# taz.de -- Retrospektive Filmfest München: Rausch ohne Mittel | |
> Das Münchner Filmfest ehrt den Filmemacher Alejandro Jodorowsky. Er schuf | |
> mit „El Topo“ und „Montaña Sacra“ orgiastisch-surreale Meisterwerke. | |
Bild: Träumte von einem Film, der wie ein LSD-Trip wäre, ohne dass man LSD ge… | |
Mit neuer Freundin, elegantem Spazierstock und zwei aktuellen Filmen zog | |
der 84-jährige Alejandro Jodorowsky als Ehrengast in das diesjährige | |
Münchner Filmfest ein. Sichtlich den Rummel genießend, nahm er in einem | |
Podium neben Nicolas Winding Refn Platz, der den fast doppelt so alten | |
Kollegen quasi adoptiert hat. Winding Refns jüngster Film „Only God | |
Forgives“ ist Jodorowsky gewidmet. | |
Der auf diese Weise Geehrte hat selbst mehr als 20 Jahre lang keine Filme | |
mehr drehen können. Nachdem er 1970 mit „El Topo“ und 1973 mit „Montaña | |
Sacra“ zwei orgiastisch-surreale Meisterwerke geschaffen hatte, vermochte | |
er erst 1989 mit „Santa Sangre“ an dieses Niveau anknüpfen. Sein fast | |
mythischer Ruf als gescheitertes Kino-Genie wurde in der Zwischenzeit vor | |
allem durch zahlreiche Comics, unter anderen von Moebius, Arno, Georges | |
Bess oder Fred Beltran, flankiert, für die er als Autor verantwortlich war. | |
Daneben wurde er im französisch- und spanischsprachigen Raum als | |
Romanautor, Lyriker und Dramatiker bekannt. | |
Esoteriker verehren ihn als Herausgeber und Deuter von Tarot-Karten, andere | |
Heilssucher als Erfinder der „Psychomagie“, einer Art Mischung aus | |
Alchemie, Performance und Psychoanalyse. Sein filmisches Oeuvre fällt | |
schmal, aber radikal aus. Es mutet wie ein nicht eingelöstes Versprechen | |
an, wie eine Verheißung, was das Kino hätte auch sein können – wenn sein | |
innovatives Potenzial nicht in Hollywood auf dem Altar des Kommerzes | |
verkauft worden wäre. | |
## Wer guckt denn gerne DVDs im Kino? | |
Leider entpuppte sich die in München als große Entdeckung gefeierte | |
Werkschau als eine etwas lieblos organisierte Veranstaltung. Von einer | |
werktreuen Vorführung der Filme konnte keine Rede sein. Gezeigt wurden DVDs | |
und Blu-Rays aus dem Einzelhandel, die sich mit ein paar Mausklicks ordern | |
lassen. Auf eine Recherche nach 35-mm-Kopien wurde offenbar verzichtet. | |
Außerdem ist die Retrospektive entgegen allen Behauptungen unvollständig: | |
Der 1980 in Indien realisierte Elefantenfilm „Tusk“ kommt gar nicht erst | |
vor, findet nirgendwo Erwähnung. | |
Ungeachtet dessen freute man sich mit Jodorowsky über dessen | |
kinematografische Rehabilitierung. Denn im Widerspruch zu allen Regeln des | |
Metiers scheint sich für den betagten Künstler nun doch noch ein Fenster | |
für ein filmisches Comeback zu öffnen. Nicht nur dass Winding Refn | |
demnächst gemeinsam mit Jodorowsky einen Science-Fiction nach dessen | |
Comic-Zyklus „Incal“ drehen will. Der Niederländer Jan Kounen („Doberman… | |
hat sich ebenfalls angemeldet: Er möchte das von Moebius gezeichnete | |
Storyboard zur 1976 abgebrochenen Mega-Verfilmung von Frank Herberts Roman | |
„Dune“ in einen abendfüllenden Animationsfilm transformieren. | |
## Ein grandioses Debakel | |
„Dune“ wurde einst zum Waterloo von Jodorowsky. Die Geschichte dieses | |
grandiosen Debakels hat der Filmemacher Frank Pavich in „Jodorowsky’s Dune�… | |
rekonstruiert, einem Film, der ebenfalls in München zu sehen war. Eine | |
illustre Nummernrevue zeigt die Namen von Prominenten, die damals am Film | |
mitwirken sollten. | |
Salvador Dalí, Amanda Lear, Orson Welles und Mick Jagger waren als | |
Darsteller verpflichtet, Pink Floyd und Magma lieferten den Soundtrack, Dan | |
O’Bannon, HR Giger und Moebius hatten für den Look zu sorgen. Jodorowskys | |
„Dune“ sollte zwölf Stunden dauern. Ziel war, so Jodorowsky, einen | |
LSD-Rausch ohne die Einnahme von LSD zu vermitteln. | |
Nachdem schon mehrere Millionen Dollar in die Vorbereitungen der | |
Dreharbeiten geflossen waren, wurde das Projekt zunächst auf Eis gelegt, | |
später an David Lynch übergeben. (Ironie: „Dune“ wurde dessen schlechtest… | |
Film.) Ob die solcherart größenwahnsinnig geplante Adaption des | |
Sci-Fi-Klassikers tatsächlich die Entwicklung des utopischen Genres in | |
andere Bahnen hätte lenken können, muss Spekulation bleiben; wenn auch eine | |
überaus reizvolle. | |
## Die Mutter schmetter Arien | |
Konkret messen lassen muss sich Jodorowsky an seinem aktuellen Film. Für | |
„La Danza de la Realidad“ („Der Tanz der Wirklichkeit“) ist er nach | |
Nordchile zurückgekehrt, an jenen Ort, in dem er als Kind | |
jüdisch-ukrainischer Flüchtlinge aufwuchs. Hier unterhielt sein Vater einen | |
Galanterie-Laden und träumte dabei von der Weltrevolution. Im Film möchte | |
er die Menschheit vom Joch der Unterdrückung erlösen und regiert | |
gleichzeitig als grimmiger Haustyrann. | |
Der kleine Alejandro leidet inbrünstig, möchte alles richtig machen und | |
produziert doch ein Fiasko nach dem anderen. Seine resignierende, Arien | |
schmetternde Mutter wird zur Projektionsfläche aller emotionalen Defizite | |
und der aufkeimenden erotischen Ahnungen. | |
Der Film erweist sich als ins Phantasmagorische auswachsende | |
Familienaufstellung. Jodorowskys Sohn Brontis spielt seinen eigenen | |
Großvater. Weitere Verwandte agieren in Nebenrollen. Der Regisseur tritt | |
immer wieder als Erzähler ins Bild, wird in einer berührenden Szene zum | |
Schutzengel seiner selbst, indem er das Kind Alejandro vor einem | |
selbstmörderischen Sprung ins Meer bewahrt. „Wenn ich nächstes Jahr sterbe, | |
war dieser Film mein Testament. Wenn ich weiter Filme machen kann, war er | |
mein Comeback“, sagte Jodorowsky in München. Der Tanz der Wirklichkeit geht | |
weiter. | |
5 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Claus Löser | |
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