingungsloses Grundeinkommen: „Manche gönnen sich auch nichts�… | |
| > Claudia Cornelsen hat ein Buch darüber geschrieben, was Menschen mit | |
| > tausend Euro anfangen. Sie sind vor allem eins: gelassener. | |
| Bild: Werbung für ein bedingungsloses Grundeinkommen in Berlin | |
| taz: Frau Cornelsen, Finnland hat kürzlich ein zweijähriges Pilotprojekt | |
| zum bedingungslosen Grundeinkommen beendet. Das wichtigste Ergebnis: | |
| Grundeinkommen macht nicht produktiver, [1][aber glücklicher]. Reicht das | |
| für eine hoch umstrittene Gerechtigkeitsidee aus? | |
| Claudia Cornelsen: Warum nicht? Es geht um eine angemessene Umverteilung im | |
| Sinne des Gemeinwohls, eine Selbstverständlichkeit. Wir kennen das vom | |
| Prinzip der Krankenkasse: Eine ziemlich junge Erfindung, aber niemand käme | |
| mehr auf die Idee, sie abzuschaffen. | |
| Bei der Krankenkasse zahlt man allerdings ein und bekommt dafür auch eine | |
| Leistung. | |
| Die Krankenkasse ist auch eine Art von Umverteilung, bei der die Gesunden | |
| im Verhältnis mehr zahlen als die Kranken. Eine gerechte Gesellschaft kann | |
| sich so etwas leisten. | |
| Gemeinsam mit Michael Bohmeyer, dem Erfinder von „Mein Grundeinkommen“, das | |
| Menschen in Deutschland mit jeweils 1.000 Euro Grundeinkommen im Monat | |
| ausstattet, haben Sie ein Buch über das Experiment geschrieben. Was ist | |
| herausgekommen? | |
| Ähnliches wie in Finnland: Obwohl sich im Leben der Menschen wenig | |
| verändert, geht es allen besser. Sie haben weniger Existenzangst, sie | |
| schlafen besser. Zwei chronisch Kranke haben sogar ihre Krankheiten hinter | |
| sich gelassen. | |
| Das Grundeinkommen kann Krankheiten heilen? | |
| Jedenfalls scheint es gesundheitsförderlich zu sein. Die 1.000 Euro im | |
| Monat bedingungslos zu bekommen, ermöglichte den beiden offenbar, sich | |
| wirkungsvoll um ihre Gesundheit zu kümmern. | |
| Was haben die Menschen, die durch eine Lotterie das Grundeinkommen gewonnen | |
| hatten, mit dem Geld gemacht? | |
| Sie machten, was man mit Geld machen kann: sparen, ausgeben, investieren, | |
| verschenken. Was sie nicht gemacht haben: massenhaft ihre Jobs kündigen, | |
| nach Australien auswandern, Frauen verließen nicht ihre Ehemänner. | |
| Hatten Sie das vor dem Start von „Mein Grundeinkommen“ so erwartet? | |
| Nein. Aber wir stellen allen Teilnehmenden dieselbe Frage: Was würdest du | |
| tun? Manche formulieren große Visionen: sich selbstständig machen, eine | |
| Weltreise, ein neues Leben anfangen. | |
| Da ist zum Beispiel Janek, Medienwissenschaftler, lebt im geerbten | |
| Eigenheim. Er hat die monatlichen 1.000 Euro gespart, die sein Vater in | |
| Aktien angelegt hat. Ist das der Sinn der Idee? | |
| Es fällt schwer, das anzunehmen, aber genau das bedeutet | |
| Bedingungslosigkeit. Es ist völlig okay, das Geld arbeiten zu lassen, wenn | |
| man es gerade nicht braucht. Janek hat die Freiheit, es in Aktien zu | |
| investieren – meinetwegen gern im Klimaschutz, Gesundheitswesen, in der | |
| Friedenspolitik. Aber das muss er selbst wissen. | |
| Ein anderer Fall: Corinna, Sozialarbeiterin. Sie traute sich kaum, das Geld | |
| auszugeben, so wertvoll empfand sie es. Einmal leistete sie sich | |
| 160-Euro-Schuhe, lebte aber ansonsten so sparsam weiter wie bisher. Sie | |
| brauchte das Grundeinkommen nicht. | |
| Was jemand braucht oder nicht braucht, betrachten die Menschen individuell | |
| sehr verschieden. Es gibt Menschen, die gönnen sich nichts und empfinden | |
| teure Schuhe als Luxus. Für andere sind Schuhe in dieser Preisklasse | |
| normal. | |
| Ist die ursprüngliche Idee des Grundeinkommens nicht Armutsbekämpfung? | |
| Nein. Die Ursprungsidee ist, dass jeder Mensch ein Existenzrecht hat und | |
| ihm deswegen – von der Geburt bis zum Tod – das dafür notwendige Einkommen | |
| garantiert wird. Insofern verhindert es auch Armut. Zuallererst aber ist es | |
| ein Menschenrecht. | |
| In Ihrem Buch sagen die meisten Menschen: Ich brauche das Grundeinkommen | |
| gar nicht. | |
| Alle sagten zuerst: Ich habe das nicht verdient. Immer gab es jemanden, von | |
| dem sie glaubten, er brauche die 1.000 Euro dringender als man selbst. Eine | |
| Frau mit drei prekären Jobs meinte: Ich muss doch den Armen helfen. Und | |
| selbst der Obdachlose kannte einen, dem es noch schlechter ging als ihm. | |
| Was kann schlimmer sein als Obdachlosigkeit? | |
| Niemand will bedürftig sein. Bedürftigkeit ist so stark stigmatisiert, dass | |
| viele Menschen Zuwendung nicht als Chance begreifen, sondern als | |
| Ausgrenzung. | |
| Das würde SPD-Chefin Andrea Nahles sicher unterschreiben. Ihre Partei | |
| [2][distanziert sich] mittlerweile von Hartz IV, eine Freundin des | |
| Grundeinkommens ist Nahles trotzdem nicht. Sie sagt, es sei „bezahltes | |
| Nichtstun“. | |
| Dahinter steckt der Glaube, jeder Mensch könnte sich selbst etwas | |
| verdienen. Das ist eine maßlose Selbstüberschätzung. | |
| Die meisten Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt doch selbst. | |
| Das ist eine Illusion. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, wir | |
| hätten kein Frühstück, wenn nicht jemand früh aufgestanden wäre und Brot | |
| gebacken hätte. Kurz: Wir sind wechselseitig aufeinander angewiesen, wir | |
| sind alle bedürftig. | |
| Hartz-IV-Beziehende machen bei „Mein Grundeinkommen“ eher nicht mit. Warum? | |
| Das ist die Crux: Für sie würde sich finanziell nichts ändern. Das | |
| Grundeinkommen würde mit Hartz IV, Wohngeld und Krankenkassenbeiträgen | |
| verrechnet. Aber einige machen trotzdem mit, weil die Bedingungslosigkeit | |
| attraktiv ist. Der obdachlose Gewinner zum Beispiel hat das geschenkte | |
| Zutrauen in Selbstvertrauen umgewandelt: Er hat sich vom Jobcenter | |
| abgemeldet, mit dem Trinken aufgehört und seinen Führerschein gemacht. Ein | |
| Sozialarbeitertraum. | |
| Unabhängig davon müssten sich Hartz-IV-Beziehende für das Jahr, in dem sie | |
| Grundeinkommen bekommen, vom Jobcenter abmelden und anschließend wieder | |
| anmelden. | |
| Eine bürokratische Hölle. | |
| Könnte man für Hartz-IV-Beziehende keine Lösung außerhalb des | |
| Sozialhilfesystems finden, um sie mitmachen zu lassen? | |
| Hartz IV ohne Sanktionen wäre der erste Schritt zu einem bedingungslosen | |
| Grundeinkommen. Deswegen engagiere ich mich für den [3][Verein | |
| Sanktionsfrei], der gerade eine Studie zur bedingungslosen Grundsicherung | |
| durchführt. | |
| Wie hoch muss ein bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland sein? | |
| Berechnungen gehen von etwa 1.200 bis 1.300 Euro aus. Umfragen in der | |
| Bevölkerung besagen, dass die meisten Menschen eine solche Summe angemessen | |
| fänden. | |
| Eine Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besagt, | |
| dass ein Grundeinkommen von monatlich 800 Euro eine jährliche Deckungslücke | |
| von 310 Milliarden Euro produziert. Woher sollen die kommen? | |
| Gegner*innen des Grundeinkommens tun immer so, als müsste man das Geld | |
| zusätzlich aufbringen. Dann entstehen utopische Zahlen. Oder sie addieren | |
| nur die aktuellen Sozialausgaben und verteilen sie auf 82 Millionen | |
| Deutsche. Das ist beides viel zu simpel. Es gibt ja heute schon eine | |
| gesetzlich verankerte Existenzsicherung für alle, sie nennt sich | |
| Steuerfreibetrag, der übrigens mit der Höhe des Hartz-IV-Satzes korreliert: | |
| Als im Januar der Hartz-IV-Satz um 6 Euro erhöht wurde, stieg der | |
| Freibetrag um 14 Euro. Das ist eine Art Grundeinkommen, nur nicht für alle | |
| bedingungslos. | |
| 28 Apr 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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