| # taz.de -- Klassiker in 3D: Alice im Disneyland | |
| > Tim Burtons Verfilmung von "Alice im Wunderland" setzt auf das technisch | |
| > Mögliche. Dabei kommt die Fantasie der Zuschauer fast zwangsläufig viel | |
| > zu kurz. | |
| Bild: Der verrückte Hutmacher, gespielt von Johnny Depp. | |
| Lassen wir zunächst einmal die dreidimensionalen Effekte beiseite. Denn | |
| noch wird ja "Alice im Wunderland" auf den allermeisten Leinwänden als | |
| 2-D-Flachfilm gezeigt. Tim Burton, spätestens seit "Beetlejuice" (1988) als | |
| Meister des Fantastischen etabliert, schien prädestiniert, sich irgendwann | |
| einmal des klassischen Lewis-Carroll-Stoffes anzunehmen. Die Geschichte des | |
| Mädchens Alice, das eines langweiligen Nachmittags in die Höllen der | |
| Adoleszenz trudelt, bietet die ideale Folie für Expeditionen in alle | |
| möglichen Grenzbereiche. | |
| Nicht umsonst galt der Roman als eines der Lieblingsbücher der | |
| Surrealisten. Alice stieg in den 1960er-Jahren zur Ikone der | |
| psychedelischen Subkultur auf; unvergessen Grace Slicks für Jefferson | |
| Airplane gefundene Zeilen: "One pill makes you larger / and one pill makes | |
| you small / And the ones that mother gives you / Dont do anything at all." | |
| Die Szene, auf die sich der Song bezieht, steht am Anfang des Films und | |
| markiert, worauf Burtons Inszenierung hinausläuft. Ihm und seinen | |
| Auftraggebern von Disney ging es weniger um das Ausloten der Imagination | |
| oder um die Befreiung von den Zwängen der Logik durch den Traum. Burtons | |
| Film geht es primär um die Maximierung visueller Effekte zum Zwecke der | |
| Unterhaltung. Das ist für Disney völlig legitim, für Burton und erst recht | |
| für Carroll aber etwas zu wenig. | |
| Wenn Alice verschiedene Mittelchen einnimmt, um größer und wieder kleiner | |
| zu werden, zeigt die Technologie - durchaus eindrucksvoll -, was sie heute | |
| rechnergestützt so alles kann. Die Fantasie der Zuschauer kommt dabei fast | |
| zwangsläufig viel zu kurz. Denn diese unausgesetzte Demonstration des | |
| technologisch Möglichen, die den gesamten Film über vorherrscht, lässt | |
| einfach keinen Raum mehr für individuelle Imagination. | |
| Hinzu kommen, und das wiegt schwerer, inhaltliche Bereinigungen. Alice | |
| wurde für die aktuelle Adaption wesentlich älter gemacht. Zum einen geschah | |
| dies sicher aus Gründen der Marktanpassung: die Erlebnisse eines | |
| zwölfjähriges Mädchens sind schwer verkäuflich, richtig Kasse gemacht wird | |
| erst mit dem Zielpublikum der "heavy user" zwischen 15 und 19 Jahren. | |
| Zum anderen nutzt der Plot die Tatsache des reiferen Alters, um Alice | |
| Expedition ins Wunderland als Flucht vor ihrer Verheiratung darzustellen. | |
| Nach all ihren Abenteuern kehrt sie innerlich gereinigt in den Kreis der | |
| Verwandten und Bekannten zurück; sie ist nun eine Erwachsene, die genau | |
| weiß, was sie will. Deshalb schlägt sie die ihr vorbestimmte Bindung | |
| selbstbewusst aus. Eine derart simple therapeutische Wendung tut nun aber | |
| dem subversiven Potenzial der Vorlage ein doch zu großes Unrecht. (In | |
| dieser Hinsicht wirkt es wie ein geschickter Werbeschachzug, dass Mia | |
| Wasikowska, die Darstellerin der Alice, gerade bei der | |
| TV-Psychoanalyse-Werbeserie "In Treatment" die Patientin Sophie gibt - was | |
| vermutlich purer Zufall ist.) | |
| Mit der Geschichte der ins Zwischenreich aus Traum und Wirklichkeit | |
| eintauchenden Alice hat Carroll einen wegweisenden Entwurf der Ambivalenz | |
| geschaffen, also gerade keine einfachen Auflösungen in falsch und richtig, | |
| gut und böse, normal und fremdartig angeboten; darin liegt unter anderem | |
| die Bedeutung des Romans. Burton nimmt diese Grenzverwischung in | |
| konservativer Disney-Tradition zurück. Bei ihm kulminiert der Kampf | |
| zwischen den guten und den bösen Kräften in einer veritablen Schlachtszene, | |
| bei der Alice auf der Seite der weißen Königin als eine Art | |
| Märchen-Jeanne-dArc in den Kampf zieht und dem Supermonster Jabberwocky den | |
| Kopf abschlägt. | |
| Carrolls Vorlage ist bislang mehr als fünfzig Mal verfilmt worden, Burtons | |
| Bearbeitung gehört leider nicht zu den innovativen Versuchen einer | |
| Anverwandlung, trotz des Höchstmaßes an Technologie. Um auf der Leinwand | |
| Fantasie freizusetzen, sei es zwei- oder dreidimensional, braucht es | |
| manchmal weniger als mehr - das hat Burton selbst mit früheren Filmen | |
| bewiesen. | |
| "Alice im Wunderland". Regie: Tim Burton. Mit Johnny Depp, Mia Wasikowska | |
| u. a. USA 2010, 108 Min. | |
| 3 Mar 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Claus Löser | |
| ## TAGS | |
| Filmgeschichte | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Retrospektive Filmfest München: Rausch ohne Mittel | |
| Das Münchner Filmfest ehrt den Filmemacher Alejandro Jodorowsky. Er schuf | |
| mit „El Topo“ und „Montaña Sacra“ orgiastisch-surreale Meisterwerke. |