# taz.de -- Australischer Western „Sweet Country“: Lektionen in Demut | |
> Soziale Verschiebungen im Blick: Warwick Thorntons australischer Western | |
> „Sweet Country“ erzählt detailreich von einen Aborigine-Farmhelfer. | |
Bild: Hamilton Morris als Sam und Natassia Gorey-Furber als Lizzie sitzen in He… | |
taz | Der Western heißt Western, weil er Geschichten aus dem „alten“, wie | |
es so schön heißt: amerikanischen Westen erzählt. Warwicks Thorntons „Sweet | |
Country“ spielt in Australien und handelt von australischer Geschichte, | |
aber man kann der Versuchung nicht widerstehen, den Film mit dem Etikett | |
„Western“ zu versehen. | |
Denn ohne das Versprechen auf weite Horizonte und Männer mit Gewehren im | |
Anschlag liefe Thorntons auf Festivals vielfach ausgezeichneter Film wohl | |
Gefahr, als eine jener „special interest“-Produktionen abgestempelt zu | |
werden, für die man sich bei der Reiseplanung des Australien-Trips | |
interessiert, aber nicht beim abendlichen Kinogang. Aborigines und ihre | |
Misshandlung durch die weißen Kolonialisten in der ersten Hälfte des 20. | |
Jahrhunderts – das klingt doch sogar eher nach einem Dokumentarfilmthema. | |
Aber dann merkt man bereits den ersten Bildern von „Sweet Country“ an, dass | |
es Warwick Thornton (der als Abkömmling der Kaytetye selbst | |
indigen-australischer Abstammung ist) um etwas anderes geht, als darum, auf | |
verdrängte Gräueltaten aufmerksam zu machen (nicht, dass dagegen was zu | |
sagen wäre). | |
In der allerersten Einstellung steht ein Topf über einer Feuerstelle im | |
Zentrum, unsichtbare Hände schütten zuerst eine schwarze Substanz ins | |
aufkochende Wasser und dann eine weiße, während im Hintergrund raue | |
Männerstimmen in Streit geraten und eine Prügelei beginnen. Wenn man genau | |
hinhört, begreift man, wo die Fronten verlaufen: „Du schwarzer Bastard!“ | |
heißt es da, aber auch „Scheißweißer!“ | |
Dass man die Szene und die darin verwickelten Männer später im Film noch | |
sehen wird, erschließt sich nur dem, der ihn zweimal guckt. Wobei das | |
Wissen darum für das Verständnis nicht wichtig ist – aber als Detail zeigt | |
es an, wie sorgfältig, ja behutsam Thornton seine filmische Erzählung baut. | |
Das Element der Wiederholung spielt eine wichtige Rolle. Aber er setzt sie | |
nicht als Puzzleteil ein, das der Zuschauer im Kopf behalten muss, um die | |
Auflösung mitzudenken, sondern Thornton unterstreicht durch blitzartig | |
eingeblendete Repetitionen Atmosphäre und Gefühle, Unbewusstes, | |
Schicksalhaftes. | |
## „Vorposten“ der Zivilisation | |
Die Handlung setzt ein mit einem Hin und Her zwischen drei weißen Herren | |
und ihren unwirtlichen Farmen, die im Original „stations“ genannt werden, | |
weil man sie als „Vorposten“ der Zivilisation begreift, die hier im | |
australischen Outback erst noch Fuß fassen muss. | |
Auf der einen schreit Mick Kennedy (Thomas M. Wright) seinen schwarzen | |
Vormann Archie (Gibson John) und den jugendlichen Philomac (Tremayne | |
Doolan) beständig an; auf der anderen döst Fred Smith (Sam Neill) | |
selbstgenügsam in der Mittagshitze, als mit Harry March der neue Farmer in | |
der Gegend vorspricht. Harry erkundigt sich bei Fred danach, wo er denn | |
seinen „schwarzen Bestand“ hernehme, und Fred weiß zunächst gar nicht, was | |
gemeint ist. Nein, nein, wehrt er schließlich ab: „Wir sind hier alle | |
gleich, gleich vor den Augen des Herrn“. | |
Und trotzdem, als Harry darum bittet, dass Fred ihm seine | |
Aborigine-Farmhelfer, das Ehepaar Sam (Hamilton Morris) und Lizzie | |
(Natassia Gorey Furber) für einen Tag ausleiht, ist es Fred, der die beiden | |
Schwarzen losschickt als der „Boss“, der er eben trotz seiner | |
Gottesfürchtigkeit ist. Mit Sam und Lizzies Ankunft bei Harry setzt sich | |
eine Kette von fatalen Ereignissen in Gang, an deren Ende ein erschossener | |
Harry im Staub vor Freds Haus liegt und Sam zusammen mit Lizzie durch das | |
noch unerschlossene Stammesgebiet flieht, verfolgt von einer durch Sergeant | |
Fletcher (Bryan Brown) angeführten „Posse“. | |
## Provisorische Armseligkeit | |
Zusammen mit seinen verwitterten Helden, deren gebeugte Rücken und | |
schweißgetränkte Hemden etwas über die Mühsal des Lebens „weit draußen“ | |
aussagen, etabliert Thornton einen betont unaufgeregten Erzählrhythmus. Die | |
jeweiligen Farmen zeigt er in ihrer provisorischen Armseligkeit: Holzhäuser | |
mit einfachem Vorbau, ein paar Baracken im Hintergrund. Wenn die Kamera | |
ihren Blick über die weite Landschaft schweifen lässt oder sich für die | |
Farben des Sonnenuntergangs interessiert, macht sie es ohne die übliche | |
majestätische Anmutung, in verhaltenen, wie kleinmütigen Bewegungen. | |
Das Gefühl einer Demut, eines Verlorenseins wird zusätzlich durch Thorntons | |
Klanggestaltung unterstrichen. Es gibt keine Filmmusik, sondern immer nur | |
die Töne der Natur: der leise pfeifende Wind, das Zirpen von Grillen, das | |
Rascheln des Grases. Der atmosphärische Natur-Ton zieht sich durch, auch | |
über die Szenen des Rück- und Vorauserinnerns, mit dem Thornton das | |
Innenleben seiner Helden anreichert. Etwa, wenn man Harry March, den | |
Soldaten aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, mit der Flasche in | |
der Hand wie von Traumata geschüttelt nachts in seiner Hütte taumeln sieht. | |
So sehr ist man als Zuschauer daran gewöhnt, von Filmmusik emotional durch | |
die Ereignisse geleitet zu werden, dass deren Wegfall hier irritiert. Das | |
wiederum vitalisiert die Aufmerksamkeit: es fallen all die Kleinigkeiten | |
ins Auge, die „Sweet Country“ trotz seiner stoischen Erzählhaltung zu einem | |
Film machen, der reich an Dramatik ist. | |
## Kriegstraumatisierte Alkoholikerseele | |
Die Klischees von Gut und Böse werden durch Charakterdetails relativiert. | |
Rassist Harry hat eine kriegstraumatisierte Alkoholikerseele; Micks | |
herrische Strenge gegenüber Philomac ist mit väterlicher Fürsorge | |
unterlegt. Im gefügigen „Yes, Boss“ der schwarzen Farmhelfer sind oft Trotz | |
und sogar Ironie herauszuhören, wie überhaupt man den Intonationen ihres | |
Englisch die wissende Resignation darüber anzumerken meint, dass man ihnen | |
selten wirklich zuhört. | |
Thornton macht sich in seinem Film nicht die Aborigine-Sicht zu eigen, aber | |
er weist seinen unterdrückten Außenseitern einen Platz im Drama zu, den | |
Indigene im Western selten einnehmen dürfen. Jede der Figuren hat eine | |
eigene, individuelle Geschichte, die in knappen Strichen angerissen wird | |
und immer über die bloße Erzählfunktion hinausweist. Sei es die vom Ehepaar | |
Sam und Lizzie, das keine Kinder bekommen konnte, weshalb das, was Lizzie | |
widerfährt, eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Oder Vormann Archie, der | |
seine Stellung auf Micks Farm durch den Aufstieg des kleinen Philomac | |
bedroht sieht und ihm an einer Stelle vom Verlust der eigenen Herkunft, vom | |
Verlust der Lieder und des Regens erzählt. | |
Auch wenn Philomac triumphierend lächelt, als er von Sams erfolgreicher | |
Flucht erfährt, ist die Solidarität unter den „blackfellas“ eine | |
gebrochene. Wie man überhaupt der Folgsamkeit der Älteren ansieht, durch | |
wie viel bittere Erfahrung von Rechtlosigkeit und Entmenschlichung sie | |
erlernt wurde. | |
## Unerbittlichkeit bis zum Wahn | |
Thornton unterspielt die Western-üblichen Spannungsmomente der | |
Verfolgungsjagd, des Überfalls, des Männer-Duells und fesselt den Zuschauer | |
stattdessen mit dem präzisen Blick auf sich ständig verschiebende sozialen | |
Konstellationen. Sergeant Fletcher etwa, der sich bei der Verfolgung von | |
Sam in eine Unerbittlichkeit bis zum Wahn hineinsteigert – aber sich | |
schlussendlich zahm dem Gesetz beugt. Auch als jenes sich in Gestalt eines | |
angereisten Richters erstaunlich milde zeigt. | |
„Was soll aus diesem Land bloß werden?“, fragt ganz am Ende, als die Dinge | |
mindestens zwei Mal anders kamen als gedacht, ein verzweifelter Fred Smith. | |
Und man begreift, was Thornton vielleicht am meisten am Western | |
interessiert: Dass er eine Gesellschaft im Entstehen zeigt, samt ihren | |
Bruchlinien von Gewalt und Unterdrückung. | |
27 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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