# taz.de -- Aufnahme von Schutzsuchenden: Sie müssen weiter ausharren | |
> 928 Geflüchtete von den griechischen Inseln will die Bundesregierung | |
> aufnehmen. Dabei haben die Kommunen Platz für Tausende Menschen. | |
Bild: Geflüchtete aus Moria warten auf Busse, die sie aus dem überfüllten Ca… | |
BERLIN taz | Noch ein paar Tage, dann ist es so weit: Am 24. Juli werden | |
die ersten Geflüchteten von den griechischen Inseln in Deutschland | |
eintreffen. Mitte Juni hatte die Innenministerkonferenz beschlossen, 243 | |
kranke Kinder und ihre Familien in die Bundesrepublik zu holen. 928 | |
Menschen sollen insgesamt kommen. | |
Das Land Berlin hat sich dazu bereit erklärt, 300 Schutzsuchende | |
aufzunehmen. „Wir wissen noch gar nicht, in welchen körperlichen und | |
seelischen Zuständen die Menschen hier nach Berlin kommen werden“, erklärt | |
Stefan Strauß, Sprecher der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und | |
Soziales. | |
Nicht alle 300, sondern lediglich 142 Geflüchtete will Bundesinnenminister | |
Horst Seehofer (CSU) nun in die Hauptstadt schicken. Die dortige | |
Senatsverwaltung hat damit begonnen, Unterkünfte herzurichten und | |
Betreuungsangebote aufzubauen. „Wir wollen auf alle Fälle gewährleisten, | |
dass diese Menschen hier erst einmal ankommen und zur Ruhe kommen können“, | |
sagt Strauß. | |
Noch ist vieles unklar – auch, wann die ersten Geflüchteten in Berlin | |
eintreffen werden. Aber schon jetzt steht fest: Die Länder haben deutlich | |
mehr Platz für Schutzsuchende, als der Bund in Anspruch nehmen will. 2.100 | |
Plätze haben sie dem Bundesinnenministerium zur Aufnahme von Geflüchteten | |
aus Griechenland zugesichert, erklärt ein Ministeriumssprecher gegenüber | |
der taz. „Das ist für einen Innenminister eine sehr angenehme Entwicklung, | |
wenn es mehr Nachfrage bei der Verteilung gibt als umgekehrt“, resümierte | |
Seehofer nach der letzten Innenministerkonferenz im Juni. | |
Eigenwillige Rechenmethode | |
Was die „Nachfrage“ angeht, scheint der Minister seine ganz eigene | |
Rechenmethode zu haben. Denn derzeit sitzen mehr als 30.000 Schutzsuchende | |
in den [1][vollkommen überfüllten Camps] auf den griechischen Inseln fest. | |
Allein auf Lesbos harren 16.000 Menschen in einem Lager aus, das eigentlich | |
für 3.000 gebaut wurde. | |
„Währenddessen stehen bei uns die Unterkünfte leer“, erklärt Liza Pflaum | |
von der Aktion „Seebrücke“, „Bei uns melden sich Personen, die in | |
Unterkünften arbeiten, und berichten, dass Personal entlassen und die | |
Häuser geschlossen werden.“ „Dass wir wegen der Coronakrise keine | |
zusätzlichen Geflüchteten aufnehmen können, wäre vorgeschoben“, erklärt | |
Maik Maschmeier, Referent des Oberbürgermeisters von Bielefeld, „Wir würden | |
die Aufnahme von Erwachsenen und Menschen im Familienverbund sehr gut | |
hinbekommen.“ Insgesamt 151 Kommunen haben sich zu „Sicheren Häfen“ für | |
Geflüchtete erklärt, mit 56 von ihnen ist Bielefeld im [2][Bündnis „Städte | |
Sicherer Häfen“] vernetzt. | |
Die Bündnisstädte wollen Schutzsuchende aus Griechenland zusätzlich zum | |
„Königsteiner Schlüssel“, dem bundesweiten Verteilmechanismus, aufnehmen. | |
Wie viele Plätze sie insgesamt zur Verfügung haben, ist derzeit unklar. | |
„Durch Corona ist da eine große Verunsicherung“, erklärt der Bielefelder | |
Maschmeier. Aber: „Alle Städte stehen zu ihren politischen Beschlüssen.“ | |
Selbst unter Berücksichtigung aller Pandemieschutzregeln könnte Bielefeld | |
100 Menschen „über Quote“ aufnehmen, heißt es aus dem Büro des | |
Oberbürgermeisters. | |
Geht man davon aus, dass die Situation in den anderen Sicheren Häfen | |
ähnlich ist, dürfte ganz Deutschland ad hoc Platz für Tausende mehr haben, | |
als durch die Innenministerkonferenz vorgesehen. „Die Bundesrepublik ist in | |
der Lage, hier wesentlich mehr zu tun“, resümiert auch der Potsdamer | |
Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) gegenüber der taz. | |
Pro Asyl attestiert Komplettversagen | |
Entsprechend harsch bewertet Pro Asyl die Beschlüsse der | |
Innenministerkonferenz – „als Komplettversagen der deutschen Politik – des | |
Innenministeriums sowie der Landesinnenminister, aber auch der | |
Oppositionsparteien Bündnis 90 und die Linke“. So urteilt Geschäftsführer | |
Günter Burkhardt. Obwohl in Deutschland genug Platz für alle Geflüchteten | |
von den Inseln sei, fordere die Linke die Aufnahme von nur 10.000 Menschen, | |
die Grünen von 5.000. | |
Auch aus Niedersachsen kommt Kritik. „Strukturell ändert sich durch die | |
Entscheidung der Innenministerkonferenz nichts: Die Lager auf den | |
griechischen Inseln bleiben bestehen“, erklärt Sascha Schießl vom | |
niedersächsischen Flüchtlingsrat. Mehr als ein Ablenkungsmanöver vom | |
selbstgeschaffenen Elendssystem sei die Übereinkunft deshalb nicht. | |
Auf Anfrage der taz stellte das Bundesinnenministerium klar, dass weitere | |
Aufnahmeprogramme nicht geplant seien. Doch nicht nur der Bund, auch die | |
Länder hätten die Möglichkeit, Schutzsuchende nach Deutschland zu holen. | |
Bisher wurden Landesaufnahmeprogramme allerdings ausschließlich für | |
Menschen aufgelegt, die sich in Staaten außerhalb der EU befanden. | |
Geht es nach Berlin und Thüringen, soll sich das ändern. Beide Länder haben | |
[3][Landesaufnahmeanordnungen beschlossen], um Geflüchtete aus Griechenland | |
nach Deutschland zu holen. Nach dem Aufenthaltsgesetz können diese jedoch | |
nur im Einvernehmen mit dem Bundesinnenministerium umgesetzt werden. Dort | |
liegen sie derzeit zur Prüfung. | |
Erfolgschancen für Länder nur mäßig | |
Ob die Länder ihre Anordnungen zurückziehen, nachdem der Bund nun tätig | |
geworden ist? Dirk Adams (Grüne), Justizminister von Thüringen, verneint | |
das. Man begrüße, dass jetzt fast 1.000 Menschen nach Deutschland kommen. | |
„Aber die Landesaufnahmeanordnung würde ich deswegen nicht fallen lassen.“ | |
Besonders hoch stehen die Erfolgschancen für das Gesuch jedoch nicht. | |
Mehrfach hat das Land Berlin Horst Seehofer bereits angeboten, Geflüchtete | |
aus Griechenland zu evakuieren, doch jedes Mal lehnte der Innenminister ab. | |
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) will die Anordnung jedoch nur | |
umsetzen, wenn Seehofer zustimmt. „Der Bundesinnenminister hat hier das | |
letzte Wort“, erklärt auch Thüringens Justizminister Adams gegenüber der | |
taz, „aber wenn der Bund die Landesaufnahmeanordnung ablehnt, muss er das | |
gut begründen.“ Eine so schwerwiegende Entscheidung werde man sich genau | |
anschauen. | |
Nicht alle halten die mögliche Ablehnung der Anordnungen für | |
gesetzeskonform. Ein Rechtsgutachten im Auftrag des Europaabgeordneten Erik | |
Marquardt (Grüne) argumentiert, dass das Bundesinnenministerium die | |
Zustimmung zu Landesaufnahmeanordnungen nur in Ausnahmefällen verweigern | |
darf – und zwar dann, wenn die Aufnahme im Widerspruch zur Praxis der | |
anderen Bundesländer steht. Ähnlich argumentiert ein Gutachten im Auftrag | |
der Rosa-Luxemburg-Stiftung. | |
Auch der niedersächsische Flüchtlingsrat geht davon aus, dass das | |
Bundesinnenministerium seine Zustimmung nicht verweigern könne – ja, dass | |
dessen Einvernehmen auch gar nicht notwendig sei. Schließlich wollten die | |
Länder nur wiederholen, was der Bund mit der Aufnahme von Geflüchteten von | |
den griechischen Inseln bereits vorgemacht hat. | |
Das Recht auf Asyl steht auf dem Spiel | |
Nach Angaben von Pro Asyl muss es jetzt darum gehen, die | |
Landesaufnahmeprogramme umzusetzen – im Zweifelsfall auch ohne Zustimmung | |
des Bundes. „Das Bundesinnenministerium wird sich dreimal überlegen, ob es | |
wirklich rechtlich gegen Bundesländer vorgeht, die beispielsweise | |
unbegleitete Minderjährige mit Angehörigen in Deutschland aufnehmen“, | |
erklärt Burkhardt. „Falls das Ministerium die Landesaufnahmeanordnungen | |
ablehnt, müssen Thüringen bzw. Berlin klagen und so eine Klärung | |
herbeiführen“, verlangt Schießl. | |
Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft steht aber noch | |
Grundsätzlicheres auf dem Spiel, sagt Burkhardt: „Die | |
Grundauseinandersetzung in den kommenden Jahren wird sein: Gibt es | |
individuelle Rechte wie ein Recht auf Asyl, ein Recht auf Familie, oder | |
werden Rechtsansprüche durch staatliche Gnadenkontingente ersetzt, bei | |
denen man sich streitet, wie groß sie sein sollen?“ Noch auf den | |
griechischen Inseln soll nach Plänen der EU bald ein Zulässigkeitsverfahren | |
darüber entscheiden, ob überhaupt ein Asylantrag gestellt werden kann. | |
„Man will quasi Prognoseentscheidungen treffen, wer eine Bleibeperspektive | |
in Europa hat und wer nicht. Das klingt gut, ist aber teuflisch, weil die | |
individuelle Prüfung der Fluchtgründe ausbleibt“, resümiert Burkhardt. | |
Dabei könnte Deutschland die Ratspräsidentschaft ganz anders nutzen – zum | |
Beispiel, „um die Diskussion für ein gemeinsames EU-Asylrecht und die | |
Koalition der Willigen voranzubringen“, wie es Potsdams Oberbürgermeister | |
Schubert fordert. | |
In der Zwischenzeit geht die Arbeit in den „Städten Sicherer Häfen“ weite… | |
„Horst Seehofer wird sich von allein nicht auf die Länder und Kommunen | |
zubewegen“, so viel steht für Schubert fest. Die Kommunen wollen hartnäckig | |
bleiben, gegenüber dem Innenministerium wieder und wieder ihre | |
Aufnahmebereitschaft erklären, mehr Städte als Sichere Häfen anwerben. | |
„Denn je größer die Koalition der Willigen ist, umso eher wird sie gehört | |
werden“, resümiert der Oberbürgermeister. | |
Auch auf Landesebene bleibt das Bündnis aktiv. „Wir werden weiter Druck | |
machen, damit die Länder nicht sofort einknicken, nachdem 900 Menschen | |
aufgenommen wurden“, erklärt Liza Pflaum von der Seebrücke. In | |
Niedersachsen fordern Verbände, Kirchen und Kommunen die Landesregierung | |
dazu auf, das gesamte Land zum Sicheren Hafen zu erklären. Erste Erfolge | |
können sie verbuchen: Die Oberbürgermeister von Hannover und Göttingen | |
haben sie nun auf ihrer Seite. | |
Der Bielefelder Marschmeier ist sich sicher: „Wenn wir Kommunen uns einig | |
sind, steht hinter unserem Bündnis eine enorme Power.“ | |
14 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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