| # taz.de -- Ausstellung Berliner Schinkel-Pavillon: Verschlingende Gedärme | |
| > Der Berliner Schinkel Pavillon holt den Künstler HR Giger aus der | |
| > Fantasy-Nische – kombiniert mit Arbeiten der koreanischen Künstlerin Mire | |
| > Lee. | |
| Bild: Skulpturen und Gebilde von HR Giger und Mire Lee im Berliner Schinkel Pav… | |
| Ende der 1970er Jahre bekam der US-Regisseur Ridley Scott einen | |
| Künstlerbuch namens „Necronomicon“ in die Hände. Drehbuchautor Dan | |
| O'Bannon, mit dem er gerade an einem neuen Werk arbeitete, hatte es ihm | |
| gezeigt – und damit ins Schwarze getroffen. Niemals zuvor sei er von etwas | |
| so sehr überzeugt gewesen, erzählt Scott später in einem Videointerview. | |
| Fasziniert hatte ihn vor allem ein Airbrushgemälde, das ein fischig | |
| durchscheinendes, metallisch glänzendes Wesen aus einer anderen Welt zeigt, | |
| ein extraterrestrisches übertrieben phallisches Monster, eklig, | |
| furchteinflößend, aber dennoch von [1][gewisser Eleganz]. Der Künstler, von | |
| dem das Bild und das Buch stammten, hieß Hans Ruedi Giger, der Film, um den | |
| es ging, „Alien“. | |
| ## Echsenhafte Weltraumbestie | |
| „Necronom IV“ (1976), jenes Bild, hängt momentan im Untergeschoss des | |
| Schinkel Pavillons, in der Schinkel Klause, gleich im ersten Raum an der | |
| Wand. In direkter Nachbarschaft dazu lässt sich vergleichen, wie Giger das | |
| Vorbild für die „Alien“-Reihe umsetzte. Eine Skulptur seiner als Xenomorph | |
| bekannt gewordenen [2][Hollywood-Weltraumbestie] sitzt da lauernd herum, | |
| echsenhafter ist sie als das Ungetüm auf dem Bild und weniger aggressiv | |
| sexuell konnotiert. | |
| HR Giger – wo hat man von dem eigentlich zuletzt etwas gesehen? In | |
| irgendeinem jener Fantasy-Magazine vielleicht, die in nach Patchouli | |
| riechenden Geschäften herumliegen, ziemlich sicher nicht im Kontext | |
| zeitgenössischer Kunst. Dass der Schinkel Pavillon dem 1940 im | |
| schweizerischen Chur geborenen und 2014 gestorbenen Künstler eine | |
| Ausstellung ausrichtet, ist gewiss die überraschendste Idee dieses Berliner | |
| Kunstherbstes | |
| Agnes Gryczkowska heißt die Kuratorin, die diese hatte. Seit 2019 ist sie | |
| am Schinkel Pavillon beschäftigt und hat dort bereits die [3][vielbeachtete | |
| Gruppenausstellung „Sun Rise | Sun Set“] gemeinsam mit Nina Pohl | |
| konzipiert. Über Giger denkt sie schon länger nach. | |
| Noch als sie an der Londoner Serpentine Gallery arbeitete, habe sie | |
| unbedingt eine Ausstellung mit Werken von Giger kuratieren und ihn als | |
| Visionär und Neo-Surrealisten zeigen wollen, so erzählt sie es bei einer | |
| Vorbesichtigung während der Berlin Art Week. Nicht möglich war das dort, zu | |
| wenig family friendly sei dessen Kunst für die Serpentine gewesen, darum | |
| ergriff sie nun im Schinkel Pavillon die Gelegenheit. Auch auf die Gefahr | |
| hin, dafür anzuecken. | |
| ## Visionär und Neo-Surrealist | |
| Nie zuvor wurden einige der wirklich spektakulären Arbeiten außerhalb des | |
| Giger Museums gezeigt. Doch so ganz scheint selbst Gryczkowska nicht auf | |
| Gigers Wirkung allein vertraut zu haben und hat ihm eine Partnerin zur | |
| Seite gestellt, die sein Werk tatsächlich ziemlich genial ergänzt – | |
| ästhetisch wie inhaltlich. | |
| Was Mire Lee, die 1988 in Seoul geboren ist und heute in Amsterdam lebt und | |
| arbeitet mit Giger verbindet (dem sie auch selbst einen großen Einfluss auf | |
| ihr Werk zuschreibt) ist ihre Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen | |
| Fetischen, mit dem Begehren und dessen düsterer Seite, mit Lust und Ekel. | |
| „Carriers“ heißen einige von Lees kinetischen Skulpturen, Gedärmen oder | |
| Nabelschnüren ähnelnde, mit rosafarbenem glibbrigem Silikon überzogene | |
| Gebilde, die sich um sich selbst drehen und dabei zähe Flüssigkeit laut | |
| schlürfend einsaugen und wieder ausspucken. Die Künstlerin verweist mit | |
| ihnen auf die sogenannte Vorarephilia, eine sexuelle Spielart, bei der | |
| Erregung mit der Vorstellung von dem oder der Partner*in verschlingen zu | |
| werden oder diese*n selbst zu verschlingen einhergeht. | |
| In ihrer Brachialität ist sie damit nah dran an Giger und an den Bildern | |
| der Gier und Maßlosigkeit, die dieser etwa mit seiner Harkonnen-Möbelserie | |
| evoziert. Die menschlichen Skeletten nachempfundene Sitzgruppe, entworfen | |
| für die am Ende nie realisierte „Dune“-Verfilmung Alejandro Jodorowskys, | |
| steht im Mittelpunkt des achteckigen Pavillon, umgeben eben von Lees | |
| „Carriers“. | |
| ## Trauma der Geburt | |
| An einen Mutterleib soll das ganze Ensemble dort erinnern. Neben Sex und | |
| Gewalt, sind Geburt und Tod die Buzzwords, mit denen auch der Saaltext | |
| überschrieben ist. Von Giger heißt, er habe von seiner eigenen Geburt ein | |
| Trauma mitgenommen. Visualisiert hat er das auf mannigfaltige Art und | |
| Weise, mit bewaffneten Föten im künstlichen Uterus beispielsweise, auch | |
| seine „Birthmachine“ (1967 und 1965/66) ist in der Schau zu besichtigen. | |
| Heute denkt man bei deren Anblick möglicherweise weniger an Freud als an | |
| moderne Reproduktionsmedizin, an sämtliche Formen körperlicher | |
| Selbstbestimmung für Menschen mit oder ohne Gebärmutter. Das mag an | |
| Gryczkowskas deutlich mitschwingender Behauptung liegen, Giger ließe sich | |
| queerfeministisch deuten. Schlicht aber durchaus schlüssig ist ihre | |
| Begründung dafür. Seine Wesen weisen schließlich oft Merkmale beider | |
| Geschlechter auf, sie sind non-binär, wie man es heute bezeichnen würde. | |
| Im Grunde geht es in der Schau, wenn man es einmal total herunterbricht, um | |
| die Beziehung zum eigenen Körper und zur eigenen Existenz. Ob man [4][Giger | |
| mit dieser progressiven Sichtweise] gerecht wird, ist vielleicht gar nicht | |
| mal so wichtig. Viel interessanter ist ja die Auseinandersetzung damit. | |
| 29 Sep 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sehenswerte-Ausstellungen-in-Norwegen/!5800854 | |
| [2] /Ufo-Bericht-aus-dem-Pentagon/!5783173 | |
| [3] /Gruppenausstellung-im-Schinkel-Pavillon/!5776430 | |
| [4] https://qz.com/210900/the-obscenity-trial-that-made-h-r-giger-an-icon-for-p… | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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