# taz.de -- Ballett über Oscar Wilde: Sehnsucht nach Begegnung | |
> Leben und Werk eines Ahnherren der Äußerlichkeit: „A Wilde Story“ ist d… | |
> neue Arbeit des preisgekrönten Choreografen Marco Goecke in Hannover. | |
Bild: Herrlich lang: ein Kuss zwischen Teleny (Louis Steinmetz) und Oscar Wilde… | |
HANNOVER taz | Versunken in fein austarierten Schwarz- und Grautönen ist | |
die Bühne, auf dem Prospekt im Hintergrund versteckt sich eine | |
nachtumhüllte Ruine. Selten erwärmen Lichtstrahlen das seelendunkle bis | |
todestrunkene Ambiente. Es zu beleben, sich darin behaupten zu wollen, das | |
versucht ein hypernervöser, hochvirtuoser High-Energy-Tänzer: Seine Füße | |
trippeln, die Hände flattern, die Arme zittern [1][wie bei einem flügge | |
werdenden Vogel]. Selbstverzückt vibrierend räkelt er sich empor in seiner | |
physischen Pracht. | |
Den Körper extrem angespannt, entfahren dem Mann eruptiv immer wieder die | |
kantigen Bewegungen, wie sie Choreograf Marco Goecke seinen streng | |
klassisch ausgebildeten Ballettkünstlern anzutrainieren pflegt. In diesem | |
Fall soll es sich bei dem Solisten um den Darsteller des Salonlöwen Oscar | |
Wilde handeln (Conal Francis-Martin/Maurus Gauthier), der gerade mit der | |
Energie des literarischen Schaffensdrangs – als Versteck und Heimat | |
homosexueller Leidenschaften – [2][seine Dandy-Rolle modelliert] und so dem | |
puritanisch verdrucksten Zeitalter der Königin Victoria trotzt. Dazu | |
erklingen, etwas zu leise, die Smashing Pumpkins mit ihrem optimistischen | |
„Tonight“-Song: „The impossible is possible tonight“; es folgen live aus | |
dem Orchestergraben eher spätromantische Klänge. | |
„A Wilde Story“ ist die neue Produktion des Hannoveraner Ballettchefs | |
betitelt, der gerade mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet wurde. | |
Wildes Leben und Werk zu vertanzen, scheint ungewöhnlich angesichts der | |
abgezirkelten, jeglicher Zierrat abholden Handschrift des Choreografen. | |
Steht der irische Schriftsteller doch für das Gegenteil, die | |
Ausschweifungen des Fin de Siècle, und propagiert als Ahnherr des | |
Ästhetizismus ein süßlich parfümiertes Schönheitsideal. Aus dem Kult der | |
Äußerlichkeit entwickelte Wilde eine Idee von Kunst, die „amoralisch“ und | |
„völlig nutzlos“, ohne didaktische Funktion sein müsse, „niemals etwas | |
anderes als sich selbst“ ausdrücken soll – ihre unmittelbare Wirkung auf | |
Geist und Gefühl habe Vorrang über inhaltlich konkrete Aussagen. | |
Genau so kann der Abend wahrgenommen werden. Ist doch der einzigartige | |
Tanzstil Goeckes in der atemberaubend perfekten Darbietung seiner Compagnie | |
allein schon ein sensationelles Ereignis, begeisternd nicht als Ausdruck | |
irgendwessen, sondern schon als pure Form. „A Wilde Story“ hat daher immer | |
auch etwas leerlaufend Maschinelles; wirkt manchmal wie ferngesteuerte | |
Robotik. Zudem sind die Verquickungen von Motiven aus Wildes Kunstmärchen, | |
seinem Roman „Dorian Gray“ und seiner eigenen Biografie dramaturgisch eher | |
fluide denn präzise. | |
Die im Programmheft ausformulierten Inhaltsangaben der Szenen sind auf der | |
Bühne nur angedeutet. Goecke will mehr. Zum Ausdeuten des behaupteten | |
inneren Diskurses ist das Publikum allein auf den Bewegungskanon | |
angewiesen. Denn die Sprechakte der Tänzer:innen sowie die rezitierten | |
Textpassagen aus den Lautsprechern bleiben akustisch unverständlich. | |
Mit Sopranistin Kiandra Howarth gelingt Goecke allerdings ein deutlich | |
sprechendes Bild. Sie singt vom „Glück, das mir verblieb“, das Lied aus | |
Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ beschwört Liebe und | |
Geborgenheit. Wildes Darsteller starrt die Sängerin dabei offenbarungsselig | |
an, kämpft er doch um alle Formen der Liebe. Ohne sich für das komplizierte | |
Verhältnis von Literatur und Leben genauer zu interessieren, zeigt Goecke, | |
wie Wilde das Geliebtwerden im Berühmtsein genießt, sich in zugespieltem | |
Applaus sonnt. Aber auch, wie er immer wieder hilflos mit seiner Frau um | |
Nähe ringt, ohne dass es je zur innigen Umarmung kommt. | |
Mit dem Freund aber: gegenseitiges Hinternstreicheln und | |
In-den-Schritt-Fassen, herrlich lang währt ein Kuss der beiden. Wieder | |
getrennt, führt Wilde dann gern mal mächtige Onaniergesten aus. Sexuelles | |
Begehren und der Sinn für Schönheit verbinden sich mit der Eitelkeit des | |
Geltungsbedürftigen. | |
Aber worum geht es jenseits des Offensichtlichen? Hast und Getriebenheit | |
kennzeichnet die Auftritte des Ensembles. Kaum organischer Bewegungsfluss, | |
stattdessen blitzschnelle Verausgabungen. Überall Sehnsucht nach Begegnung, | |
nie aber deren Erfüllung. | |
Stets neu zelebrieren die halbnackten Männerkörper wie unter Strom ihre | |
Muskelspiele, wirbeln um sich selbst – als Feier ihrer selbst? | |
Fetischisierung des Körpers? Oder sind sie scheiternde Entgrenzungskünstler | |
wider verdrängte Wahrheiten und gesellschaftliche Zwänge? Mehrmals enden | |
Szenen mit zu Schreifratzen gefrorenen Gesichtern, etwa wenn jemand ein | |
Kreuz Kirche zeigt, während sich dahinter ein männliches Liebespaar | |
umgarnt. | |
Zum Finale fällt der Bühnenprospekt um, Wilde ist allein, nach Haft und | |
Zwangsarbeit wegen homosexuellen Lebenswandels auch physisch am Ende. Sein | |
Tänzer-Darsteller schleicht mit spannungslos schlackerndem Körper herum, | |
versucht vergeblich, den zackig grazilen Tanzstil zurückzugewinnen. | |
Nur eine Nachtigall tiriliert, wie in Wildes moralischer Geschichte „Die | |
Nachtigall und die Rose“: Dort singt der Vogel bis zur Selbstaufgabe und | |
spendet sein Blut fürs Liebesglutrotfärben einer weißen Rose, damit ein | |
heillos Verliebter seiner Prinzessin das florale Symbol überreichen kann. | |
Die lässt sich dann aber doch lieber mit Verehrern ein, die sie mit | |
materiell wertvollen Geschenken überhäufen. | |
Im Schlussbild vermittelt sich die Einsamkeit eines Romantikers in einer | |
liebeskalten, radikal Ich-bezogenen Welt. Drei Jahre nach der | |
Haftentlassung stirbt Wilde im Pariser Exil, krank, verbittert, mittellos. | |
Dass er auch [3][ein früher Kämpfer der LGBTQ-Bewegung] war, wie so vieles | |
im Dunklen der Bühne. Was funkelt, ist die Formensprache Goeckes. Mehr | |
braucht es nicht für Ovationen. | |
5 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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