# taz.de -- Seehofer beendet Aufnahmeprogramm: Unsolidarischer Staat | |
> Der Innenminister verbietet Berlin die eigenständige Aufnahme von | |
> Flüchtlingen. Das ist auch ein symbolischer Akt, um die Kommunen | |
> kleinzuhalten. | |
Bild: Leoluca Orlando, der Bürgermeister von Palermo, und das Rettungsschiff �… | |
Der Brief, den Bundesinnenminister Horst Seehofer an den Berliner | |
Innensenator Andreas Geisel geschickt hatte, machte am Donnerstag viele | |
wütend – unter anderem Berlins regierenden Bürgermeister Michael Müller | |
(SPD). Aus „rechtlichen Gründen“ könne er dem [1][geplanten | |
Landesaufnahmeprogramm für 300 Schutzsuchende] von den griechischen Inseln | |
nicht zustimmen, hatte Seehofer geschrieben. | |
Dabei geht es um mehr. Von der Nation halten Linke definitionsgemäß wenig | |
(es sei denn, sie leben in Spanien oder Lateinamerika). Die Kommunen sind | |
als politischer Bezugspunkt beliebter, das ist schon eine ganze Weile so. | |
Denn hier lassen sich Formen direkter Demokratie erproben, hier kann die | |
Zivilgesellschaft direkter politisch intervenieren. | |
Porto Alegre, die brasilianische Heimatstadt der Weltsozialforen und | |
entsprechend eine Zeit lang Sehnsuchtsort mancher Linker, war etwa in den | |
90er Jahren dazu übergegangen, den kommunalen Haushalt unter direkter | |
Beteiligung der Bevölkerung in „partizipativen Budgets“ aufzustellen. Oder | |
die „Solidarity Cities“ in den USA – der Versuch, lokal eine | |
einwanderungsfreundliche Politik umzusetzen, die eine eher repressive Linie | |
der nationalen Regierung unterläuft. Unter Obama geschah dies eher still. | |
Als Trump es sich hingegen in den Kopf setzte, über zwei Millionen | |
„dreamer“, Kinder papierloser Einwanderer, abzuschieben, wurde die Idee der | |
„Solidarity Cities“ noch beliebter – als Möglichkeit, im Kleinen an der | |
Idee eines guten, weil offenen Amerikas festzuhalten. | |
Auf das Modell geschaut hatten auch europäische Städte schon eine Weile. | |
Besonderes Interesse kam auf, als sich 2018 eine rechtspopulistische Achse | |
bildete, die mit dem Vorschlaghammer auf das Asylrecht losging. | |
## Solidarische Städte | |
Damals regierte in Österreich Sebastian Kurz mit der rechtsextremen FPÖ. In | |
Deutschland hatte Horst Seehofer es darauf angelegt, die AfD mit einem | |
harten Rechtskurs anzugehen. Er suchte in der Migrationspolitik die offene | |
Konfrontation mit Angela Merkel und kumpelte offensiv mit Ungarns | |
Ministerpräsidenten Viktor Orbán. | |
Dann wurde in Italien Matteo Salvini zum Innenminister gewählt. Die Achse | |
Rom–Wien–München–Budapest stellte klar, dass sie Ernst machen wollte mit | |
der Abschottung Europas. Als Erstes sollte die Seenotrettung im Mittelmeer | |
unterbunden werden. | |
Und da kamen die Städte ins Spiel. Es waren Städte mit linken | |
Bürgermeistern wie Palermo oder Neapel, die sagten: Wir, als | |
Stadtgesellschaft, stellen uns gegen die nationale Regierung und | |
entscheiden uns für den Aufnahme von Flüchtlingen – wir haben Platz. | |
Das strahlte aus, auch nach Deutschland. In Hunderten Städten entstanden in | |
jenem Sommer Gruppen der „Seebrücken“-Kampagne. Sie drängten ihre | |
Bürgermeister dazu, Aufnahmeplätze anzubieten. Immer mehr Städte schlossen | |
sich dem „Solidarity Cities“-Netzwerk an. Bekannt wurde etwa Stephan Neher, | |
der CDU-Bürgermeister von Rottenburg. „Wenn es drauf ankommt, ruf ich | |
nachher schnell einen Busunternehmer an aus meiner Stadt, der fährt dann | |
ehrenamtlich nach Italien und holt die 53“, sagte der – als 2019 53 | |
Gerettete auf dem Rettungsschiff „Sea-Watch“ festsaßen. | |
## Die Bereitschaft ist größer | |
Der Impuls, Plätze anzubieten, während das Bundesinnenministerium auf die | |
Bremse drückte (obwohl Seehofer in der Zwischenzeit deutlich kooperativer | |
geworden ist als im Sommer 2018 während des offenen Konflikts mit Merkel), | |
wurde von diesen Kommunen in einige Landesregierungen hineingetragen. Und | |
die wiederum haben Aufnahmeprogramme beschlossen – die Seehofer nun | |
ablehnt. | |
Das kommt nicht von ungefähr. Die Gesellschaft ist in größeren Städten | |
meist liberaler als die Bevölkerung des ganzen Landes. Die Bereitschaft zur | |
Flüchtlingsaufnahme ist teils größer. Und sie drängt danach, auch politisch | |
umsetzbar zu werden. In der EU wird über Möglichkeiten nachgedacht, | |
Flüchtlinge (gegen Bezahlung) direkt in aufnahmewillige Kommunen schicken | |
zu können. Und einige Bundesländern fordern das Recht, Aufnahmeprogramme | |
auch ohne Zustimmung der Bundesregierung umsetzen zu dürfen. | |
Für die nationalen Regierungen sind solche Modelle ein Affront. Die | |
Kontrolle über die Einwanderung ist Kernbereich der politischen | |
Souveränität – und ein wichtiges Instrument, um rechte Wählergruppen zu | |
befrieden. Wenn [2][Seehofer nun Berlins Landesaufnahmeprogramm verbietet], | |
dann ist das nichts anderes als die Verteidigung der Macht über die | |
Migrationskontrolle gegen fortschrittlichere Teile der Gesellschaft. | |
Der Autor ist Teil einer Forschergruppe, die für die | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Studie zu „Solidarity Cities“ in Europa | |
erstellt. | |
31 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Aufnahme-von-Schutzsuchenden/!5694910 | |
[2] /Gefluechtete-in-Griechenland/!5694829 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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