| # taz.de -- Vivaldis Märchenwelt in der Staatsoper: Helden auf Wölkchen | |
| > In ihrer Inszenierung von Antonio Vivaldis „Il Giustino“ an der | |
| > Staatsoper scheut sich Regisseurin Barbora Horáková nicht vor barocker | |
| > Frivolität. | |
| Bild: Happy End mit ein bißchen Hilfe vom Himmel: Giustino (Christophe Dumaux)… | |
| Berlin taz | In Cordhose und Schiebermütze sitzt ein Countertenor auf einem | |
| Melkschemel, rupft ein Huhn und besingt in zartem Falsett den Traum vom | |
| sozialen Aufstieg. Bauer Giustino will mehr als das harte Brot der | |
| Landarbeit, er sehnt sich nach Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld. Kaum ist | |
| dieser Wunsch ausgesprochen, kommt die Göttin Fortuna auf einem Roller | |
| angefahren, wirft mit Glitzer um sich und verspricht dem ehrgeizigen | |
| Emporkömmling einen Palast anstelle seiner Hütte. | |
| Wie vorhergesagt, legt Giustino eine steile Karriere bei Hofe hin: Erst | |
| rettet er des Kaisers Schwester vor einem Bären, später die Kaiserin selbst | |
| vor einem Seeungeheuer und wirft schließlich des Kaisers Feinde in den | |
| Staub. Dem bleibt nichts anderes übrig, als dem siegreichen Helden seine | |
| Schwester zur Frau zu geben und ihm Regierungsverantwortung zu übertragen. | |
| So die Ausgangssituation in Antonio Vivaldis selten gespielter Oper „Il | |
| Giustino“, die noch bis Anfang Dezember in der Berliner Staatsoper auf dem | |
| Spielplan steht. | |
| In der unwahrscheinlichen Handlung von „Il Giustino“ spiegeln sich gleich | |
| zwei wahre Begebenheiten: zum einen die persönliche Erfolgsstory Vivaldis, | |
| der es vom Priester und Musiklehrer zu einem hoch angesehenen | |
| Opernkomponisten gebracht hatte, zum anderen die Geschichte des | |
| byzantinischen Bauern Justin, der im vierten Jahrhundert in die kaiserliche | |
| Leibwache eintrat und schließlich den Kaiser als Nachfolger beerbte. Nach | |
| diesem historischen Vorbild schuf Vivaldi das singende Alter Ego Giustino | |
| und lässt ihn selbstbewusst durch die Institutionen marschieren. | |
| Statt auf politischen Symbolismus setzt das Regie-Team um Barbora Horáková | |
| auf barocke Frivolität. Gold Glitzernde Gehröcke, als Sahnebaisers | |
| verkleidete Damen und geflügelte Engelchen, die auf Wattewölkchen wie | |
| menschliche Kronleuchter unter der Decke schweben, entrücken den Stoff in | |
| eine Welt feudaler Leichtigkeit. | |
| Auch die Musik kommt nicht mit brachialem Verdi-Verismo daher, wie man es | |
| bei einem so heroischen Stoff vielleicht erwarten würde, sondern perlt so | |
| anmutig dahin, wie man es von seiner eleganten Instrumentalmusik kennt. | |
| ## Expertise in Sachen Barock | |
| Vivaldi bleibt diesem Stil auch als Opernkomponist treu und zitiert sich | |
| dabei hin und wieder selbst: Sein bis heute größter Hit, der Frühling aus | |
| den [1][„Vier Jahreszeiten“], taucht als Zitat auf, auch einige Arien | |
| entlehnt er früheren Werken. Aus dem Sängerensemble verzaubern ganz | |
| besonders Counter Christophe Dumaux als Giustino und Kateryna Kasper als | |
| Kaiserin Arianna mit anmutig ornamentiertem und hochkultiviertem Gesang. | |
| Unter der Leitung von [2][René Jacobs, weltberühmter Experte in Sachen | |
| Barockmusik,] spielt die Berliner Akademie für Alte Musik auf historischen | |
| Instrumenten, die statt Stahlsaiten Saiten aus Darm verwenden. Das | |
| Klangergebnis: eine Transparenz und Zartheit, die nicht nur eingefleischten | |
| Fans historischer Aufführungen zu Herzen gehen dürfte. | |
| Das schöne Geplänkel der Musik schafft Raum für Humor – immerhin wurde „… | |
| Giustino“ für den venezianischen Karneval geschrieben. Sehr lustig ist es, | |
| Kaiser Anastasio in kurzem Höschen und fescher Matrosenkappe bei seinen | |
| vergeblichen kriegerischen Ambitionen zuzusehen. Auch ein Bärenfell aus | |
| Plüsch, das Giustino nach geschlagener Schlacht stolz hinter sich herzieht, | |
| lädt zum Schmunzeln ein. | |
| Weniger gelungen sind die Szenen um den komischen Bösewicht Andronico, der | |
| sich als Frau verkleidet an des Kaisers schöne Schwester heranwanzt und | |
| verzweifelt zu verbergen versucht, dass seine Brüste nicht echt sind. | |
| Während die Travestie in Richard Strauss „Rosenkavalier“ oder Mozarts | |
| „Hochzeit des Figaro“ ungebrochen mit subtiler Erotik reizt, ist der “man | |
| in drag“ als Lachnummer heute ein schlecht gealterter Witz. | |
| Und doch ist es das Augenzwinkern, das an diesem Abend daran erinnert, dass | |
| man die Sache mit dem Heldentum nicht ganz so ernst nehmen muss. Sein Happy | |
| End hat der Titelheld nicht eigenen Fähigkeiten zu verdanken, sondern dem | |
| glücklichen Eingreifen wohlmeinender Götter. Fortuna gibt ihm Superkräfte | |
| und sorgt dafür, dass er stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, | |
| wenn eine Jungfer in Nöten einen Helden braucht. Als ihm ein Widersacher an | |
| den Kragen will, enthüllt ein weiterer Deus ex machina den Kontrahenten, | |
| dass sie in Wahrheit Brüder sind. Anstatt sich weiter zu bekriegen, fallen | |
| sie sich fröhlich um den Hals. | |
| Gemeinsam mit der surrealen Grazie der Musik erschaffen diese | |
| übernatürlichen Elemente eine Märchenwelt: In dieser Welt sind Seeungeheuer | |
| kein ernst zu nehmendes Hindernis, soziale Mobilität ist möglich, und am | |
| Ende siegt sogar die Gerechtigkeit. | |
| 22 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Schors | |
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